Mittwoch, 31. Dezember 2008

Kapitel 3.8

Professor Pickenpack hatte seinen Camper nachts am Eingang zum Neuweiler Plateau geparkt. Er stand weit genug entfernt, um seiner Frau den Kontakt zu den Studenten zu ersparen, aber nah genug, dass er morgens aus dem Schlafkabuff unter dem Wagendach direkten Blick auf die Arbeiten hatte. So glaubte er seiner Verantwortung als offizieller Projektleiter Genüge zu leisten. Als sich der kleine dicke Professor an diesem besonderen Tag aus dem Wagen zwängte, hatten sich die Studenten bereits durch die ersten zwei Arbeitsstunden auf dem felsigen Feld gequält.
Pickenpack wusste nichts Näheres, Senff hatte ihm nur mitgeteilt, dass heute die Presse kommen wollte. Der Professor war zwar weniger auf Presseauftritte versessen als Senff, sah aber ein, dass es ein durchaus wichtiger Termin war, ohne dass Maxim ihm irgendetwas von dem geplanten Ereignis verraten musste. Denn außer Senff und dem Raubgräber Hinnerk wusste nur Robert Plankenreiter, dass die Münze nicht mit rechten Dingen in dem Neuweilerschen Boden gelangte. Senff hatte ihm nämlich aufgetragen, die Münze erst zu Beginn der Frühstückspause zu deponieren, um der Gefahr zu entgehen, dass sie zu früh von Studenten entdeckt würde. Oder womöglich ausgegraben und unerkannt entsorgt!
Vom Bauwagen aus beobachtete der Grabungsleiter die Untersuchungsfläche interessiert, um zu sehen, wo Plankenreiter herumstakerte. Die Hände hielt der Techniker in den Hosentaschen verborgen, um in einem geeigneten Moment die Münze unauffällig durch ein Loch in der Hose auf den Boden fallen zu lassen. Maxim sah, dass Robert plötzlich stehenblieb. Er schaute sich um, ganz so als wollte er eine Bank ausbaldowern, und trug dazu eine Miene auf, die bei Außenstehenden den dringenden Eindruck erwecken musste, er litte an fortgeschrittener Diarrhö.
Senff wusste, dies war der Moment, dort war die Stelle, an der er während des Presseauftrittes mit dem billigen Metalldetektor, der kaum in der Lage war, eine Reißzwecke anzuzeigen, fachmännisch herumwedeln musste. Robert wühlte mit dem Fuß noch ein wenig Dreck auf, schob ihn auf die in der Sonne blinkende Münze und stampfte alles fest. Leider war er zu dumm, daran zu denken, die Münze möglichst auf einem Befund fallen zu lassen. Dann wäre die Illusion schließlich perfekt gewesen, und Senff hätte heute ein Haus mit einem Bauopfer datieren können. An dieser unbedeutenden Stelle konnte der silberne Star lediglich für sich allein wirken.
Robert blickte nervös zu dem Fenster von Senffs Bauwagen, zuckte zweimal kurz mit dem Kopf nach oben und stiefelte dann zu den anderen Studenten, noch immer mit den Händen in den Taschen. Maxim trat vom Fenster zu seinen Plänen und wollte sich bereits seiner Neigung ergeben, über den schlechten Zeichnungen zu meditieren, als er noch einen schnellen Blick auf die Uhr warf und sich versicherte, dass es kurz vor 10 Uhr war. Angespannt blickte er an die Wand des Bauwagens, vernahm aber bereits entfernte Geräusche, die langsam lauter wurden. Zahllosen Steinchen sprangen gegen Autoblech, dazu mengte sich das Steineknacken von Autoreifen und das würgende Ächzen, dass der Motor von Usselkötters Audi von sich gab. Senffs Gesicht verzog sich zu dem, was er unter einem Lächeln verstand, oder vielmehr zu dem, wozu die Muskeln seiner toten Miene in der Lage waren. Er trat aus dem Bauwagen auf Usselkötter zu und sah, dass auch Pickenpack mittlerweile aufgestanden war. Der Professor hatte sich den Lokalreporter bereits geschnappt und belästigte ihn offensichtlich mit alten Geschichten.
„– und am Fuß des Oppidums war ein Industriepark mit einem alten Dampflokbahnhof. Ah, da kommt ja Herr Senff! Guten Morgen-Morgen!“
„Guten Morgen, Herr Professor! Hallo Thomas, da bist du ja!“
„Hallo Maxim. Wir zwei haben uns bereits bekannt gemacht“, grinste der Reporter. Maxim erkannte, Thomas mochte genervt sein von der Ausgrabung, wesentlich mehr ärgerte ihn jedoch die lahme Geschichte, die ihm der Professor gerade aufdrängte. Die Grüße vermochten die jüngste Geschichte des Professors aber nur zu unterbrechen, nicht zu beenden, denn sofort plapperte er weiter:
„Und an dem Bahnhof drehte Curd Jürgens gerade einen Kostümfilm. Wie hieß der noch? So neunzehntes Jahrhundert, wissen Sie? Genau am selben Tag hatte ich aber ein Flugzeug gemietet, um von dem Oppidum Luftaufnahmen zu machen, wissen Sie, da im Getreide zeichnen sich herrlich alte Gräben und Mauern ab, die kann man auf Luftaufnahmen sehr gut erkennen. Damit ich dem Piloten aber immer sagen konnte, wie er fliegen soll, hatte der seine Kopfhörer abgenommen, bis er irgendwann merkte, dass er von seinem Heimattower lautstark gerufen wurde. Haha! Denn sehen Sie, jedes Mal, wenn wir“, Pickenpack machte eine schneidende Bewegung mit der flachen Hand, um das Flugzeug zu simulieren, „vom Industriepark auf das Oppidum zugeflogen sind, hatten die Filmleute gerade ihre Szene begonnen, für die die Dampflok in Bewegung gesetzt werden musste und Dutzende Statisten über den Bahnhof flanierten. Haha! Die haben die Szene zig Mal drehen müssen! Zig Mal!“, freute sich der Professor.
Thomas Usselkötter verzog den Mund zu einem bemühten Grinsen, erkannte aber, dass nun die Gelegenheit war, zu erledigen, wofür er eigentlich gekommen war. Er bot dem Professor ein Pfefferminzbonbon an, das der mit erhobenen Händen und den Worten „Nein Danke, keine Drogen, keine Drogen!“ lachend ablehnte. Inzwischen rollte Pickenpacks Frau aus dem Bulli zu der dreiköpfigen Gruppe. Thomas und Maxim begrüßten sie, Pickenpack stellte sie Thomas vor. Senff erkannte die Gelegenheit, schmeichelnde Nähe zu dem Reporter herzustellen, in dem er ihn gleich nach Frau und dem frischen Kind fragte. Darauf fiel sogar der Mann von der Presse herein. Sein Gesicht hellte sich auf und er plauderte kurz, wie gut es seiner Familie ginge, während die Gruppe zur Ausgrabung glitt. Ganz nebenbei und innerhalb der Kleingespräche winkte Maxim Robert zu, und gab dezente Handzeichen, den Detektor aus dem Bauwagen zu holen. Robert löste sich sofort von der Gruppe der frühstückenden Studenten, verschwand in den Bauwagen und sprang mit dem Detektor zu der Gruppe. Dabei hörte er, wie Maxim dem Reporter und dem Professor gerade erklärte, wie er an einem der Vortage mit dem Detektor Hinweise auf Metall erhalten hatte, auf Silber, um genau zu sein. Er führte die Gruppe zu der Stelle, die Robert vorher präpariert hatte.
Hier nun habe es Ausschläge gegeben, die ihn vermuten lassen, womöglich vor der Entdeckung eines Silberschatzes zu stehen. Pickenpack machte große Augen. Senff klemmte sich die Kopfhörer des Detektors über die Segelohren und schaltete das Gerät an. Er versuchte, den Plastikteller des Geräts besonders kunstvoll über die von Robert plattgetrampelte Stelle zu schwenken, erweckte jedoch eher den Eindruck eines ungeübten Hobbyraumzauberkünstlers, der seinen ersten Kindergeburtstag bestreitet. Thomas kramte seine Kamera aus der Fototasche und knipste die ersten Fotos. Die Studenten, die gerade ihre Frühstückspause beendeten und sich wieder zur Arbeit trollen wollten, beobachteten leicht amüsiert die Szene aus sicher erscheinender Entfernung. Senff drückte inzwischen auf den Knöpfen des Gerätes, Grounding – Reset – Volume – böhmische Dörfer angesichts seines sprachlichen Untalentes. Er glaubte jedoch fest daran, den anderen wie ein berühmter Pianist zu erscheinen, der das Abschlusskonzert seines Lebens in der Carnegie-Hall gab. Dazu passte es, dass Thomas inzwischen ein Foto nach dem anderen schoss, in der kühnen Hoffnung, das Foto des Jahres zu fabrizieren. Maxims auch nach außen wirkende Einbildungskraft, die schon alle Zeit nur den einen Zweck hatte, ihn wie eine riesenhafte Projektion seiner selbst erscheinen zu lassen, hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Plötzlich hielt er inne, verdrehte wichtig die Augen und machte eine stumme Handbewegung, die Robert deutete, ihm eine Kelle anzureichen. Er zog sich die Kopfhörer ab, legte den Detektor auf den Boden, hockte sich hin und pulte schabend in Roberts Schuhabdrücken. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, erkannte Pickenpack in dem graubraunen Felsstaub die silbrige „Eine Münze! Toll-toll!“ und strahlte sichelgrinsend in die Runde. Maxim erhob sich, streckte seinen Körper in einem schweigenden Jubel und reckte die kleine Sensation in die Höhe ihrer Gesichter. Kaum hatte er sie den anderen kurz vor die Nasen gehalten, da riss er sie bereits vor sein eigenes Gesicht. Er tat, als sei die Inschrift schwierig zu entziffern und popelte die Abkürzungen hervor:
„Immp, also Imperator, kääs, das ist Zäsar, pe hellf, das steht für provinzia helvezia-“
„Jaja, Zeitstellung stimmt“, unterbrach Pickenpack, ohne auch nur die Gelegenheit gehabt zu haben, einen näheren Blick auf die Münze zu werfen. Allerdings fehlte ihm ohnehin seine Lesebrille, wie er feststellte und sich in sich hineinärgerte. Maxim fuhr fort: „Pär-ti, hier steht der Name: Pertinax!“ Er strahlte – soweit ihm das möglich war – „Die Münze ist 193 nach geprägt!“
Im Moment als der Name des Kaisers fiel, staunte auch Pickenpack. Er wusste, wie selten ein Denar des Pertinax war, ihm war klar, wie gering die Chancen waren, so etwas auf diesem mistigen Plateau zu entdecken. Von der Siedlung konnte sie jedenfalls nicht sein, war er sich sicher. Sie passte absolut nicht zu dem erbärmlichen Fundmaterial, dass die Studenten bislang den staubigen Felsen entrissen hatten. So sehr der Professor aber überlegte, war er doch nicht in der Lage, die echte Fundgeschichte zu erkennen.
Wäre er Senff damals nicht auf den Leim gegangen, hätte er ihn vermutlich hochkant aus dem Institut geschmissen. Vielleicht wäre Versicherungsvertreter geworden, wer weiß. Aber es gibt eben etwas in der Welt, das manchem die Unterschlagung von Millionen erlaubt, während andere nicht einmal ein auf der Straße gefundenes 1-Cent-Stück behalten dürfen. Und nur die Götter kennen die Gründe dafür.

Dienstag, 30. Dezember 2008

Kapitel 3.7

Am Tag vor der „Auffindung“ war Pickenpack mit seiner Frau in eines der zwei nächstgelegenen Museen unterwegs, so dass Senff freie Bahn für die Vorbereitung seines Schauspiels hatte. Er wollte am Vormittag ins Dorf zur örtlichen Telefonzelle fahren, deren Auslastung sich durch seine täglichen Anrufe bei der Redaktion der Schaufel in den Sommermonaten stets vervierfachte. Die meisten Studenten hatten bereits auf der Grabung bemerkt, dass der verklemmte Mann extrem nervös war. Bevor er losfahren konnte, waren ihm bei der Kontrolle, ob das Kleingeld für ein Telefonat mit Thomas reicht, versehentlich alle Münzen aus seinem Portemonnaie in die tiefste Pfütze des Plateaus gefallen. Daher musste er den diesjährigen Techniker Plankenreiter auch noch um Telefongeld anpumpen.
Im Dorf parkte Senff neben der Telefonzelle. Er achtete penibel darauf, nicht auf dem Bordstein zu stehen, da der Polizist aus dem Nachbarort gerne Verwarnungen für falsches Parken ausstellte. Senff stieg aus, taperte um den Wagen zur Telefonzelle und kramte bereits auf dem Weg die geborgten Metallscheiben aus seiner Tasche. In der Zelle türmte er zunächst kleine Zinnen auf das stationäre Handy der Vorzeit, bevor er den Hörer abnahm und damit begann, das Telefon mit Groschen zu laden. Heiser tipp-tackeditackeditack-te er die Redaktionsdurchwahl in das Tastenfeld und wartete stumm auf Thomas’ Stimme, die erst nach mehreren dumpfen und knacksenden –
„Redaktion Schaufel am Sonntag, Usselkötter am Apparat.“
„Ja, hallo, hier ist Senff. Maxim Senff.“ Ein leises Stöhnen raunte durch den Hörer.
„Maxim, was kann ich für dich tun?“ Jetzt war im Hintergrund unrhythmisches Getaper eines Kugelschreibers auf einer Schreibtischunterlage zu hören.
„Thomas, du musst unbedingt morgen kommen.“
„Morgen – warum?“ Thomas blätterte hörbar in seinem Filofax. „Also, morgen ist ganz schlecht, da muss ich mit dem Hubschrauber über die Schweinemastfarm –“
„Nein, es ist ganz dringend. Ich weiß, dass wir morgen einen fantastischen Fund machen werden. Das wird der Knüller für dich und das gesamte Mühlbachtal.“
„Woher weiß du –“
„Der Metalldetektor hat etwas besonderes ergeben. Es ist Silber!“ Maxim warf klinkernd ein paar Groschen nach.
„Silber? Was kann das sein, altes Silberbesteck?“, zweifelte Thomas.
„Ich vermute eine Silbermünze.“ Maxim merkte, der Köder reichte Thomas noch nicht. „Vielleicht ist es aber auch ein ganzer Silberschatz. Du erinnerst dich bestimmt an die Bilder von dem Silberschatz von Pyrmont, den ich dir mal gezeigt habe?“
„Pyrmont, Pyrmont, hm. Dunkel. War irgendwas großes, oder?“
„Jaja, natürlich!“, versicherte Senff und gab seiner Aussage mit kräftigem Kopfnicken unhörbaren Nachdruck.
„Und sonst? Kannst du den Schatz nicht ausgraben und in die Redaktion bringen?“
„Aber wir haben doch noch das Grab mit der Frau“, krächzte Maxim bettelnd. „Und die liegt falschrum. Und die Hausgrundrisse sind hier schon einmalig. Vergiss nicht die Rennfeueröfen“, redete er sich jetzt in Rage.
„Die hatten wir doch schon letztes Jahr im Blatt.“
„Ja, aber jetzt ist sogar Professor Pickenpack extra gekommen, um –“
„Na, ich kann ja mal vorbeikommen“, langweilte Thomas sich. „Passt es dir so kurz vor zehn? Ihr dürft aber vorher nichts ausgraben. Ich möchte Exklusivfotos haben, wie ihr den Schatz ausbuddelt!“
„Ja, selbstverständlich!“, grinste Senff.

Montag, 29. Dezember 2008

Kapitel 3.6

Für den Tag der kleinen Pressekonferenz hatte Maxim einen besonderen Clou vorbereitet. Drei Tage zuvor war Professor Pickenpack samt kuchenbackender Frau im T2-Camper angereist. Es hieß, er solle für die Stiftung, die einen nicht unerheblichen Anteil der Ausgrabungen in Neuweiler finanzierte, ein Gutachten über die laufenden Arbeiten verfassen. Senff wollte Pickenpacks Anwesenheit jedoch eindeutig ausnutzen, der Professor sollte als Instanz den Wert des großen Fundes objektiv herausstellen helfen. In Anwesenheit des Professors und der „Schaufel am Sonntag“ galt es, vor klacksirrender Kamera und dem sich füllendem Notizblock ein Medienereignis zu inszenieren.
Zwei Abende vor dem historischen Höhepunkt Neuweilers war ein fremdes Auto in den Ort gefahren, das vor der Pension hielt, in der Senff übernachtete. Mehrere Rentner erzählten später, dass sie das verdreckte Kennzeichen des alten, mit Papiermüll, zahlreichen Bierdosen, Pizzakartons und zwei alten Druckern gefüllten Kadetts nicht lesen konnten. Aus dem Wagen stieg eine im Dorf unbekannte, mit einem Bundeswehrparka nahezu vermummte Gestalt, schlich sich vor Senffs gekipptes Fenster und warf durch den Spalt einen großen, wahrscheinlich wattierten Briefumschlag. Schnell verschwand der Schatten wieder in den Kadett und entfernte sich rasant aus dem Dorf.
Der unbekannte Schatten war der ehemalige Raubgräber Hinnerk, ein alter Bekannter Senffs. Hinnerk war inzwischen bei dem für seinen Wohnort zuständigen Denkmalamt als Techniker eingekauft, weil man so sein illegales Treiben in geordnete Bahnen zu lenken trachtete. Er besaß aber noch zahlreiche Funde aus seiner Raubgräberzeit und noch mehr Kontakte zum archäologischen Schwarzmarkt. In dem Briefumschlag befand sich sehr wahrscheinlich die später entdeckte Münze des Pertinax aus dem Jahre 193, vermutlich direkt mit einer regelrechten Expertise, die der durchaus fachlich geschulte Raubgräber bereits vorgefertigt hatte. Aus diesem Gutachten konnte Senff der Presse gegenüber fließend aus dem Stegreif zitieren, ohne noch einen Finger rühren zu müssen. Er mochte das schöne Gefühl, sich schlau zu fühlen.
Ob Hinnerk die Münze selbst irgendwo ausgegraben oder verdeckt auf dem Schwarzmarkt für Senff erstanden hatte, ist nicht mehr zu klären. Unzweifelhaft ist jedoch inzwischen, dass sie aufgrund der anhaftenden Patina nicht aus Neuweiler stammen konnte, sondern einige Zeit in einem Moor gelegen haben muss.
Senff war begeistert über diesen Einfall der Fundfindung, den er auch in Zukunft noch wiederholt einsetzte, um den Wert seiner Ausgrabungen zu steigern. Echte Funde interessierten ihn nun nicht mehr länger, sofern sie nicht in dem von ihm erwünschten Ausmaß an die Presse verkauft werden konnten.

Kapitel 3.5

Senff war der pressegeilste Archäologe, den man sich vorstellen konnte. In Neuweiler begann er schnell, Kontakt zu örtlichen Journalisten aufzubauen und ihnen von der Dorftelefonzelle täglich hinterherzutelefonieren, bis er einen Ortstermin ausgehandelt hatte. Das tat er auch bei allen späteren Grabungen. Mit Thomas, dem zuständigen Redakteur der in Neuweiler erscheinenden „Schaufel am Sonntag“, kungelte Senff bereits ab dem ersten Jahr der Kampagne. Unabhängig vom tatsächlichen Wert des Fundplatzes oder der Funde erfand der Archäologe der Schaufel zuliebe immer größere Menschentieresensationen, die irgendwann mit dem tatsächlichen Fundmaterial nicht mehr überbietbar waren. Es rächte sich nun in der dritten – Senffs letzter – Grabungskampagne in Neuweiler, dass er die Presse zuvor so sehr angeheizt hatte. Er hatte Thomas zuletzt dermaßen genervt, dass der nicht mehr kommen wollte, zumal Kommunalwahlen anstanden und die Schweinepest zwei Nachbardörfer fest in ihrem unerbittlichen Griff hatte. Also war Senff in der vorletzten Woche der Kampagne gezwungen, schwereres Geschütz aufzufahren, als es die Realität erlaubte.

*


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Donnerstag, 25. Dezember 2008

Kapitel 3.4

In demselben Jahr, in dem Senff sich von Krzysztof trennte, brach der Grabungsleiter auch einen großen Streit mit dem Baggerfahrer vom Zaun. Der Baggerfahrer hieß Harry und war Alkoholiker. Morgens kam er mit einem kräftigen Tremens angefahren, der sich wie von Geisterhand bis zur Frühstückspause gelegt hatte. Irgendwann fand ein Student in einem Graben hinter beiden Bauwagen eine stattliche Sammlung leerer Kornflaschen und löste so das Geheimnis von der täglichen Verwandlung Harrys. Dessen Doping war aber eigentlich nicht schlimm, denn wenn Harry so betankt war wie sein Bagger, dann baggerte er auf Wunsch jedes einzelne Sandkorn mit einer Präzision, die sonst kaum in einem Nanotechnologielabor erreicht wird. Weniger gut war nur, dass Senff eines Tages dahinterkam. Allerdings bemerkte er zuvor weder die tägliche Verwandlung Harrys noch dessen Schnapsflaschensammlung hinter den Bauwagen. Nein, eines Tages – im sü-dänn vom wäst-faalen-land – als Harry seinen zwanzigsten Hochzeitstag feierte – da liegt das schö-hö-ne sau-a-land – hörte Senff jemanden singen – ein land wo tau-sännt bärge schteen – Gesang, das bedeutete Musik, das bedeutete gute Laune – vonn wald bedeckt sint taal und hööhn – das durfte in Senffs Umgebung nicht sein – mein sau-a-lant wie piss-tu schööhn – er spurtete aus dem Bauwagen – mitt dei-nen täh-lann dei-nen hööhn – sprang zum Bagger – wool tau-sännt bär-ge zählt dein land – zerrte ohngeacht der eigenen Lebensgefahr – DER AUFENTHALT IM GEFAHRENBEREICH IST VERBOTEN! – Harry aus dem Baggerhaus – du pär-le im wäst-faalen-land – und wies den betrunkenen Harry von der Baustelle. Die restlichen sechs Wochen mussten die Studenten alle Erdbewegung mit Schaufel und Spaten und Muskeln leisten, und Senff merkte, dass ihn das nur noch mehr Geld sparte.
Dieser Tag gehörte zu einer kleinen Zahl von Tagen, an denen er einmal freiwillig seinen Bauwagen verließ. Das war ihm nämlich bereits im ersten Jahr vergällt worden. Damals hatte Senff einzelne Befunde in den Grabungsschnitten besichtigt und wollte zurück in den Chef-Bauwagen gehen, um brütendes Arbeiten über den Grabungsplänen vorzutäuschen. Kaum hatte er jedoch die Tür geöffnet und sich auf das Treppchen gestellt, da erstarrte er zur Salzsäule und stierte in den Wagen. Der Techniker bemerkte das und wunderte sich darüber, dass sein Vorgesetzter nicht einfach in den Wagen ging. Doch als Krzysztof dann die leichten Schwingungen bemerkte, die der Wagen machte, und sich so positionierte, dass er an Senff vorbei in den Bauwagen blicken konnte, entdeckte er des Rätsels Lösung. Maxim hatte ein Studentenpärchen dabei ertappt, wie es kleine Studenten machte. Offenbar vor Schreck war er wie erfroren und starrte auf den beharrten Vollmond, der sich mehr oder weniger rhythmisch vor und zurück bewegte. Fest blickten seine toten Augen auf den Studenten, dessen Hose in den Kniekehlen hing, wie der sich mit wiegenden Bewegungen seines nackten Hinterteils über die breitbeinig auf dem Kartentisch drapierte Studentin bückte. Erst nach einem ausgedehnten Moment hatte Maxim die Situation als solche wahrgenommen, bekam einen puterroten Kopf, machte auf dem Treppchen kehrt, schloss leise die Tür und schritt stumm auf die Grabungsfläche zurück. Krzysztof schaute Senff in die geistesabwesenden Augen und fragte schelmisch, ob er etwas vergessen hätte. Damit rief er den Leiter wieder in unsere Welt, und nun versuchte der entrüstete Maxim dem amüsierten Krzysztof drucksend zu erklären, was er gerade gesehen hatte. Als die beiden Studenten später den Wagen verließen, wartete Senff bereits auf die beiden, inzwischen hatte er sich auch eine passende Strafe ausgedacht. Kurzerhand hieß er sie den Abraum um fünf Meter nach rechts umzusetzen, ohne einen Grund zu benennen. Krzysztof genoss dagegen seine Rolle als lachender Vierter. Noch Jahre später lachte er lauthals, wenn er von Senffs Reaktion erzählt, der es nicht gewagt hatte, merklich in den Akt zu platzen, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen.
Ansonsten geriet Senff damals recht selten in peinliche Momente, er suchte unangenehme Situationen aber auch von vornherein zu vermeiden. So aß er beispielsweise niemals in Gesellschaft anderer mit Ausnahme seiner späteren Familie. Mancher behauptete, das läge an der paranoiden Grundangst, nicht gerne angesehen zu werden. Er selbst begründete es damit, dass ihm gemeinschaftliches Essen vorkam wie die Fütterung großer Viehherden, und dass er ja auch das Gegenteil nicht in Gesellschaft täte. Was immer es damit auf sich hatte, zu den Pausen zog er sich nicht nur in den Bauwagen zurück, sondern ließ auch niemanden herein. Später in seinem Amtssitz in dem Schlösschen mied er die Kantine der nebenan gelegenen Klinik. Stets verspeiste er Knifften in seinem Büro und beharrte vehement darauf, nicht gestört zu werden.
Wenn er nicht aß, war er dagegen von dem Gedanken fasziniert, von der Öffentlichkeit und besser noch von der Presse wahrgenommen zu werden. Viele Jahre lang gedachte er seines Debutauftrittes, als von irgendeinem verlorenen Spiel seines Schülerhandballteams berichtet wurde, an dem er maßgeblich beteiligt war. Ebenso verzeichnete die im Lokalblättchen seiner Heimatkleinstadt übliche Aufzählung der Abiturienten, die ihre Prüfungen bestanden hatten, einen stolzen Senff, Maxim. Eigentlich wollte er aber schon damals mehr. Er wollte aktiv in den Texten vorkommen. Er wollte als Person vorkommen.
Dazu war die Archäologie ein mehr als geeignetes Feld. Denn da man schon während der Ausbildung durch die unbekanntesten Dörfer und unbedeutendsten Flecken tingelt oder sogar in Gebieten arbeitet, in denen andere nicht einmal Urlaub machen möchten, gilt man überall schnell als örtliche Attraktion. Angesichts des Publikumszulaufs kann man eine blasse Ahnung davon bekommen, wie es vor 150 Jahren zugegangen sein muss, wenn ein Jahrmarkt, ein Zirkus oder ein Theater über das Land gezogen ist. Denn genau wie damals neigen Menschenansammlungen auch heutigentags noch dazu, sich von allein zu vergrößern und pfropfartig zu verklumpen. So sieht man sich als freundlicher und verantwortungsvoller Grabungsleiter zwangsläufig in der Situation, oft tagelang immergleiche Vorträge über das zu halten, was man eigentlich gerne machen möchte, oder man verteidigt seine Arbeit als kulturelle Notwendigkeit.
Kostenlose Vorträge und Menschenansammlungen ziehen ihrerseits wiederum bald die Reporter an wie der Honig die Fliegen. Zumal Archäologie sich in der Zeitung verkauft wie Tierkinder im Fernsehen: Sie zieht immer. Obwohl niemand dafür Geld ausgeben möchte, ist die deutliche Mehrheit der Bevölkerung von dieser Tätigkeit fasziniert. Wer das nicht glaubt, sollte sich bei der nächsten Party spaßeshalber Unbekannten gegenüber mal als Archäologe ausgeben. Sich mit der berichtenden, also der vierten Gewalt auseinanderzusetzen bleibt dem Archäologen daher selten unvermeidlich. Es krankt jedoch an der Qualität des Journalismus.
Jedes Regionalblättchen belästigt seine Umwelt mit unangenehmen, meistenteils breit ungebildeten Typen. Mal begegnet man einer aus der Hüfte fotografierenden Hausfrau, die nebenbei für die örtliche Kleinstadtzeitung kritzelt und einen Katastrophentext fabriziert, weil sie in der Redaktion ihre Notizen nicht wiederfindet – und diese Lösung des Rätsels bei einem späteren Treffen auch noch preisgibt. Oder man wird grundlos Tag für Tag von einem nervenaufreibenden Rentner behindert, der seit 50 Jahren für die Beilage der Beilage irgendeiner Dorfzeitung schreibt und mit der benachbarten Landtagsabgeordneten verheiratet ist. Sehr unschön können auch Gespräche mit einem gescheiterten Krisenherdsfotografen ablaufen, der in einer mehrstündigen Endlosschleife zu erklären versucht, dass nur gestellte Bilder wie echte Bilder aussehen.
So variabel Geschlecht und Alter dieser knipsenden Kobolde sind, ihnen allen ist doch meist gemein, dass ihr Bildungsstand selten an denjenigen 15-jähriger Hauptschüler heranreicht. Deswegen ist dem anzugehenden Archäologen unbedingt angeraten, Fachbegriffe selbst dann zu vermeiden, wenn sie ausführlich erklärt werden. Anderenfalls altert oder verjüngt sich nämlich jede Fundstelle auf dem Weg durch die Druckerpresse wie von Zauberhand um 2000 Jahre und sorgt im Nachhinein für Verwirrungen bei und Nachfragen von den Vorgesetzten. Denn obwohl alle das Spiel und seine unfairen Regeln kennen, gilt doch niemals das Reporterchen als Urheber, sondern die unfähige Öffentlichkeitsarbeit vor Ort. Dabei sei ausdrücklich betont, dass es für die Artikelgüte keine Rolle spielt, ob man von unbezahlten Hobby-Reportern interviewt wird, oder ob sich der Chefredakteur eines gemeinhin ehrwürdig angesehenen Politmagazins eines geschichtlichen Themas annimmt. Da die springerhaft erdichteten Archäologieaufmacher der Dr.-Müller-Heftchen niemals der Nachrichten- oder Wissensvermittlung dienen, sind ihre Mitarbeiter hinsichtlich der Bildung nicht in der Lage, sich stolz zurückzulehnen. Regelhaft demütigen oder vergewaltigen sie Thema, Forschung oder deutsche Sprache – manchmal gelingt diesen Tritonen der Dreiklang sogar innerhalb eines einzigen Absatzes.
Aber nicht allein die fragwürdigen Schreib- und Recherchierqualitäten erzeugen den dringenden Verdacht, hier dunkle Mächte am Werk zu glauben. Es ist darüber hinaus häufig zu beobachten, dass die schwatzhaften Skribenten ein untrügliches Talent für zielgenaue Störaktionen haben. Und diese Fähigkeit kollidiert wiederholt mit einer im Fach gebotenen Omertá. Die Archäologie ist sicherlich keine Geheimwissenschaft, lebt aber hierzulande davon, dass all die Sachen, die unversehrt im Boden liegen, auch noch eine weitere Zeit lang unausgegraben bleiben.
Die meisten Archäologen sind daher eher kritisch und verschweigen der Presse bessere Funde, so lange es irgend geht. Das tun sie, obwohl sie wissen, dass die Öffentlichkeit das Recht hat, zu erfahren, wofür Steuergelder ausgegeben werden. Allerdings ist ein kleiner Teil der Archäologen schlicht und ergreifend pressegeil. Niemand weiß, warum sie sich ausgerechnet die Archäologie ausgesucht haben, um ihr Ponem vor jede Kamera zu halten. Dabei erklären sie jeden noch so unansehnlichen und vor allem wissenschaftlich uninteressanten Keramikkrümel zur Sensation, die die Weltgeschichte umstülpt, da deren historischer Nabel plötzlich auf dem Acker von Bauer Uhl oder in den Fanggründen von Fischer Quaast liegt. Manche Spatenforscher schrecken dabei vor nichts zurück und drängen in Dialektsendungen der Regionalprogramme, obwohl sie das sprachliche Idiom der Region weder sprechen noch hörverstehen.

Montag, 22. Dezember 2008

Kapitel 3.3

Noch mehr Streit verursachten allerdings bereits im ersten Jahr die Studenten, die in der Tat allermeist von Hirnlosigkeit angetrieben waren. Ihre Bewegungen auf der Grabung wirkten, als imitierten sie ein extrem vergrößertes Modell quantenphysikalischer Ereignisse innerhalb eines Teilchenbeschleunigers – allerdings erheblich verlangsamt. Krzysztof radebrach bereits am ersten Tag über sie, sie liefen auf der Grabung herum, „wie eine Herde verirrter Labyrinder.“
Sie waren völlig erstaunt gewesen, hier im südlichen Mittelgebirge körperliche Arbeit leisten zu müssen. Zuvor waren sie ernsthaft davon ausgegangen, je einen persönlichen Arbeiter an die Seite gestellt zu bekommen, um diesen zu kommandieren. Dass sie sich nun selbst mit Muskelschmalz betätigen mussten, erboste sie bereits am zweiten Tag so schwer, dass sie sich beschwerten, als Archäologen (!) mit einer Schaufel (!!) zu arbeiten!!! Ein Student namens Peter versteifte sich gar darin, später Sitzarchäologe zu werden. Er müsse also nicht seine Muskeln anwenden, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Daher spazierte er so oft es während der Arbeitszeit möglich war, in den Wald. Er trainierte dort mit schweren Steinen Bi- und Trizeps, da er sehr wohl das Bedürfnis verspürte, ein athletisches Aussehen zu besitzen. Wenn Krzysztof diesen aufgrund seiner Kleidung auch „Top Gun“ bespitznamten Studenten mal wieder zur Grabung zerren musste oder sogar Diskussionen über die Zweckmäßigkeit körperlicher Arbeit aufkamen, diskutierte der Techniker jedoch nicht lang, sondern ermahnte die Studenten streng, dass sie noch viel zu lernen hätten und drohte nachhaltig mit der Nichtausstellung der Seminarscheine.
So legte sich die Haltung zur Arbeitsverweigerung irgendwann, bis den Studenten auffiel, dass nur noch die etwas füllige Katrin sich weigerte, die Schubkarre zu bedienen. Die Bösartigsten unter ihnen begannen nun damit ihr weiszumachen, dass es nicht allein den Seminarschein über die Lehrgrabung geben sollte, sondern dass auch eine Fahrerlaubnis für Schubkarren zu erwerben sei. Als Grund für die inzwischen häufigen Schubkarrenfahrten zum Abraum nannten sie das willkommene Training am Gerät für die am Ende der Grabung stattfindende Prüfung. Krzysztof hatte trotz seiner Sprachschwierigkeiten genug Humor, das üble Spiel mitzuspielen. Katrin wurde panisch und übernahm umgehend ihre Entsorgungspflichten. Wenn sie nun das einrädrige Gefährt auf dem Abraum hebelnd leerte, riefen die anderen Studenten ihr böse zu, die Karre gut zu leeren, damit sie auch ja das Häschen sehen könnte!
Eines Tages entdeckte Katrin auf dem Weg, über den jede Schubkarre in Neuweiler bugsiert werden musste, ein kleines Fuchshäuflein. Mit den Fußspitzen häufte sie eine kleine Staubpyramide auf das Exkrement und steckte als Hinweis auf die Gefahr ein fingerdickes Stöckchen in ihr Bauwerk. Jedem, der ihr über den Weg lief, schilderte sie fortan Horrorgeschichten über den gemeinen Fuchsbandwurm, der nur darauf wartete, von dem Häufchen einen Menschen anfallen zu können! Mit der Auffindung einer neuen Gefahrenquelle aus dem Reich der Tiere traf es Katrin besonders hart, weil sie ohnehin vom ersten Tag an von der Phobie besessen war, irgendwelche Keime könnten sie angreifen. Bei jeder Arbeit außerhalb der Baracken trug sie tagtäglich geblümte Gartenhandschuhe und nutzte darüber hinaus jede freie Minute, ihre Hände mit Desinfektionstüchern zu reinigen. Der Nutzen der Tücher lag auf der Hand, bereits nach wenigen Tagen pellte sich die Haut von den Handinnenflächen, so dass ihr jede Arbeit umso mehr verleidet wurde. Es waren jedoch nicht ihre rohfleischigen Hände, die sie in die Ohnmacht trieben, sondern eine ihrem Gekreisch nach „FÜNFMARKSTÜCKGROSSEZECKE!“, die sie auf ihrem linken Bein entdeckt haben wollte. Krzysztof und einige anwesende Studenten versicherten mir später, es habe sich um einen einfachen Weberknecht gehandelt. Daher konnte er es sich auch bedenkenlos ersparen, Katrin zu einem Arzt zu fahren, zumal er diesen Tort bereits hinter sich hatte.
Dafür hatte der täppische Top Gun gesorgt, der sich schon der ersten Woche beim Zusägen eines Balkens im Wortsinne beinahe umgebracht hatte. Die ungelenken und unzweckmäßigen Bewegungen hatten Krzysztof zwar belustigt, er hatte dennoch geflucht, keine Videokamera zur Hand zu haben. Bei Top Guns nächsten Aktion fluchte er dagegen, weil er mit ihm in die Notaufnahme rasen musste. Der Unmotoriker hatte das Unmögliche möglich gemacht und sein Antlitz mit Archäologens liebstem Werkzeug verstümmelt. Bei diesem Gerät handelte es sich nun nicht, wie der landläufigen Meinung durchs Fernsehen eingetrichtert wird, um Pinsel oder Zahnarztsonde, sondern um eine Kelle. Diese muss für den korrekten Arbeitseinsatz mit Raspel, Feile und Schleifstein an ihren Seiten gehörig angeschärft werden. Und mit einer solchen sehr, sehr scharfen Kelle war es Top Gun gelungen, von dem Stein einer antiken Feuerstelle abzugleiten, so dass sie in sein Gesicht glitt und ihm ein Stück seiner Nasenspitze abtrennte. Leider vermochte es der zuständige Arzt nicht, den leicht verdreckten Fleischkegel wieder anzunähen, daher muss Sitzarchäologe Peter sein Leben mit einem plattwulstig-vernarbten Gesichtsvorsprung verbringen.
So dämlich sich die Studenten auch anstellten, von einem weiteren Besuch der Notaufnahme wurde Krzysztof im ersten Jahr der Kampagne freundlicherweise verschont. Erst im Folgejahr zwang ihn Tilo, ein glatzköpfiger Student, der mehr an Halbedelsteinen interessiert war als an Archäologie, zu einer erneuten Visite der nächstliegenden Klinik. Tilo hatte abgesehen von seinen Augenbrauen bereits mit 26 Jahren kein Haar mehr auf dem Kopf und plärrte jedem die Ohren voll, der nicht schnell genug woanders hinlaufen konnte. Sein größtes Erlebnis war ein zweiwöchiger Trinidad-Urlaub gewesen, den er zum Steinesammeln genutzt hatte. Da er nun dort in Äquatornähe seiner Meinung nach an extreme UV-Strahlung gewöhnt war, weigerte sich der dürre Spiddel trotz der großen Sommerhitze, die in diesem Jahr in Neuweiler herrschte, seine Glatze mit irgendeiner Kopfbedeckung abzuschatten. Tilo ging sogar so weit, die Sonnenstrahlen allmorgendlich mit weit ausgebreiteten Armen zu begrüßen, offenen Auges in die güldene Scheibe zu blicken und die seltsame Anbetung mit der Rezitation eines kühn prononcierten vedischen Mantras zu würzen. Womöglich war dies bereits ein erster Eindruck des sich abzeichnenden Sonnenstichs, denn natürlich kam es, wie es kommen musste, und die Sonne verbrannte ihm die letzten Reste im und auf dem Kopf. Schon in der zweiten Woche konnte Tilo nachts nicht mehr schlafen, weil die Brandblasen auf Glatze und Ohren es ihm unmöglich machten, den Kopf niederzulegen. Der Arzt der Notaufnahme schrieb ihn zwei Wochen krank, und Senff tobte. Doch Tilo hatte auch nach den zwei Wochen mit Kopfverband nichts gelernt und verweigerte auch während der restlichen drei Wochen jeglichen Kopfschutz. Aber sonst wäre Tilo ja auch nicht Tilo gewesen.
Die ausgesprochene Dummheit aller anderen Studenten zeigte sich dagegen wenigstens nur darin, dass sie Fragen stellten, die jeder Sittich nach ausgiebiger Sprechperlentherapie hätten beantworten können. Und wenn man ihnen antwortete, nützte es nicht einmal etwas, mit ihnen zu sprechen, denn sie hörten nie zu und fragten wenige Minuten nach einem ausführlichen Vortrag genau nach den Dingen, die ihnen gerade lang und breit erklärt worden waren. Als typisches Beispiel führte Krzysztof mit Vorliebe einen Studenten an, den er nur die Made nannte. Ihren Kopf beschrieb der Techniker als kahlköpfig und faltig, die Hautfarbe nannte er „gletscherweiß, aber nicht so lebendig, eher wie Wachs.“
Die Made bearbeitete Stellen, die ausnahmsweise ausdrücklich mit dem Pinsel bearbeitet werden sollten, mit der Spitzhacke und griff zum Pinsel, wenn es darum ging, mit dem Spaten ein tiefes Loch anzulegen. Täglich belästigte sie Krzysztof durch das tausendfache Herantragen unansehnlicher, aber eindeutiger Steine, um sich zu erkundigen, ob es sich nicht vielleicht doch um Knochen handelt. Einen gloriosen Erfolg erreichte sie jedoch in der Kategorie „Erst nachdenken, dann fragen“, als sie Krzysztof mit ihren Überlegungen zur Entstehung antiker Siedlungsgruben nervte. Tagtäglich hatten die Studenten nun an diesen Befunden gearbeitet. Dennoch blinzelte die Made den Techniker eines Tages durch ihre Pilotensonnenbrille und fragte voller Wissensdurst, ob die Germanen erst Gruben gefüllt und danach den Lehm um die Gruben herum geschmiert hätten.
Krzysztof raufte sich die Haare und verweigerte die Antwort. Er hatte es aufgegeben, die Studenten mehr als das Nötigste zu lehren, zumal Senff als Dompteur ein Totalausfall war. Besonders in dieser Konstellation mit dem dümmsten Ausgrabungsleiter war mit den Studenten kein Krieg zu gewinnen. Geschweige denn ein Forschungspreis. Und selbst die wenigen denkenden Studenten merkten, dass Krzysztof der eigentliche Leidtragende war, wenn er von einer Studentengruppe zur anderen eilte, um die schlimmsten Zerstörungen zu vermeiden. Er war schlicht von zwei Seiten eingekeilt. Von oben trat der geistlose faule Senff, von unten drückten die desinteressierten Studenten – arbeitsscheu wie die Stirnersche Masse. Als Krzysztof das eingesehen hatte, verschlechterte sich die Stimmung auf dem Plateau um ein Vielfaches. Und dennoch ließ er sich ein zweites Jahr auf die Lehrgrabung ein, in dem dann aber auch endgültig Funkstille zwischen ihm und Senff eintrat. Das verdankte er dem Hinterträger Robert Plankenreiter, den es im achten Semester endlich auf seine erste Ausgrabung gezogen hatte, und der aus unbekannten Gründen von Senff fasziniert war.
Robert bekam eines schlechten Tages mit, als Krzysztof anderen Studenten gegenüber Neuweiler als eine ungeordnete Zirkusgrabung bezeichnete. Robert plankenritt schnellstmöglich zu dem Chef-Bauwagen, um Senff die Entwürdigung der Ausgrabung zu hinterbringen. Das war nun endlich der Beweis der Insubordination, die Senff stets bei Untergebenen suchte und die er nicht dulden konnte. Gerne hätte er Krzysztof sofort gekündigt, musste aber feststellen, dass das wegen des Vertrages nicht vor dem Ende der diesjährigen Kampagne möglich war. So lernte Senff für die Zukunft, nur noch sehr kurzfristige Verträge abzuschließen. Denn nur so war er in der Lage, Mitarbeiter innerhalb einer Woche loszuwerden. In Neuweiler musste er noch ein paar Wochen gute Miene zum verhassten Techniker machen. Er war jedoch unverschämt genug, den Personalwechsel für das kommende Jahr bereits einzuleiten, indem er Krzysztof umgehend befahl, Plankenreiter den Umgang mit Nivelliergerät und Totalstation zu lehren. So wurde Robert im Folgejahr Techniker, ohne zu ahnen, wie sehr sich diese Beförderung für sein weiteres Leben auszahlen würde. Als er auch im späteren Amt Senffs Stellvertreter wurde, konnte keiner die Gründe für diese Besetzung nachvollziehen. Seine fachlichen Fähigkeiten überzeugten jedenfalls niemanden außer Senff.

Samstag, 20. Dezember 2008

Kapitel 3.2

Im Gegensatz zu dieser beinahe fürstlichen Unterkunft waren die Studenten deutlich weniger komfortabel zwangsuntergebracht. Auf der Untersuchungsfläche standen zwei heruntergekommene wellblechbedachte Baracken, die der Bauer, dem die steinige Koppel gehörte, zwei Jahrzehnte zuvor als Regenunterstand für seine Kühe genutzt hatte. Erst kurz vor der Grabung erhielten sie mit ein paar Holzpaletten und vergammelten Bohlen eine vierte Wand. Die verschieden großen Baracken waren ungeschützt dem stetigen Wind ausgesetzt, der zwölf Monate im Jahr über die baumlose Hochfläche blies. Die größere Hütte wurde mit einer lädierten Feuersirene geschmückt, die Senff direkt nach der Wende durch eine ausrangierte, tellerförmige Sirene aus dem Katastrophenschutz ersetzen ließ. Das Signal der Sirene diente freundlicherweise nicht zum Anzeigen von Ausbruchsversuchen, sondern um die Pausen und den Feierabend zu vermelden. Interessanterweise störte die meisten Studenten weder die Lage der Baracken, noch deren ärmliche Ausstattung (eine Kochplatte für vierzig Leute, Gaskocher waren aufgrund der Feuergefahr auf dem Gelände ausdrücklich nicht gestattet). Nein, die meisten störte lediglich das Fehlen einer örtlichen Dusche. Dennoch ertrugen sie die Reise in eine Welt ohne fließendes Wassers, denn sie waren am Institut mit Lügen zu dieser Lehrgrabung gezwungen worden. Der Leiter der Proseminare machte ihnen nämlich jedes Jahr aufs Neue weis, dass sie erst nach der Teilnahme an einer Lehrgrabung auf echten Ausgrabungen arbeiten dürften. Natürlich leitete Senff diese Proseminare, die aus nichts anderem bestanden, als dass er die Studenten Referate über die obligatorische Einführung in die Vorgeschichte von Onkel Eggers vortragen lies. Er selbst wäre als Pseudo-Legastheniker dazu nicht einmal in der Lage gewesen.
Die perfide Abqualifizierung der Lehrgrabung als notwendige Bedingung für spätere Ausgrabungen wurde übrigens unverschämterweise von der Institutsleitung gedeckt. Lachhaft! Aber wenn man seine Schafe dumm hält, kann man sie eben besser schlachten. Daher waren also die Studenten davon überzeugt, auf die Teilnahmescheine angewiesen zu sein, und ertrugen wirklich jede Demütigung. Dabei waren sie während der Lehrgrabung nicht allein aufgrund ihrer Unterkunft eher schlecht bedient, sondern überhaupt einfachste Arbeitssklaven, deren Leben durch Zwang und Reglement gekennzeichnet war.
Das sehr steinige Plateau, auf dem die Ausgrabungsfläche selbst lag, war von einem abschreckenden Zaun umgeben. Stets hieß es, der Zaun rühre noch von der früheren Viehhaltung her. Aber wer hätte schon eine Rinderweide gesehen, die von einem mannshohen, dichten Maschenzaun umgeben ist, der wiederum von einem Stacheldraht gekrönt wird? Und im zweiten Jahr ließ Senff den bäuerlichen Stacheldraht sogar gegen echten Nato-Bandstacheldraht austauschen.
In den Jahren, in denen Senff die eingehegte Fläche als Kleinkönig beherrschte, wurden die Neuankömmlinge sofort nach ihrer Ankunft in zwei Arbeitsgruppen selektiert. Die Trennung der Studenten in zwei, mehr oder weniger verfeindete Gruppen war zweifelsohne am schlimmsten. Beiden wurden Farben zugewiesen, die in den nächsten sechs Wochen das Alleinstellungsmerkmal jeder Individualität übernahmen. Von der Leitung wurden die Studenten fortan nicht mehr länger bei ihrem Namen genannt, sondern mit „Du von der roten Gruppe“ oder „Du von den Blauen“ angesprochen. Das kam Senff vermutlich sehr gelegen, galt sein schlechtes Namensgedächtnis doch damals schon als legendär.
Um den sozialen Druck zu erhöhen, trugen sogar die Werkzeuge farbliche Kennzeichen. Jede Schaufel, jeder Spaten, jeder Kratzer, jede Kelle, jedes Stukkateureisen, jede Schubkarre und jeder Eimer waren mit je einem Farbpunkt versehen. Senff versuchte sogar den Eindruck zu erwecken, dass die Werkzeuge jeden Abend kontrolliert würden. Zu diesem Zweck wählte er zu Beginn einen Studenten als einen Vorarbeiter aus, der ihm abends ungefragt die Menge der Geräte melden musste. Die helleren Vorarbeiter merkten sehr bald, dass Senff die Zahlen weder kontrollierte, noch sie sich merkte oder gar der Mühe unterzog, sie zu notieren.
Das war auch ein Glück für die Teilnehmer, da Senff aufgrund seiner finanziellen Kompetenzen Art und Qualität der Gerätschaften bestimmte, angefangen vom Generator bis zum letzten Buntstift und Radiergummi. Er selbst hatte nicht mit dem Material zu arbeiten, daher kaufte er natürlich nur das billigste vom billigsten ein, so dass die meisten Werkzeuge in kürzester Zeit nicht mehr gebrauchsfähig waren. Das förderte einerseits zwar das Improvisationsgeschick der Teilnehmer, die auf diese Weise unfreiwillig lernten, noch unter widrigsten Umständen Werkzeuge zu reparieren oder sogar erst zu kreieren. Andererseits dezimierte sich das Material dadurch nahezu selbständig. Übrigens ist abgesehen von der relativ teuren Unterkunft, mit der Senff protzte, nicht sicher, was mit dem vielen Geld geschehen ist, dass er zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Regelmäßige Unterschlagungen, die so mancher vermutete, konnte ihm allerdings niemand nachweisen.
Doch die Munkeleien um zweckentfremdete Gelder betrafen ihn nicht allein. In den ersten beiden Jahren stand ihm nämlich ein Grabungstechniker namens Krzysztof Wymek zur Seite, der den größten Teil der täglichen Leitungsarbeiten übernahm. Krzysztof hatte sein Archäologiestudium abgebrochen, galt jedoch zurecht als großartiger Ausgräber und war daher eigentlich der führende Kopf auf der Ausgrabung. Mitte der 80er Jahren war er aus Polen ausgebürgert worden, nachdem seine Frau beim Plakatekleben für Solidarność erwischt worden war. Als er später in Sachsen Ausgrabungen leitete, wurde er daher von manchem Ostalgiker beschimpft, er trüge die Schuld an dem Elend, in dem die Länder der ehemaligen DDR nun versanken, er hätte ihnen das alles eingebrockt! Das bedrückte Krzysztof sehr, zumal er aufgrund leichter Sprachschwierigkeiten oft nicht verstand, ob ein deutschsprachiger Gegenüber nun ernsthaft oder ironisch mit ihm sprach. Und weil er ein selten gutmütiger Bär war, rechtfertigte er sich damit, dass doch seine Frau die Plakate geklebt hatte!
Seine Herkunft verschaffte Krzysztof in Neuweiler dagegen eine relativ gute und vor allem günstige Unterkunft. Er war bei der Verwandtschaft von einem Bekannten untergekommen, die darauf bestand, aus Ostpreußen zu stammen. Von Hopfens, so hieß das ältere Paar, waren hoch erfreut, in ihrer Pension einen Gast aus „ihrer“ alten Heimat zu haben. Jeder Gast wurde bereits im Flur mit einem Foto begrüßt, das ein reich hakenkreuzbeflaggtes Häuschen in Masuren zeigte. Auf Nachfrage bekannten die Vertriebenen dann stolz, ihr Vater sei dort Bürgermeister gewesen. Aber natürlich hatten die Familie „nie was mit den Nazis zu tun gehabt.“ Anders als die anderen Gäste erhielt Krzysztof sogar die nächst höhere Behandlungsstufe, weil er sich nach jedem Feierabend zu Gesprächen im Wohnzimmer einfinden musste. Hier führten sie ihm zahlreiche Konvolute mit Familienfotos vor, um ihre eingebildeten Ansprüche zu unterstreichen. Doch so nervig diese ewig gestrigen und allabendlich gleichen Monologe der von Hopfens waren, verschafften sie Krzysztof doch wenigstens ein kleines Zubrot, da sie ihm gerne Quittungen über eine höhere Summe ausstellten, als er in Wirklichkeit für die Unterkunft zahlte.
Erstaunlicherweise kontrollierte Senff so etwas nicht, obwohl er zu Krzysztof keinen richtigen Draht finden konnte. Senff empfand es sehr unangenehm, dass Krzysztof ihm als Ausgrabungsleiter deutlich über war, und das von jedem außer Pickenpack zu erkennen war. Außerdem war Senffs in Neuweiler gewissermaßen fast asketischer Lebenswandel geradezu die Antithese zu Krzysztofs Dasein. Krzysztof war zwar kein Alkoholiker, aber er trank eben gerne einen über den Durst. Schon während seines Studiums klapperten gewöhnlich ein paar Glasflaschen in seinem Rucksack, die er im Laufe des Tages mit einem polnischen Kommilitonen leerte. Da beide an der Uni meist zusammen anzutreffen waren, hatten sie schnell den Spitznamen Lolek und Bolek erhalten. Aber auch während der Grabung in Neuweiler fuhr Krzysztof regelmäßig zu Jaques’ Weindepot, um seinen Kofferraum zu füllen. Nachts trank er schon einmal zwei Flaschen Wein, wenn er nicht schlafen konnte. Kam er dann morgens mit einem dornenzerkratzten Gesicht und zerrissenen Hosen zur Grabung, wusste noch der dümmste Student, dass Krzysztof im Suff wieder zur Autobahn hinter dem Haus der von Hopfens gewankt und dort in die Büsche gefallen war. An Tagen nach solch besonderen Eskapaden stritten Krzysztof und Maxim sich besonders heftig. Überhaupt stritten beide oft, seit bei der ersten Kampagne im Jahre 1988 der Versuch gescheitert war, ein Lackprofil zu erstellen.
Solche Lackprofile dienen der Erhaltung eines Bearbeitungsstandes auf einer Ausgrabung. Abgesehen von den meist großartig verkauften Funden interessieren den Archäologen wesentlich mehr die sogenannten Befunde. Dabei handelt es sich um Reste von Baustrukturen, Gräbern oder Gruben, die sich üblicherweise als hellere oder dunklere Verfärbungen im Boden abzeichnen. Zur Interpretation solcher Befunde ist es notwendig, möglichst viel Informationen über ihre Form, Tiefe und Verfüllung zu bekommen. Dazu werden die Befunde nach ihrer Freilegung zunächst von oben – im Planum – zeichnerisch aufgenommen. Um schließlich in Erfahrung zu bringen, wie die Befunde im Boden geformt sind, werden sie anschließend ein- oder mehrfach senkrecht geschnitten, so dass man Profilansichten erhält. Diese werden wiederum gezeichnet oder je nach Bedarf fotografiert. Die Königsdisziplin der Profildokumentation ist jedoch das sogenannte Lackprofil. Im Prinzip handelt es sich um eine Technik, eine Schicht des Befundes zu konservieren, indem man mehrere Lagen Lack auf ein Profil aufträgt, trocknet und abschließend ein Vlies aufklebt. Ist das Lackprofil gelungen, kann man es abziehen und erhält eine spiegelverkehrte Fassung des echten Profils. So funktioniert diese Technik zumindest in der Theorie. Meist kleben leider nur Teile der Profilerde am Lack, oder Steine fallen ab und müssen ständig nachgeklebt werden. Daher gibt es für die erfolgreiche Anlage eines Lackprofils ungefähr so viele Techniken wie Archäologen.
Nun ergab es sich bereits in dem ersten Jahr der Grabungskampagne völlig überraschend, dass sich ein tieferer Befund zur Erstellung eines Lackprofils anbot. Leider verstand Senff überhaupt nichts von er Materie, und auch Krzysztof hatte bislang nur wenig Erfahrung mit der notwendigen Technik. Ihr Problem war, dass die Lackschichten einfach nicht trocknen wollten. Der Abend rückte heran und sollte schwere Gewitterwolken mit sich bringen. Daher entschied Krzysztof mangels alternativer Brennstoffe kurzerhand, die Studenten einige Autoreifen vom nächstliegenden Silo stehlen zu lassen, und die Reifen vor dem Profil zu entzünden. Die runden Gummibriketts brannten, es stank, dunkle Wolken standen über Neuweiler und kaum eine halbe Stunde später stand auf der Grabung die örtliche freiwillige Feuerwehr, die über diesen Einsatz nicht wirklich erfreut war. Um einer Anzeige zu entgehen, war Senff quasi gezwungen, das nächste Feuerwehrfest aus der Grabungskasse in beachtlichem Ausmaß zu finanzieren.
Nach dieser Aktion waren Senff und Krzysztof sich gar nicht mehr grün. Dazu kulminierte noch Senffs sprachliches Unvermögen, die polnische Variante von Christoph korrekt auszusprechen. Stets war es irgendein unverständlicher Mix aus der deutschen und der polnischen Form, nie jedoch das eine oder das andere. Daher merkte Krzysztof oft nicht, wenn er angesprochen wurde, und Senff fühlte sich grundlos missachtet.

Freitag, 19. Dezember 2008

Kapitel 3.1

Senffs Lehr- und Forschungsgrabung fand auf einem Plateau nahe eines kleinen Kaffs namens Neuweiler statt. Das Kaff liegt irgendwo südlich der Mittelgebirge. Im Gegensatz zu echten Notbergungen im richtigen Leben oder Ausgrabungen in freier Wildbahn sind solche Forschungsgrabungen grundsätzlich recht gemütliche Veranstaltungen. Meist gibt es keinen Mangel an Arbeitsmaterialien, und vor allem Zeit hat man gewöhnlich im Übermaß. Eigentlich könnte man zu den meisten dieser Luxusgrabungen mit weißen Turnschuhen antreten und sähe dennoch hinterher aus wie diese geleckte Archäologin aus der lächerlichen Crème-Werbung, deren größtes Problem bei der Beaufsichtigung der faulen Fellachen ihre trockene Haut ist.
Neuweiler aber war anders. Böse Zungen behaupteten, es habe an der Lage in Dunkeldeutschland gelegen. Halbwegs objektive Zungen wissen, es lag eindeutig an Senff, der die Lehrgrabung von Alpha bis Omega unter seiner Kontrolle hatte. Das bedeutete vor allem, Senff hatte die Kontrolle über die Grabungskasse, die gut gefüllt war, weil die Institute solcher Orchideenfächer Ende der 80er noch verhältnismäßig viel Gelder erhielten. Forschung wurde damals nicht nur auf Patente und Gentechnik beschränkt. Es wehte noch mehr als ein kümmerlicher Rest des heute lediglich in Sonntagsreden viel und hoch beschworenen Humboldtschen Geistes durch die Luft.
Leider kamen diese Möglichkeiten wie so oft auch dieses Mal nicht in die richtigen Hände. Senff erhielt die Macht über eine sechsstellige Summe, über die er nach Gutdünken frei verfügen konnte, sofern er die Gewichtung der Ausgaben nicht übertrieb.
Das begann zunächst damit, dass er sich im Vorfeld eine verhältnismäßig gut ausgestattete Unterkunft besorgte. Dabei war er selbst nicht wenig über das Zimmer erstaunt, das ihm die Pensionswirtin zuwies. Sowohl die Lampenschirme als auch die Bettwäsche waren mit Leopardenmuster bezogen, über dem französischen Bett hing an der Decke ein zweimaleinsfuffzich messender Spiegel. Als Maxim das erste Mal jemandem von der Unterkunft erzählte, wurde er prompt gefragt, ob er stundenweise bezahlen müsse. Doch er wusste weder mit der Einrichtung noch mit der Frage etwas anzufangen, schließlich war er in sexueller Hinsicht eher unbedarft. Sein Leben lang hatte er nur wenig Interesse am Vollzug gehabt, allein die Herrschaft über andere Menschen und bestenfalls deren Erlangung zählten etwas in seinem krausen Weltbild.
Senffs Unterkunft brachte jedoch auch Unannehmlichkeiten mit sich. Zur Südseite besaß das im Erdgeschoss liegende Zimmer ein sehr großes Fenster mit einer Reihe von Gitterstäben zum Schutz vor Einbrechern. Eines Abends nun, als Senff gelangweilt damit beschäftigt war, zumindest den Papierkram zu beenden, den er nicht auf andere abwälzen konnte, bummelte die angetrunkene Dorfjugend von der örtlichen Bushaltestelle, die lediglich zu Beginn und am Ende des Tages von je einem Bus frequentiert wurde, an ebendiesem Fenster vorbei und erblickte erheitert diesen merkwürdigen Menschen, über den man sich im Dorf das Maul zerriss. Der Alphajugendliche sprang nun unvermittelt auf das Fenster zu. Damit hatte er den unausgesprochenen Befehl gegeben, dass wenigstens die drei anderen Jungs der Gruppe ihm zu folgen hatten. Sie sprangen mit nur geringer Verzögerung an die Gitterstäbe, klammerten und schaukelten daran wie Schimpansen in der Pubertät. Dazu brüllten sie mehrmals laut „FICKÖÖÖN“ gegen das Fenster. Senff rammte vor Schreck mit der verrissenen Feder seines Füllers einen markanten und tiefen Kratzer in den Tisch. Verstört blickte er zu dem Fenster, sah die vier königlich amüsierten Halbwüchsigen, die bereits von ihrem Abendvergnügen abließen. Senff stand auf, schritt fest zum Fenster, konnte die vier aber nur noch die Straße hinabspringen sehen. Ihr Anführer warf zum Abschied noch einen kleinen Stein gegen das Fenster. Der Stein war zu klein, um einen Schaden am Fenster anzurichten, aber groß genug, um an Senffs Ego zu kratzen. Kurze Zeit dachte er daran, Professor Pickenpack zu bitten, dem Dorfbürgermeister bei der nächstbesten Gelegenheit die Wichtigkeit der Ausgrabung und ihres Leiters deutlich zu machen.

Donnerstag, 18. Dezember 2008

Kapitel 2.3

Dr. Maxim Senff hatte an dem Institut lediglich eine halbe Assistenzstelle inne, eine weitere halbe Stelle hatte er in einem Landesdenkmalamt in einem nahegelegenen ostdeutschen Bundesland inne. Beide Stellen verdankte er seinem Doktorvater Pickenpack, bei dem er nun Assistent war. Professor Dr. Albert Pickenpack war meist recht freundlich, wirkte oft ein wenig kindlich neben sich, wenn er summend durch die Bibliothek lief und mit dem Zeigefinger an den Buchrücken entlangstrich. Dabei sah er aus wie ein kleiner Junge, der mit einem Stock an einem Gartenzaun entlang lief, um den Dackel des Nachbarn zu ärgern. Pickenpack hatte die Angewohnheit, jeden, der ihm über den Weg lief, nuschelnd zu duzen („Mach mal“ oder „Pass mal auf“), und litt ein wenig an seinem Tick, Wörter zwanghaft zu wiederholen. So hieß er seine Sekretärin schon mal „fix-fix“ ein „Fax-Fax“ versenden. Er war ein etwas unförmiger Mensch, weswegen die etwas gebildeteren Studenten ihn in Anspielung an John Heartfield zuweilen „Jedermann-sein-eigner-Fußball“ nannten. Erst nach einer Exkursion, die er begleitete und an der ich teilnahm, wandelte sich der Spitzname aufgrund von Körperform und Funktion in den „Ei-Leiter“.
Aus Gründen, die kein Mensch wirklich kannte, die aber sehr wahrscheinlich in politischen Beziehungen zu suchen sind, hatte Pickenpack beste Einflüsse bei der nachwendezeitlichen Neubesetzung der Stellen in der ostdeutschen Archäologie. Die alten „Kommunisten“ mussten von den Stellen runter, so wie bekanntlich ja auch große Teile ihrer Texte eingestampft gehörten – darin war sich die gesamte westdeutsche Forschung einig. Plötzlich galten weder fachliche Kompetenzen noch zuvor unter größten Schwierigkeiten geknüpfte freundschaftliche Kontakte irgendetwas. Gleichzeitig waren wie von Zauberhand die Stellenprobleme der westdeutschen Denkmalpflege gelöst, die in den Endachtzigern und Frühneunzigern Myriaden von Papier-Archäologen in die freie Wildbahn entließ. Es war die goldene Zeit der Westarchäologie.
Und so hatte Pickenpack auch seinen Schüler Senff in dem besagten Landesamt untergebracht. Dort leitete Maxim eine Abteilung, die für Sonderprojekte zuständig war, sich also um größere Bauprojekte wie Gastrassen, Autobahnen und großformatigen Innenstadtsanierungen zu kümmern hatte. Die dafür notwendige Erfahrung hatte er im Verlauf seiner ersten größeren Ausgrabung gemacht, die ihm auch als Basis für seine Dissertation diente. Genaugenommen war es sogar die erste Ausgrabung, die er überhaupt geleitet hatte. Das bot ihm frühzeitig viele Gelegenheiten, Leute zu piesacken. Ich selbst hatte zwar nicht daran teilgenommen, erfuhr jedoch vieles sowohl von diversen teilnehmenden Studenten als auch von dem Grabungstechniker, dem es schließlich vergönnt war, auch ein wenig hinter die Kulissen zu blicken. Den Wahrheitsgehalt der Geschichten wusste ich zunächst nicht immer sicher zu bewerten, aber sie waren alle geprägt von endlosen Schikanen und Quälereien. Diese wurden zwar von allen Teilnehmer zum Zeitpunkt des Erlebens als schrecklich geschildert, hinterher bemerkenswerterweise jedoch als besonders lustiger, anekdotenhafter Schwank vorgetragen. Eben genauso wie die Geschichten vom Opa, der von seinen in Stalingrad erfrorenen Füßen oder von seinem EK-Zwo-würdigen Kopfschuss während eines Kosakenangriffs erzählt.

Freitag, 12. Dezember 2008

Kapitel 2.2

Ich lernte Dr. Maxim Senff als Assistenten kennen, als ich meine Universität wechselte. Er hatte an meiner neuen Universität seinen Diplomabschluss gemacht, war neun Jahre später promoviert worden und arbeitete zur Zeit meines Wechsels an seiner Habilitierung. Da er als Lehrveranstaltungen nur Seminare und Proseminare für Erst- und Zweitsemester anbot, beschränkte sich mein Kontakt mit diesem wissenschaftlichen Inzuchtgewächs glücklicherweise darauf, ihn im Institut zu grüßen oder sein Bild an der Wand der Doktoren zu sehen.
Wie es des Öfteren Brauch ist, hingen nämlich auch in diesem Institut der Vor- und Frühgeschichte an einer kahlen, weißgestrichenen Wand mehrere Dutzend gerahmte Fotos all der Doktoren, die dort promoviert worden sind. Es bot sich so der Ablauf der Forschungsgeschichte einer jungen Wissenschaft. Von den frühen Altertumswissenschaftlern aus der Zeit um die Jahrhundertwende, über die Rassenforscher der 20er, über die knallharten Nazis vor dem zweiten Weltkrieg und die plötzlich weichgespülten nie-gewesenen-Nazis nach dem zweiten Weltkrieg hin zu dem kaum zusammenfassbaren Gesippe der späten Nachkriegszeit. Alle Fotos hatten aber gemein, die weitere Institutsgeschichte schwarz gerahmt zu begleiten.
In dieser Sammlung war selbstverständlich auch ein Foto Senffs zu finden. Merkwürdigerweise war er jedoch zu schüchtern, fotografiert zu werden, daher hing damals an der Wand zunächst ein Foto, auf dem er die Augen geschlossen hatte, den Kopf auf den Boden richtete und die Hände – wie zur Abwehr eines wilden Tieres – in die Richtung der Kamera hielt. Kein Mensch wusste, warum er dieses Bild so lange hängen ließ und nicht lieber auf ein Foto verzichtet hatte, wie andere es zuweilen taten. Später ließ er das Bild umtauschen. Das neue Bild war aber kaum wesentlich besser, erinnerte es in seiner Machart doch eher an das Fahndungsfoto eines Untoten. Senff starrte darauf mit seinem trüben Dackelblick direkt in die Kamera. Seine Augen wiesen mit den äußeren Winkeln nach unten, der rechte Mundwinkel versuchte sich in so etwas ähnlichem wie einem Lächeln, die grundsätzlich fisselig-fettigen, fast schulterlangen Haare hingen wie zwei Pfund farbloses Lametta von seinem Scheitel und waren hinter seine Segelohren gestrichen, die an die Darstellungen römischer Legionäre auf Grabsteinen gemahnten. Obwohl es sich um ein Porträt handelte, war deutlich merkbar, dass die ganze Gestalt wie ein halbgefüllter Mehlsack zusammengesunken sein musste. Es blieb also im Ganzen ein Zeugnis seiner zombiesken Lächerlichkeit. Und dennoch wirkte es, als versuchte Senff mit jedem Muskel seines kraftlosen Gesichts, tunlichst wie ein Allwissender auszusehen. Gerade in diesem Ausdruck bestätigte sich jedoch wieder die asiatische Weisheit, dass ausgerechnet die Menschen unwissend sind, die eine allwissende Miene zur Schau stellen. Menschen, die etwas wissen, lassen es sich für gewöhnlich nämlich nicht anmerken.

Donnerstag, 11. Dezember 2008

Kapitel 2.1

Senff saß in seinem Büro auf seinem ledernen Chefsessel und hielt inne. Von draußen hörte er Gelächter und Gejuchze. Er gab seinem Sessel einen faulen Stoß und drehte seinem Schreibtisch die Rückenlehne zu, so dass er bequem aus dem Fenster blicken konnte. Er zupfelte seinen geliebten Kamm aus der linken Gesäßtasche und kämmte sein dünnes Haar. Im Park vor seinem Fenster erblickte er eine Hochzeitsgesellschaft. Das Schloss, in dem er heute noch als Landesarchäologe residierte, diente oftmals als Kulisse für Hochzeitsfotos. Senff sah das glückliche Paar und gedachte seiner eigenen Hochzeit.
Sie war möglich geworden, nachdem er promoviert worden war. So hatte ihm seine Promotion nicht allein zwei halbe Stellen verschafft, sondern auch in die Lage versetzten, endlich seine langjährige Verlobte Nicole zu heiraten, mit der er zuvor in wilder Ehe gelebt hatte. Mit Stolz und Freude blickte er daher auf seine Promotion zurück. Sicher, er fand es nicht so schlimm, eine Zeit lang unverheiratet mit einer Frau zusammen zu leben, solange beide sich darüber einig waren, eines Tages auch wirklich zu heiraten. Aber Senff wusste, dass am Institut getuschelt wurde. Das Institut war fest in der Hand von Katholiken in der Diaspora, die ihre direkte Umgebung also um so strenger kontrollierten. Und ihn, der er nur der Sohn eines protestantischen Popen war, missachteten sie ohnehin schon! Wie viel schlimmer also war da das Getuschel darüber, dass beide in Sünde miteinander lebten! Nach der Heirat aber konnte er unbeschadet an den regelmäßigen Teepausen der Institutsangestellten teilnehmen, ohne sich weiterhin aufziehen lassen zu müssen. Ach, dann erzählte er so gerne von seiner Frau. Wie sie sich auf einer Exkursion kennen gelernt hatten.
Es war eine berüchtigte, am Institut legendäre Exkursion gewesen. Die Exkursion führte nach Frankreich, was direkt an der Grenze für ein spannendes und gleichzeitig unglückliches Ereignis sorgte. Einer der Teilnehmer hatte nämlich wenige Jahre zuvor die Jugendsünde begangen, sich bei der französischen Fremdenlegion zu verpflichten. Schnell hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass ihm das Kriegspielen doch keinen Spaß macht, und war desertiert. Als der Fahnenflüchtling nun am Schlagbaum auftauchte, wurde er geschnappt und wieder eingezogen. Das ging so schnell, dass die anderen Studenten und Pickenpack nicht erfuhren, ob er einfach nur so viel Chuzpe hatte oder ob er es einfach nicht bedacht hatte. Zumindest wird er in der nächsten Zeit wohl nicht mehr viel zu lachen gehabt haben. Anders als Pickenpack – kaum war der Fremdenlegionär „ausgestiegen“ worden, zuckte der Professor die Schultern und bemerkte zur allgemeinen Erheiterung „Zehn Prozent Schwund ist immer!“
Professor Pickenpack bevorzugte Campingexkursionen. Mit der Familie fuhr er jedes Jahr mit einem alten T2-Camper in den Urlaub und so mussten auch die Studenten mit ihm stets zelten. Dazu besaß er ein hundehüttenähnliches Zelt, in das er abends mit mindestens einer Flasche Wein verschwand. Senffs spätere Frau Nicole kam mit einer Kommilitonin Heidrun in einem Zelt unter, das aufgrund der Menge und der unterschiedlichen Färbungen der Flicken vom ersten Aufbau an als „Villa Kunterbunt“ bezeichnet wurde. Wegen der zahlreichen Flicken war das Zelt natürlich auch nicht besonders wasserdicht, so dass Nicole und Heidrun bei dem auf dieser Exkursion nicht seltenen Regen kaum eine trockene Nacht verbrachten. Heidrun war ohnehin etwas seltsam, schlief sie doch stets en naturelle, was die prüde Nicole auch nicht gerade aufmunterte. Besonders ungehalten wurde Nicole aber, als eines Nachts ein Ohrenkneifer in ihr linkes Ohr kroch und dort den Heldentod starb. Ihr morgendliches Gekreische erzeugte nicht wenig Belustigung unter den Studenten. Allein der völlig humorlose Senff nahm sich ihrer an und entfernte den Ohrenkneifer mittels der Pinzette seines Schweizer Taschenmessers.
Auf dem Rückweg nach Deutschland war Nicole dann nach einer Pinkelpause von einem der draufgängerischen Studenten getriezt worden. Professor Pickenpack hatte die Studentengruppe vorher zu einem eimergroßen, inzwischen verfallenen Loch in irgendeinem Wald geführt. Dazu fragte er die Studenten, um was für eine archäologische Sensation es sich handele. Die Studenten schwiegen bedächtig und blickten in alle Richtungen, nur nicht zum Professor oder auf das Loch. Pickenpack begann mehr und mehr zu grinsen, freute sich über die verlegene Unwissenheit und eröffnete der staunenden Gruppe, sie stünden vor seiner ersten Raubgrabung, die er als 12jähriger durchgeführt hatte. Solche Situationen machten ihm stets eine besondere Freude. Von dieser historischen Raubgrabung ging die Gruppe wieder in Richtung zum Bus. Bevor die Fahrt weitergehen sollte, hatte Pickenpack jedoch noch eine wäldliche Pinkelpause veranschlagt, die auch Nicole nutzen wollte. Bevor sie zum Bus ging, pflückte sie noch einen Ast mit Eichenlaub, um ihren Sitzplatz mit Fenster ein wenig zu schmücken. Doch kaum war sie eingestiegen und hatte den ersten Schritt in den Gang getan, da wurde sie von Mark, einem Draufgänger und unibekannten Schürzenjäger, grinsend gefragt: „Was zahlst du für die Fotos, Nicole?“
Nicole blieb stehen, schaute erst dumm in Marks Richtung mit einem Blick, der verriet, dass sie einen Moment zu lange auf dem Schlauch stand, bekam dann schlagartig einen roten Kopf und verschwand schweigend mit ihrem Eichenlaub auf ihrem Platz.
Das war die Gelegenheit, in der Maxim die letzte Hürde nahm, um Nicoles Herz zu gewinnen. „Du ehrloser Schuft!“, beschimpfte er den nun noch lauter lachenden Mark mit einer Beleidigung, die er sich in der Schundliteratur angelesen hatte, die er heimlich in den Seminaren las. Niemals zuvor war Maxim so aus sich herausgebrochen und er tat es auch niemals wieder. Dabei half dieser Ausbruch natürlich wenig in dieser Situation; genauso gut hätte Maxim „Du Flur!“ persönlich werden können, aber es lenkte immerhin ein weiteres Mal Nicoles Aufmerksamkeit auf ihn. Dann setzte er sich zu der tief betrübten Nicole, um sie erfolgreich zu trösten. Doch es sollte auch belohnt werden: Nach der Exkursion waren Nicole und er in ein Studentenlokal gegangen, wo er ihr ein Mineralwasser ausgeben durfte. Er staunte, eigentlich war sie gar nicht sein Typ, sie war sehr mager und hatte einen Brustumfang wie eine typische Volleyballspielerin. Ihre Haare waren brünett und wie ein Treppenabsatz geschnitten. Maxim erkannte aber, dass sie nicht die hellste war, und sah hierin offenbar frühzeitig die Möglichkeit eines leicht zu lenkenden Heimchens.
Er verfestigte die Eroberung vor allem dadurch, dass er sie nicht auslachte, wie die anderen Studenten und zeitweise sogar die Dozenten es taten. So berechnete sie als Doktorarbeit die „Transportmengen auf mitteleuropäischen Flüssen der Antike“. Dazu hatte sie von Pickenpack ein mehrmonatiges Stipendium in den Niederlanden vermittelt bekommen, was leider den Nachteil mit sich brachte, dass sie die dasige „fremdländische“ (sic!) Literatur nicht lesen konnte. Doch Nicole war darüber hinaus auch so dumm, diese Tatsache beim Doktorandenkolloquium zuzugeben, in dem sie ihr „work in progress“ vorstellen sollte. Damit hatte sie die ersten Lacher auf ihrer Seite. Die nächsten erntete sie, als sie auf der Deutschlandkarte nicht einmal den Rhein nicht zu finden vermochte. Damit rief sie nicht allein Gelächter und Unmut hervor, sondern auch die Neider auf den Plan, die gar nicht einsehen wollten, warum diese Person ein Stipendium – oder wie es bei ihr fortan hieß: ein Stupendium – erhalten hatte. Für weitere Heiterkeit sorgte sie übrigens unter den Studenten, als sie in der Caféte von der hochgeschossigen Zweitwohnung ihrer Eltern in Bremen zu erzählen wusste, wo sie morgens stets „mit Blick auf die Elbe frühstückte“. Bald schon machten die Studenten einen weiten Bogen um Nicole, bis auf Maxim, der eben – wie ihr immer aufgefallen war – nicht über sie lachte. Sie konnte damals natürlich nicht wissen, dass Maxim eigentlich nie lachte. So hängte sie sich an ihn, und war schneller mit ihm verlobt als man es sich vorstellen konnte. Und ihre Familie war sehr stolz auf die Verbindung: Eine Pastorssohn! Das musste ja eine gesegnete Ehe werden!

Montag, 8. Dezember 2008

Kapitel 1.2

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere stellte Maxim Senff sich vor, eines Tages der Held einer Fernsehsendung zu sein. Er malte sich aus, wie er sich in einer Show namens „Das war Ihr Leben“ auf einer puffärmeligen roten Couch lümmelte, damit die Menschen, die ihm in seinem Leben begegnen mussten, ihn beweihräuchern könnten. Weihrauch hatte er bereits zuvor gesammelt, nun könnte das teuflische Kraut vor versammelter Fernsehlandschaft auf Kosten der Gebührenzahler verbrannt werden. Er stellte sich vor, wie er in einem seiner karierten Anzüge, die er als wohlgeschneidert und äußerst stilvoll ansah, leicht behäbig grinsend all das Öl empfing, das ihm den Rücken herunter laufen sollte. In Wirklichkeit konnte nur ein Blinder glauben, Senff trüge exquisite Garderobe, wirkte sie in Wirklichkeit doch seit je, als stamme sie aus dem Clown-Fundus eines viertklassigen Zirkusbetriebes. Obwohl er keineswegs an Farbenblindheit litt, wählte er doch mit entschiedener Sicherheit stets Kleidung aus solchen Stoffen, die es gewöhnlich nicht einmal bis zur Altkleidersammlung schaffen, weil sie zuvor bereits zurecht verbrannt werden.
Senff stellte sich vor, wie der fönfrisierte Moderator debil grinsend durch das Publikum glitt und den Anwesenden all die kreativen Glanztaten des Ehrengastes entlockte. Das heißt, natürlich wäre es nicht notwendig, diesen erst irgendetwas zu entlocken. Nein, Senff empfand es als Selbstverständlichkeit, alle Menschen darüber glücklich zu wissen, den Segen des großartigsten Archäologen seit Schliemann und Indiana Jones empfangen zu haben. Dementsprechend musste es ihnen schlicht eine Freude sein, der Fernsehöffentlichkeit mitzuteilen, wie ihr Herz auf dem Glockenspiel der Gefühle Rumba tanzte, als sie in der Vergangenheit die Nähe des HErrn verspürt hatten.
Da! Sein Doktorvater Prof. Dr. Albert Pickenpack bekam das Mikrofon unter die Nase gehalten. „Ach, was fragen Sie mich“, zierte der sich zunächst grinsend, während er im Publikum Partner für Blickkontakte suchte. Wenige Augenblicke später griff er selbst nach dem Mikrofon: „Wissen Sie, nicht jedes Forschungsvorhaben findet genau die Wissenschaftler, die es vorantreiben. Umgekehrt gibt es nicht für jeden Wissenschaftler das Forschungsvorhaben, in dem er sich bewähren kann.“ Inzwischen war Pickenpack aufgestanden und schraubte während des Sprechens den Oberkörper in alle Richtungen des Publikums: „Als Archäologe bewährte sich Maxim Senff in ganz besonderer Weise. War er doch das Scharnier, um das sich alles drehte! Für ihn bedeutete Forschungsfreiheit, mehr zu arbeiten, als er es musste. Dabei wurde die andauernde gedeihliche Arbeit von ermunternden Gesprächen mit seinen Kollegen gekrönt.“ Das Publikum klatschte. Pickenpack verbeugte sich, gab das Mikro dem gefügigen Moderator zurück. Indem der Professor sich seine Krawatte auf den aufgequollenen Unterleib strich, nahm er wieder Platz und setzte sich.
Hier! Eine der Zeichnerinnen berichtete eine Begebenheit, die vom gusseisernen Gedächtnis des Königs der Archäologen zeugte. Sie erzählte von ihren Zeichenarbeiten im Schloss, die auszuführen sie im Rahmen der Nachbearbeitung seiner größten Ausgrabung die hohe Ehre hatte. Unter widrigsten Umständen – ohne Heizung nämlich – sollte sie die Zeichnungen umzeichnen, die sie während der Ausgrabung angefertigt hatte. Dazu gehörte die Zeichnung eines so genannten Grubenhauses, bei der sich – Schande über Schande! – tatsächlich ein kleiner Fehler eingeschlichen hatte, den der Meister im Verlauf der Ausgrabung übersehen haben musste. Kleinlaut war sie nun mehr als ein Jahr nach der Bearbeitung des Befundes zu ihm gekrochen und hatte ihn gefragt, ob er sich daran erinnerte. Senff hatte sein großväterliches Gesicht aufgesetzt und sofort damit begonnen, ausführlichst das Aussehen des Grubenhauses zu schildern. Jedes Detail, so schien es ihr, war er zu beschreiben imstande. Das Publikum jubelte.
Und dort! Sein Stellvertreter Robert Plankenreiter, dem er bei seiner Karriere ein wenig behilflich gewesen war, wusste Senffs perfekte Öffentlichkeitsarbeit zu schildern: Das größte von Senff betreute Projekt war eine Gastrasse quer durch das Bundesland gewesen, dessen archäologischen Geschicke er geleitet hatte. Um nun der Öffentlichkeit, die finanziell schließlich nicht gänzlich unbeteiligt an dem Projekt war, etwas von dem Wissen zurückzugeben, hatte Senff die bahnbrechende Idee gehabt, an der Gasleitung in unregelmäßigen Abständen Erklär-mir-die-archäologische-Welt-Informationstafeln aufstellen zu lassen, um den geistigen Pöbel wissen zu lassen, welch vorgeschichtliche Schätze hier einst geruht hatten. Senff war zwar nicht der erste gewesen, der so etwas hatte aufstellen lassen, aber dafür waren die von ihm veranlassten Tafeln dermaßen blöde angebracht, dass sie von Vornherein von jeder Wahrnehmung ausgenommen waren. Wirklich eigen war nur die noch weit in die Zukunft greifende Öffentlichkeitsarbeit, in regelmäßigen Abständen Zeitkapseln mit wenigen ausgewählten Funden – meist irgendwelche ungewaschene Scherben – zusammen mit einer billigen Regional-Zeitung aus der Zeit der Ausgrabung zu deponieren. Die Zuschauer im Studio waren aus dem Häuschen!
Natürlich wusste Senff, als er sich diese Sendung ausmalte, wie sehr er sich selbst betrog. Zumindest das Unbewusste in ihm wusste es. Das überlagernde, bei ihm überragende Bewusstsein dagegen war bereits überzeugt davon, dass er wirklich der Held war, als der er sich sein Leben lang zu verkaufen versucht hatte. Und als der er ja auch tatsächlich fast bis zuletzt angesehen wurde.
Dabei hatte er sich diese Vorstellung hart erarbeiten müssen, womit er bereits in der oft so demütigenden Schulzeit begonnen hatte. Schon damals ließ Maxim sich alle Hausaufgaben und zum Teil auch Arbeiten von anderen schreiben. Niemand wusste so recht, wie ihm das gelang, konnte es doch nicht an seiner kläglichen Statur gelegen haben. Auch hatte er sich nie geschlagen. Aber er wusste zu schmeicheln und zu hetzen, bekam nach einer sehr vereinfachten Schulaufführung des „Othello“ sogar eine Zeit lang den Spitznamen Jago verpasst. Es gilt jedoch durch alle Zeiten die Erkenntnis, dass Despoten gefährlich, Schmeichler aber tödlich sind. (Erst die modernen Moralvorstellungen verbieten die früher geltende Lehre aus dieser Weisheit, dass man nämlich den ersten beobachten soll, den zweiten dagegen vernichten.) Senff hatte ein Gespür dafür, seine Person in eine gefährliche Mixtur aus Despot und Schmeichler zu schmieden. Nur bei wenigen Personen versagten seine Künste als scheinheiliger Schwindler.
Der erstgeborene Maxim war als Vierjähriger bereits dermaßen eifersüchtig auf seine kleine Schwester gewesen, dass er die Neugeborene in einem von den Erwachsenen unbeobachteten Moment zu erdrosseln suchte. Natürlich hatte er nur geglaubt, unbeobachtet zu sein. Seine Mutter ertappte ihn, rettete die Tochter und erzog diese zu einer sehr begründeten, lebenslangen Furcht vor ihrem großen Bruder, indem sie ihr diese Geschichte regelmäßig erzählte. Unweigerlich trennten sich die Wege von Bruder und Schwester im Verlauf des Erwachsenwerdens, so dass Maxim nach dem Auszug aus dem Elternhaus bis zu seinem Ende keinen Kontakt mehr zu ihr haben sollte.
Wenigstens gelang es Maxim eine Zeit lang, seine Haltung anderen Menschen gegenüber bei sportlicher Betätigung halbwegs positiv auszuleben. Seit der Schulzeit war er Handballer, denen von verschiedener Seite nachgesagt wird, dass sie mehrheitlich link seien. Ansonsten galt er in der Schule eben außer als Schmeichler höchstens noch als einer von diesen schrecklichen Nachplapperern. Er war einer von diesen Leuten, die sich ständig meldeten, aber stets nur wiederholten, was ihr Vorredner bereits gesagt hatte. Wie oft tuschelte es dann „Muss der wieder seinen Senf dazu geben!“ durch die Klasse? Damals litt Maxim noch unter seinen Namen. Inzwischen füllte er ihn mit Ehre und Inbrunst aus.

Samstag, 6. Dezember 2008

Kapitel 1.1

Maxim Senff fuhr mit seinem undefinierbar blauen Kleinwagen auf den Parkplatz des Landesamtes für Bodendenkmalpflege. Grimmig musste er feststellen, dass einer der Wichtigtuer, die im Amt mit einem kurzfristigen Zeitvertrag angestellt waren, seinen Lieblingsparkplatz unter der Linde blockiert hatte. Er stellte seinen Wagen daneben, stieg aus, kramte sein zerwetztes Aktenköfferchen aus dem Kofferraum und lief über den Parkplatz zum Schloss, in dem er residierte.
Der alt aussehende Mann trug seine fisseligen Haare noch immer fast schulterlang. Heimtückisch schlurfte er zur schweren, sich nach außen öffnenden Eingangstür des Schlosses. Auch von Ferne war er an seinem Markenzeichen gut zu erkennen, hatte er sich doch wie stets seinen roten Lieblingsschal um den in den letzten Jahren aufgequollenen Hals gepackt. Wie jeden Morgen würdigte der verhärmte Dr. habil. das Backsteinschlösschen mit seinen verdrehten Schornsteinen und dem brüchig gemauerten Landeswappen keines Blickes.
Bald ist es hiermit vorbei, dachte er grinsend bei sich, als er vor der Tür stand, es war schön, aber die Karriere geht weiter. Er war sich doch seit jeher so sicher gewesen, zu höherem bestimmt zu sein. Er befingerte das Codeschloss an der Eingangstür. Niemand verstand, auf welcher Grundlage er die Kombinationen für das Schloss auswählte. Diesen Monat war es das Erscheinungsjahr seiner Dissertation, die 1 dann die 9 dann noch mal die 9 und zuletzt die 3. So. Das grüne Licht leuchtete, der Mechanismus brummte krächzend. Senff öffnete die Tür und stolperte in den Flur.
So baufällig das Schloss auch war, es gefiel ihm trotz der quietschenden Türen, der schwammigen Tapeten mit vergilbten Wölkchen vor ehemals blauen Himmelchen und den unangenehmen Fluren mit ihren verfilzten, aber abgetretenen Teppichen. Senff schlurfte über den Flur des Erdgeschosses, meist standen die Türen der Büros hier offen, leicht schieläugig kontrollierte er bei diesem Gang sogleich, wer bereits zur Arbeit erschienen war. Wer schon am Arbeitsplatz saß, war dringend angehalten, den Amtsleiter Senff zu grüßen, bevor der das als erster tat. Wer in diesen Momenten nicht darauf achtete, dass das große Tier an seinem Büro vorbei schlich, musste sich darauf einstellen, den Morgen nicht allein mit einem gehörigen Anschiss zu beginnen, sondern auch den Wochenrest mit allerlei Fronarbeiten zu verbringen. Heute war es anders. Es war der letzte normale Arbeitstag von Dr. habil. Maxim Senff.
Im ersten Büro, an dem er vorbeikam, hockte der kleinbebrillte Matthias Spasst. Der aufgrund seiner klassisch-archäologischen Ausbildung notorisch fehlbesetzte Wasserträger krümmte sich wie üblich vor dem Bildschirm seines Computers. Matthias verbrachte an dem Gerät die meiste Arbeitszeit, um es mit Daten zu füttern oder neue Namen in sittenwidrige Knebelverträge einzutragen. Er war ein typisch deutscher Vertreter der skrupellosen Schreibtischtäter. Wer mit ihm zu tun hatte, wusste, dass Spasst siebzig Jahre zuvor gewiss eine glanzvolle Karriere bei dem Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der Schutzstaffel gemacht hätte, wenn er nicht zu religiös gewesen wäre. Heute gab er mit dem Intellekt einer Ameise und dem Verständnis einer Zuse 3 weitere Myriaden von Zahlenkolonnen in Excel-Tabellen ein.
„Guten Morgen, Maxim!“, sprang Matthias auf, als er seinen Chef in der Tür erblickte, der schon ein Büro weiter geschritten war, bevor er ein blasses „Morgen“ erwiderte. So wichtig es Maxim war, dass nicht er die Leute zuerst zu grüßen hatte, so selbstverständlich war es ihm, wenn sie es taten.
Im nächsten Büro saß Osiw Racled, ein russischstämmiger Schweizer, den es aus privaten Gründen nach Deutschland verschlagen hatte. Racled arbeitete bereits seit mehreren Jahren in dem Amt. Er war zuständig für die Inventarisierung und Prüfung der Meldeformulare. Entdeckte er, dass Informationen fehlten, reichte er die Unterlagen weiter. Nie wäre es ihm in den Kopf gekommen, selbst Informationen zu ermitteln. Erst im letzten Monat hatte es Osiw geschafft, ein begehrtes Büro im Erdgeschoss zu ergattern. Vorher war er dazu verdammt gewesen, in einem Kabuff in den trocken-staubigen Kellergewölben des Schlosses zu arbeiten. Nun wurde endlich auch sein Arbeitsplatz von natürlichem Tageslicht erhellt. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm „Morgen, Herr Doktor Senff!“ zu rufen, bevor dieser mit gesenkten Augenbrauen einhakte mit einem „Morgen! Ist die Akte Ferment schon rausgeschickt?“
„Die liegt bei Müller!“, gelang es Racled sich herauszureden. Senff nickte stumm und ging in seinem federnd-schlurfenden Schritt weiter. Mehrere Büros und Besprechungszimmer im Erdgeschoss standen noch leer, erst im letzten Raum vor der Treppe saß Volkmar Keulenkotz, eine teetrinkende Schwatzdrossel, dessen Arbeitsleistung niemandem wirklich klar waren. Obwohl er mehr oder weniger regelmäßig einen Einlauf verpasst bekam, ließ Senff ihn gewähren.
Senff stierte in das Büro, Keulenkotz saß kerzengerade vor seinem Computer und spielte Solitär.
„Morgen Keulenkotz“, motzte Senff.
„Morgen Herr Doktor Senff“, speichelte Keulenkotz und bemühte sich, das digitale Kartenspiel zu verbergen.
Doch so einfach machte es Senff sich nicht. Er blickte kurz im Büro umher und blinzelte zornig: „Was soll das eigentlich hier?“
„Was?“
„Na, der Mülleimer!“
Keulenkotz blickte verwirrt.
Mit gedrückter Stimme schimpfte Senff: „Der ist doch viel zu groß! Ich habe mich gerade gestern bei den Rotariern mit Staatssekretär Doktor Lange darüber unterhalten, was in Ämtern alles verschwendet wird.“
Keulenkotz wusste weiterhin nicht, worauf der Chef hinauswollte.
Senff kläffte jetzt gedämpft: „Jetzt stellen Sie sich mal vor, Doktor Lange kommt hierhin zu Besuch. Wenn der sieht, was Sie für einen großen Mülleimer haben, dann denkt der doch, Sie produzieren nur Müll!“
Keulenkotz machte große Augen.
„Jetzt entsorgen Sie diesen Mülleimer und bestellen Sie sich in der Arbeitsmittelbeschaffungsstelle einen neuen Mülleimer. Aber einen kleinen!“, hängte Senff mit Nachdruck an seinen Satz. Senff ging aus dem Büro und lief zur Treppe.
Nachdem Senff die Treppe hinaufgestiegen war, ging er rechts um die Ecke und gelangte in das Vorzimmer von Amelie Scheckow, seiner Sekretärin.
„Guten Morgen, Herr Direktor!“
„Morgen, Frau Scheckow. – Sie können gleich der Jensen Bescheid geben. Sie kann die Dias wieder abholen.“
„Ist der Luftbild-Vortrag nach ihren Wünschen verlaufen, Herr Direktor?“
„Naja, wenigstens stand kein Dia auf dem Kopf, obwohl die Hornochsen bei den Rotariern es sowieso nicht gemerkt hätten. Nächstes Jahr muss Robert –“, er hielt inne, ihm wurde bewusst, dass es höchstwahrscheinlich kein nächstes Jahr mehr geben sollte, in dem er irgendwelche Arbeit an Robert Plankenreiter delegieren konnte. „Es ist schon gut, Frau Scheckow, sagen Sie ihr nur Bescheid“, beendete er das Geplänkel und freute sich über seinen nächsten Karriereschritt hin zum Kultusministerium.
Schulterzuckend drehte er sich um und öffnete die schwere Flügeltür zu seinem Büro. Im Gegensatz zu den verkommenen Büros seiner Angestellten hatte er stets darauf bestanden, dass sein eigenes Büro anständig renoviert und eingerichtet war. Daher residierte er in einem Turmzimmer mit einem überdimensionalem Feldherrenschreibtisch aus massiver Eiche, einer edlen, noch von seinem Vorgänger übernommenen Holzvertäfelung und zahlreichen Bücherregalen, die gefüllt waren mit all den gedruckten Schenkungen, die ein Wissenschaftlerleben so begleitet. Er legte seine Tasche auf den Schreibtisch, schritt zu dem Schrank, in dem sich seine private Garderobe befand und hakelte zwei Kleiderbügel heraus.
Er zog Mantel, Schal und Sakko aus und hängte das Ensemble auf die Bügel, die er im Schrank verstaute. Auf der Innenseite der Schranktür hing ein halbhoher Spiegel. Einen Moment stellte er sich leicht gekniet davor, um seine Haare zu richten, dazu zog er aus der linken Gesäßtasche seinen Kamm. Kaum hatte er die kümmerlichen Reste dessen, was er früher selbst so gerne als Mähne angesehen hatte, über den Kopf gefurcht, da fielen ihm im Spiegelbild zwei unschöne Details auf.
Auf seiner sprungschanzenartigen Nase hatte sich wieder ein dicker Pickel gebildet. Maxim konnte machen, was er wollte, den Pickel zu verhindern war er seit seinem 12. Lebensjahr nicht imstande. Allerdings hatte er es irgendwie geschafft, damit leben zu können. Wesentlich peinlicher war ihm dagegen der andere ä-Punkt der Kreation Senff. Es war der tägliche Fleck, der sich morgens bei der erstbesten Gelegenheit auf seinem Hemd oder seiner Jacke bildete.
Mal war es ein Tropfen Kaffee, mal war es Milch. War es gestern noch Rotwein, der die gebundene Fliege verunzierte, konnten es heute Spritzer vom frühstücklichem Spiegelei oder morgen auch Marmelade sein. Die eine Woche trug er Zahnpasta auf seinem Hemd, in der Woche zuvor war es noch Senf, ausgerechnet. Damals, als er Leiter der Abteilung Sonderprojekte im Osten war und oft genug ehemalige LPG-Gebäude abklappern musste, zog er mit seiner schwarzen Sportjacke automatisch Kalkreste von den ungepflegten Wänden an. Streifte er in einem weißen Segeltuchanzug durch die Landschaft, so dauerte es keine Minute, und ein Ölfleck zierte das Ensemble.
Mit diesen Flecken verbrachte Senff seine innigsten, aber auch ärgerlichsten Momente, konnte er doch stundenlang an ihnen herumknibbeln und sich selbstvergessen mit dem erfolglosen Versuch beschäftigen, sie von den Textilien zu lösen. Besonders groß war dieser Drang stets an solchen Tagen, an denen sich die Presse angekündigt hatte, selbst in der Zeit, als es ihm bereits gelang, mit den Journalisten herumzuspringen wie ein Löwendompteur mit seinen Kätzchen.
Als er heute den Fleck auf seiner Fliege entdeckte, fluchte er stumm. Er wischte mit den Fingerrücken ein paar Mal über den Fleck, ohne dass es irgendetwas brachte.
Er richtete sich wieder auf, schloss beidhändig den Schrank und stellte sich dann mit angewinkelten und auf die Hüften gestützte Arme vor eines seiner Bücherregale. Er schaute auf die Bücher, die er als angemessenen Tribut an seine gottgleichen Fähigkeiten ansah, und begann zu träumen.

Motto

Niemand kann sich beleidiget halten,
wenn man ihn abschildert wie er ist.
C. M. Wieland

Buchveröffentlichung

Ahoi!
Da ich die Faxen dicke habe und es mir einerseits zu mühevoll ist, den einen Verleger zu finden, der mein Buch drucken möchte, ich andererseits aber keine Lust habe, einem Books-on-Demand-Nepper Geld in den Rachen zu schmeißen, und man zuletzt weder mit der einen noch mit der anderen Möglichkeit wirklich Geld verdienen kann, habe ich einen Entschluss gefasst: Ich werde den „Scherbenhaufen“, meinen Roman über Ost und West, die Gesellschaft im Deutschland der letzten zwei Jahrzehnte, Parvenustreben und Speichelleckereien im Allgemeinen und Besonderen, das verstopfte und kranke System der Wissenschaft und nicht zuletzt über die Archäologie nach und nach hier veröffentlichen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Und ab jetzt: Viel Spaß.