Freitag, 30. Januar 2009

Kapitel 7.3

Voll ausgestattete, überkünstliche, vollverklinkerte Studioküche, auf dem ersten Blick ist erkennbar, dass wenigstens dreiviertel der Kochausstattung für den Betrieb weder geeignet noch zugelassen sind.
Stimme aus dem Off: Wir begrüßen Sie herzlich zu einer neuen Folge von KOCH-CHEEEN MIT LAI-CHEEEN!
(Eine etwa endvierzigjährige, leicht übergewichtige Ursula Laichen mit einer Doris-Day-Frisur für Dicke betritt mit der Kinderausgabe einer weißen Schürze die Bühne.)
Laichen:
Guten Abend, guten Abend!
(Pause für Band-Applaus)
Laichen:
Ich begrüße Sie auch heute Abend wieder zu einer neuen Ausgabe von Kochen mit Laichen. Meine Name ist Ursula Laichen und ich freue mich, auch heute wieder mit Ihnen zusammen kochen zu dürfen.
(Blickt nichtssagend in die drei Windrichtungen des imaginären Publikums, das fleißig vom Band jubelt)
Laichen:
Heute kochen wir eine besondere Spezialität aus der Heimat meiner Großmutter, also auch meiner eigenen Heimat, heute kochen wir pommersche Tollatschen. Da sage ich nur – mmmh!
(Streichelt sich mit der Linken den Kugelbauch, während sie die rechte Hand zur Arschlochgeste hebt und sie im Verbund mit ihrem Körper von rechts nach links bewegt)
Laichen:
Dazu hab ich schon mal ein paar Sachen vorbereitet.
(Geht erst rückwärts, dann seitlich schreitend zur Arbeitsplatte und baut sich dahinter auf; Arbeitsplatte steht voll mit Schüsseln und Tellerchen mit Zutaten, auf die Ursula im folgenden jeweils mit dem Finger weist)
Laichen:
Für eine ordentliche Portion Tollatschen brauchen wir ein Kilogramm Mehl, da nehmen wir am besten Weißmehl, dazu zweihundertfünfzig Gramm Semmelbrösel, wenigstens vierhundert Gramm Zucker ...
(Grinst)
Laichen:
... wenn Sie ein kleines Schleckermäulchen zu Hause haben, tun Sie ruhig etwas mehr hinein, das schadet dem Geschmack überhaupt nicht! Höchstens dem Gewicht, haha! Außerdem brauchen wir zirka vier Teelöffel Salz, je einhundertsechzig Gramm Korinthen und Rosinen, zur Not können Sie auch einfach nur Rosinen nehmen, in der Mischung schmeckt's mir aber immer am besten. Dann brauchen wir noch die geriebene Schale einer halben Zitrone. Für den Geschmack sind die Gewürze enorm wichtig, dazu nehmen wir je eine Prise Anis, Kardamom, Zimt und Thymian.
(Hebt nacheinander vier einzelne Schälchen in die Höhe)
Laichen:
Außerdem sollten wir natürlich nicht den Geschmacksträger vergessen, das sind bei den Tollatschen zweihundert Gramm weiches, und das ist ganz wichtig, sonst gelingt der Teig nicht, weiches Griebenschmalz.
(Nun nimmt sie eine weiße Porzellanschüssel mit einer schwarzroten, dünnflüssigen Creme, hebt und kippt sie leicht in die Kamera)
Laichen:
Und als letzte Zutat darf natürlich nicht der halbe Liter Schweineblut fehlen.
(Setzt die Schüssel ab und weist mit der Rechten nach links auf einen großen Topf)
Laichen:
Zum Schluss brauchen wir nur noch etwa zwei Liter Fleischbrühe. Wenn Sie sie nicht selber auskochen wollen, können Sie ruhig Instant-Brühen verwenden, das reicht für unsere Zwecke vollkommen aus, schließlich brauchen wir die Brühe nur, um die Tollatschen darin garen zu lassen. (Kurze Pause) Wenn Sie die Zutaten jetzt nicht so schnell notieren konnten, können Sie sie zusammen mit der Zubereitung auch von unserer Videotextseite fünfhundertfünfundfünfzig abschreiben.
Laichen (lächelt in die Kamera): Jetzt machen wir erst mal eine kleine Werbepause, in der ich schon mal die Töpfe bereitstelle, und danach fangen wir gleich mit dem Kochen an.
Doofe Werbung.
Laichen (lächelt):
Hier sind wir wieder bei Kochen mit Laichen. Für die Zuschauer, die sich gerade erst eingeschaltet haben, möchte ich kurz sagen, was wir heute kochen. Es sind pommersche Tollatschen, die sind so lecker, die werden eines Tages das Land regieren. (Leckt sich das Maul, krampft die Mundwinkel zur Studiodecke und zuckt erheitert mit dem Kopf)
Laichen:
Zuerst müssen wir die Fleischbrühe erhitzen, damit wir nachher die Tollatschen darin garen können (weist auf einen bereits dampfenden Topf zur Linken). So, und für den Teig hab ich hier schon mal eine Schüssel vorbereitet, da geben wir nun das Mehl, die Semmelbrösel und den Zucker hinein. (Kippt die Zutaten in Rührschüssel, greift sich einen Kochlöffel und pampt die ersten Inhalte zusammen).
Laichen:
Das vermischen wir und geben gleich die Korinthen (Pause während des Auffüllens), Rosinen (Pause während des Auffüllens) und die (Pause, nimmt sich nach und nach die Gewürzschälchen) Gewürze hinzu. (Rührt weiter)
Laichen:
Wenn die Rosinen gut im Teig verteilt sind, nehmen wir das weiche Griebenschmalz (rührt mit rechts, greift mit links über Kreuz die Schmalzschale und lässt das Schmalz in die Schüssel ploppen) und zuletzt – das – Schwei- (rühr) -ne- (rühr) -blut. (Rührührühr)
Laichen (rührt kräftig weiter, glotzt dabei in die Kamera):
Das Schweineblut ist heutzutage wahrscheinlich am schwersten zu bekommen – wir haben ja früher immer noch Hausschlachtungen gemacht (blickt leicht verträumt) – heute wenden Sie sich dazu am besten an Ihren Schlachter, damit Sie es frisch bekommen, Sie sollten es aber auf jeden Fall rechtzeitig bestellen.
Laichen (nach weiteren Rührkreisen mit dem Löffel): Jetzt hat der Teig die richtige Konsistenz. Sollte er etwas zu weich sein, können Sie auch noch etwas Mehl hinzugeben. Wenn er aber richtig fest ist (greift knetend in die Schüssel und ächzt beim Handkneten kaum hörbar), dann können wir die Masse kneten. (Greift jetzt auch mit der anderen Hand in die Schüssel, knetet den Teig, bis er sich zu einer überdimensionalen, blutigen Mehlamöbe gewandelt hat, nimmt ihn aus der Schüssel, stellt die Schüssel zur Seite und klatscht den Teig auf die Arbeitsplatte)
Laichen:
Jetzt ist der Teig so weit, dass wir daraus Klöße formen können (pult ein Stück ab und rollt es in beiden Händen zu einer flachen Kugel) die machen Sie am besten etwa so groß wie Schafhoden, sag ich immer zu meinem Mann. (Grinst imbezil in die Linse der Kamera)
Laichen (packt den künstlichen Schweinebluthoden auf die Teigamöbe, schiebt Teig und Schüsseln beiseite, dreht sich um und zaubert eine Silberplatte mit etwa vierzig gestapelten Tollatschen aus einem Fach auf der dem Zuschauer abgewandten Seite der Kochinsel und packt sie auf die Arbeitsplatte): Ich hab natürlich schon welche vorbereitet. Inzwischen müsste die Fleischbrühe bereits heiß genug sein, damit wir die Tollatschen darin garen können. (Lässt ein paar pferdeapfelartige Klopse in die Brühe plumpsen.) Hier in der Brühe müssen die Tollatschen schließlich etwa 20 Minuten gegart werden, danach können wir sie herausnehmen.
Laichen (stellt die Platte weg, dreht sich nach hinten und zaubert eine andere Silberplatte mit fertig gegarten Tollatschen in das glasige Auge des Zuschauers): Das machen Sie am besten mit einer Siebkelle. (Beugt sich vor, winkt plötzlich mit einer hinter ihrem Rücken hervorgezogenen Siebkelle und grinst noch debiler als je zuvor in die Kamera. Ihre Locken reichen so weit in die Mundwinkel, dass man sieht, dass die Haarspitzen vom Sabber feucht werden.) Sie können die Tollatschen gleich heiß Ihren Lieben servieren, Sie können Sie aber auch abkühlen lassen und in einer kräftigen Portion Schmalz anbraten. Dazu schneiden Sie die abgekühlten Tollatschen am besten noch einmal in fingerdicke Scheiben und servieren Sie zusammen mit gebratenen Apfelscheiben. So, das war's für heute. Ich hoffe, es hat Ihnen so gut geschmeckt wie mir! Morgen machen wir übrigens kandierten Gelbflossenthun in Aspik mit eingefärbtem Pflaumenmus ...
(das Rauschebild versinkt in Mattscheibenschnee)

Dienstag, 27. Januar 2009

Kapitel 7.2

Bei den meisten Mittagspausen teilte sich das Team schlicht in Raucher und Nichtraucher, denn so konnten die Raucher der jedem Nichtraucher völlig unverständlich bleibenden Gewohnheit frönen, noch während des Essens zu quarzen.
Sylvia, Marion, Wernher und Hans, der das Rauchen erst kurz zuvor aufgegeben hatte, saßen üblicherweise dicht gedrängt mit mir im qualmfreien Chefwagen. Zumindest die erste Zeit gesellte sich auch der bindehautempfindliche Jan zu uns. Als er später mitbekam, dass die Raucher nach dem Essen Karten spielten, trollte er sich ab und zu in den Raucherwagen zu Dieter, Stefan und Jonas. Dazu verabschiedete er sich gewöhnlich von uns mit einem „Ich geh dann mal zu den Jungs.“ Seine Augen konnten von der vollgequarzten Luft einfach nicht so rot werden, dass er die Spiellust verlor. Sein Ego war in dieser Hinsicht das größere Problem, wie ich später noch erfahren sollte.
Oft schrieb ich noch an den Beschreibungen irgendwelcher Befunde, wenn die fünf Nichtraucher zu mir in den Bauwagen kamen. Aus mir unbekannten Gründen setzte sich Marion meist neben mich und zeigte dabei eine ähnliche Stürmermentalität, wie ich sie bereits bei ihrer Vorstellung am ersten Tag an ihr beobachtet hatte. Jetzt gab es mit dem Futter aber immerhin einen Grund. Sie keilte mich in eine Ecke ein, aus der es kein Entrinnen gab, und beließ mir die appetitliche Möglichkeit, täglich zwei neue Eiterpusteln in ihrem angestrengt blickenden Gesicht entdecken zu können.
Bevor nun das große Fressen begann, kramten alle irgendwelche Taschen, Töpfchen und Dosen mit belegten Broten, Würste, Obst, Gemüse und Joghurts hervor, mit denen sie eifrig Zeugnis von der Konfession ihrer Bäuche ablegten.
Eines besonders schlimmen Tages angelte Wernher eine Banane hervor, die nicht mehr braun gefleckt, sondern schwarz und außen bereits matschig war. Jan, der schon Gänsehaut und Ausschlag bekam, wenn jemand eingelegte Tomaten aß, bekotzte sich fast.
„Die willst du doch wohl nicht mehr essen, oder?“
„Aber natürlich will ick det. Wat denkst’n du? Außerdem schmeckt ’ne Tropenwurst nur so richtich jut.“
Jan streckte angewidert die kurze Zunge raus, Wernher setzte ein feistes Katerlächeln auf und drehte sich strahlend zu Hans, „Wa, Hans? Du weeßt det ooch, du hast doch selber Bananen jefahrn, Towarisch, früher, zu Ostzeiten.“
Hans riss mit seinen Zähnen angestrengt Stücke aus einem lappigen Brötchen, in das er ein polnisches Würstchen gequetscht hatte, und nickte.
„Du hast Bananen gefahren?“, fragte ich kauend.
„Ja! Das war ganz toll“, begeisterte Hans sich schmatzend, „Die Funktionäre sind nämlich davon ausgegangen, dass wir Spediteure von solchen Fuhren was mitgehen lassen würden, deshalb haben wir von vornherein gleich eine Kiste mitbekommen. Meine Mutter und ich haben jedenfalls immer Bananen zu stehen gehabt. Immer.“
„Das stimmt, Hänschen“, bestätigte Sylvia und löffelte in ihrem Joghurt.
„Es war sowieso nich alles so schlecht, wie sie heute schreien. Weißt du“, erklärte er mir, „unser Klopapier war so gut, dass ich mein letztes DDR-Geld nicht umgetauscht habe, sondern drei Paletten Klopapier gekauft habe.“
„Drei Paletten?“, fragte ich und Jan hakte nach: „Mensch Hans, du hast wohl noch kein gutes dreilagiges Papier benutzt, was?“
Hans schüttelte den Kopf „Das brauch ich auch nicht, ich weiß, was gut ist.“
„Na, quod erum demonstrandum“, mit einem besonders schnippischen Ton versuchte Jan vergeblich mit seinem sehr kleinen Latinum anzugeben.
Jetzt legte Hans sein Wurstbrot ab, seine Mundwinkel fielen nach unten: „Weißt du, Jan, heute geht’s so vielen so beschissen hier im Osten, und keiner beschwert sich. Und früher haben’se sich beschwert, weil die Kartoffeln zu klein waren. Die Kartoffeln!“ Er zeigte mit Zeigefinger und Daumen, wie klein die Kartoffeln gewesen sein sollen und schüttelte den Kopf, „und das wird uns noch viel schlechter gehen! Wart ma ab!“
Wernher stimmte mit ein: „Da haste recht, Hans, weeßte, ick war ja Fahrlehrer, und mir jing det immer jut. Ick hatt ja zwee Trabis, een Wartburg und stand schon uff die Liste für den nächstn. Den hättick letztet Jahr kriejn solln.“
„Als 78/79 der harte Winter war, da haben’se sich beschwert, dass die Sahne nicht pünktlich geliefert wurde. Dabei sind nicht mal die Panzer von der NVA im Schnee durchgekommen. Wofür sind’se jetz auf die Straße gegangen? Nur für die D-Mark, für sonst nüscht.“ Er drehte sich zu Sylvia: „Was hamse mich beschimpft, damals, ham geschrien, du willst uns doch bloß die schöne Demaak kaputtmachn!“ Dann galt seine Rede wieder allen: „Und heute? Da kriegen’se das Maul nich auf. Diese ganzen Bündnisneunzich-Idioten waren doch früher schon alles Querköppe, die immer nur Stunk gemacht haben. Die hätten lieber zu euch rübermachen sollen, denn wär’n wa se losgeworden.“
„Komm Hans, beruhig dich mal“, beschwichtigte Sylvia den sich langsam in Rage redenden Hans, „trink erst ma ’n Schluck Limmo. Du trinkst viel zu wenig.“
„Ich brauch auch nich mehr, Sylvia!“
„Stimmt, Hans, das hatte ich dich schon fragen wollen“, unterbrach ich, „trinkst du wirklich immer nur diesen einen Schluck Limo hier in der Mittagspause?“
„Morgens trink ich noch ’ne Tasse Kaffee und abends noch ’n Glas Limo, aber so lange das so frisch draußen bleibt, reicht mir das.“
Sylvia lachte: „Wenn die Sonne erst mal scheint, denn trinkt das Hänschen auch mal so eine ganze Nullkommafümf-Liter-Flasche Polen-Cola am Tag.“
„Ist das nicht ein bisschen wenig?“
„Nee, das reicht mir. Hauptsache, ich hab meine Wurst.“
„Du isst gerne Fleisch, nicht wahr?“, fragte ich.
„Ja!“ Hans’ Augen wurden groß und sein Kopf nickte nachdrücklich.
„Dann sollteste mal zum Jugoslawen gehen. Da gibt’s immer ordentliche Fleischberge. Oder probier mal Ćevapčići. Die müssten dir schmecken.“
„Du solltest aber auch wirklich mal ’n bisschen Salat essen, Hänschen“, ermahnte Sylvia.
„Du weißt doch, dass ich davon Magengrimmen kriege“, er rieb sich den Bauch, um zu erklären, wo der Salat beißt, „son Grünfutter vertrag ich einfach nicht. Denn lieber son Stück Käse wie Marion hier.“
Marion futterte nämlich derweil für sich hin. Sie hatte sich als Vorspeise wie an den meisten Tagen mehrere armdick geschnittene Käsebalken mitgebracht, die wie von einer Plât de Gouda für Riesen wirkten. Bevor sie die barrenförmigen Milchprodukte mit hapsenden Geräuschen versaugschluckte, bedurfte es jedoch eines Schmiermittels, daher schmückte sie jeden einzelnen Käsebalken mit dem Inhalt je eines Pakets Sour Cream.
„Ich hab letztes Jahr in meiner Wohnung selber Käse gemacht“, verkündete Jan stolz. „Zwanzig Liter Rohmilch hab ich gebraucht, und es ist trotzdem nur ein kleiner Käselaib herausgekommen.“
„Hast du denn eine Form gehabt, um den Bruch zu pressen?“, erkundigte ich mich.
„Dafür hab ich einfach ’n PVC-Rohr genommen. Son Stück wie für ’n Regenrohr. Das war eine Sauerei, kann ich euch sagen! Unsere ganze Küche hat sich in eine Tropfsteinhöhle verwandelt. Überall lief die Suppe von den Wänden. Meine Frau fand das gar nicht lustig, schließlich ist sogar ein Monitor kaputt gegangen“, freute sich der untersetzte Arbeiter.
Wernher aß nun eine Tomate und wechselte das Thema: „Sach ma, Hans, wennde Bananentransporter jefahrn biss, haste den Führerschein eijentlich bei de N-V-A jemacht?“
„Ja natürlich, ich habe einen Raketentransporter gefahren.“
„Möönsch, det is ja nich waah!“ Wernher strahlte und tippte sich stolz auf die Brust: „Ick doch ooch! Sach ma, wo warste denn jewesen?“
„Och, hier und da, aber einmal, da sind wir zum Manöver nach Kasachstan gefahren.“
„Jo, nee, da bin ick nich hinjekommen. Aba ick bin mit Parade jefahn.“ Seine Stimme hob sich: „Vor die janz jroßen Herrn in Balin.“ Die Silben des letzten Satzes unterstrich er mit einem kräftigen Kopfnicken. „Weeßte, immer mit Klebestreifen an den Fenstern, damit wir die Transporter parallel halten und auch jaaa nich zu schnell fahn.“
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Pause im normalen Rahmen verlaufen. Plötzlich aber entpackte die heute über alle Maßnahmen erstaunlich schweigsame Marion neben mir aus ihrer Tasche einen klumpenförmigen, noch in Butterbrotpapier verpackten Haufen. Irgendwie erwartete ich bereits Furchtbares, konnte jedoch nicht ahnen, mit welchem Horror ich konfrontiert werden sollte. Der für ihren beständigen Hunger zu kleine Mund verzog sich zu dem hässlichen Grinsen eines bösartigen Clowns, ihr Kopf kippte leicht nach rechts, als sie die Ecken vom Papier mit ihren sich windenden Wurstfingern auseinanderklappte, und sich mir ein widerlich stinkendes Bild bot.
„Sind das nicht ... Tollatschen?“, fragte Sylvia.
„Potlatsch?“, fragte Jan erfreut zwischen. „Gibt’s Geschenke? ’n Potlatsch is doch ’n indianisches Fest, bei dem’s Geschenke gibt.“
Sylvia blickte etwas verdutzt: „Nein, Tollatschen.“
„Ge-enau!“, bestätigte Marion stolz. „Meine Oma aus P-pommern war nämlich gerade zu Besuch. D-daa hat sie uns gleich ganz viele pommersche Tollatschen frisch gemacht. Oh, ich l-l-liebe Tollatschen!“, holperte sie und steckte sich die ersten drei in den Mund, verschluckte sie im Gegensatz zu den Käsebalken jedoch nicht sofort, sondern zerbiss die blutigen Buletten mit sichtlichem Genuss. „Umpf vir ham ein riesengück gehabt, wei ummwa nachbaa krade schwei schweine geschachtet hat – der wuffte gar nich wohimm mip pem viehen buud.“
Ich bekam nicht nur große Augen, die sich mehr und mehr verdrehten, sondern muss auch leicht grün angelaufen sein. Sylvia fragte mich, ob ich Tollatschen kenne. Ich verneinte. Ich hatte zwar von meinen Großeltern das eine oder andere seltsame Gericht kennen gelernt, war auf Island so mutig gewesen, Hárkarl, und selbstgemachtes Hangikjöt zu verkosten, aber diese Tollatschen waren mir eindeutig zu viel. Als Sylvia mir dann auch noch erklärte, welche anderen Zutaten zu dem „geschmacklichen“ Grundbestandteil Blut gepanscht wurden, um dieses Etwas zu kreieren, war mir jeder Appetit endgültig vergangen. Ich versuchte an etwas Geschmackvolles zu denken, frittierte Maden, überbackene Rattenschwänze, irgendwas.
Richtig schlecht wurde mir jedoch erst, als Orka, wie auch ich sie seitdem nannte, während des Verschlingens der Blutklopse auch noch damit begann, intensiv vergoren stinkendes Blut auszurülpsen. Nun nutzte mir auch der Vorteil des Fensterplatzes nur wenig, ich kam einfach nicht aus der Bank, bevor die Pause zu Ende war. Vor meinem inneren Auge entstand die halluzinierte Horrorvision einer fetten Fernsehköchin, die live einen Berg Tollatschen zubereitet.

Montag, 26. Januar 2009

Kapitel 7.1

Nur bei wenigen Gelegenheiten wird die Einstellung der Menschen zu Umwelt und sich selbst so deutlich wie bei gemeinsamen Essen. Dies gilt in geringem Maße für Essen unter Freunden, in stärkerem Maße schon allgemein in Restaurants, Kneipen, Bistros und Imbissen. Und es gilt ganz besonders bei Arbeitsessen. Womöglich lag auch hierin ein Teil der Begründung für die Verweigerung von Maxim Senff, zusammen mit anderen zu speisen, obwohl in diesem Falle einzuräumen wäre, dass er selbst seinen Charakter als nicht vorzeigbar erkannt haben müsste.
Bei Arbeitsessen lässt man vor den Kollegen einfach die Hosen runter, ganz egal, ob jemand auf Schweinshaxe steht, ein anderer einen beinahe veganen Lebenswandel führt oder aber ein 250 kg schwerer Fleischberg seine Nahrungszufuhr in der Öffentlichkeit stets auf auffallend mikroskopische Mengen Kopfsalat beschränkt.
Die Situation verschärft sich wie durch ein Brennglas betrachtet, wenn man eben nicht schnell vom Arbeitsplatz zu Kantine oder Imbiss verschwinden kann, sondern in einer infrastrukturarmen Pampa arbeitet und sich seine Kalorien daher direkt von zu Hause mitbringen muss.

Sonntag, 25. Januar 2009

Kapitel 6.3

Marion hatte sich bei Senff und auch bei uns am ersten Arbeitstag ausdrücklich damit gebrüstet, eine erfahrene Zeichnerin zu sein. Sylvia, deren Befähigung ich in dieser Hinsicht immerhin bereits von dritter Seite kannte, hatte ich direkt zu den Zeichnungen des Planums und der Erstellung der arbeitstechnisch damit verbundenen Übersichtsplänen abkommandiert. Marion sollte daher die Zeichnung der Befundprofile übernehmen. Dabei handelt es sich nicht um eine übermäßig anstrengende oder gar komplizierte Arbeit, die dem Zeichner besondere intellektuelle Fähigkeiten abnötigt. Eigentlich ist schon dazu in der Lage, wer Zahlen lesen, einen Bleistift und einen Zollstock halten kann, der Rest ist vor allem Technik und Übung.
Daher dachte ich mir nicht wirklich viel dabei, als Dieter den ersten Befund geschnitten hatte und ich Marion darum bat, das Profil zu zeichnen. Ich ging zu ihr, drückte ihr die zweite Garnitur der Zeichenutensilien in die Hand und sagte: „Dieter hat die Eins fertig. Zeichnest du mal eben das Profil?“
Zum Glück behielt ich für mich, dass es ein besonders einfacher Befund war, lediglich eine noch nicht einmal besonders alte Steinstandspur, die ich vor allem deswegen bearbeitet und dokumentiert haben wollte, um die Arbeiter an den Boden zu gewöhnen und die Arbeitsabläufe des Teams beobachten zu können, ohne dass es gleich um einen wichtigen Befund geht. Doch kaum hatte ich Marion erstmals darum gebeten, mir etwas vorzuzeichnen, da ruderte sie zu meiner Überraschung augenblicklich zurück: „I-ich hab aber sch-schon länger nicht mehr gezeichnet. Kann D-dieter mir nicht dabei helfen? Ich h-hab ihn auch schon gefragt und er hat j-ja gesagt.“
Ich war zwar verwundert, hatte jedoch so viel Vertrauen, dass ich ihre Arbeit nicht blockieren wollte. Außerdem hatte die Grabung gerade erst angefangen, wir besaßen noch relativ viel Zeit. Also nickte ich und lief zu Dieter, der schon dabei war, den nächsten Befund zu schneiden.
„Dieter? Kannst du Marion mal helfen, die Profilzeichnung zu machen?“
„Ja, natürlich kann ich Orka helfen.“
Ich glaube, das war das erste Mal, dass ich auf der Fläche ihren Spitznamen hörte. Wahrscheinlich war ich auch der letzte vor ihr selbst gewesen, der ihn erfuhr. Erst als sie in der dritten oder vierten Woche mit spitzen Ohren gehört hatte, dass die anderen von ihr als Orka sprachen, hatte Jan es ihr auf Nachfrage hin erklärt. Dabei war es angesichts ihrer Körperfigur wirklich nicht schwer, die Herkunft des Spitznamens zu ergründen.
Dieter fasste sich auf die Brusttasche seines Blaumanns: „Ich hab aber meine Brille nicht dabei. Aber ich kann ihr ja sagen, was sie machen soll.“ Danach sprang er mit weiten Schritten zu Marion, wo beide damit begannen, sich am Profil einzurichten.
In der Zwischenzeit lief ich über die Grabungsfläche. Jonas war zusammen mit Wernher damit beschäftigt, ein Raster über die bereits fertig gebaggerte Fläche zu legen. Dazu pflockten sie Quadranten mit einer Seitenlänge von zehn Metern aus. Die Entfernung zwischen den Pflöcken ermittelten sie mit einem Maßband, den orthogonalen Winkel schlugen sie mit dem Nivelliergerät.
Von Dieter ging ich zuerst zu Hans und Sylvia, die die meiste Zeit gemeinsam arbeiteten. Hans kratzte das Planum mit einem Gerät, das gewöhnlich bei der Dezimierung von Unkraut verwendet wird. So entfernte er den locker über Planum und Befunde hinweggewehten Boden. Hans wirkte bei dieser Arbeit wie ein buddhistischer Mönch, der seinen Zen-Garten bestellt. Völlig in sich selbst versunken schabte er ruhig vor sich hin. Ab und zu legte er den Kratzer zur Seite und nahm eine Schaufel in die Hand, um Bodenkanten zu entfernern, die der nur wenig begabte Stefan beim Baggern hinterlassen hatte.
Unmittelbar hinter Hans arbeitete Sylvia, legte sich ihre Maßbänder von Pflock zu Pflock zurecht, klappte eine kleine Sammlung Zollstöcke – oder wie sie mich täglich belehrte: „Gliedermaßstäbe!“ – auseinander und verteilte sie an strategisch günstigen Punkten auf dem Quadranten, den sie gerade zeichnen wollte.
Ich plauderte kurz mit den beiden, unterhielt mich über das Amt, über andere Arbeiter, über Senff und erfuhr so manchen Tratsch, der in der kleinen Archäologenwelt des Bundeslandes kreiste. Da ich gerade bei mehreren im Planum hübsch frei gelegten Befunden stand, nahm ich mein kleines Buch in die Hand, um mir Notizen über die Befunde zu machen. Sylvia war erschreckt; sie tat zwar leicht amüsiert, fragte aber ernsthaft, ob ich mir Notizen über die Arbeiter machte. Ich verneinte lachend und erklärte ihr, dass ich lediglich ein paar Daten über die Größe und Beschaffenheit der Befunde aufnehme. Ich zeigte ihr sogar meine schmierigen Skizzen. Sylvia war sichtlich beruhigt und erzählte mir bei dieser Gelegenheit, wie Senff sich kurz nach Amtsantritt die Überreste des ostdeutschen Spitzelsystems zunutze gemacht hatte. In Wernher hatte er beispielsweise einen Mann gesucht und gefunden, der ihm als Hinterträger dienen sollte. Senff war es schnell gelungen, ihn für diese Tätigkeit zu gewinnen. Der Archäologe führte einen anderen Arbeiter, der wegen einer ungünstigen Busanbindung wiederholt wenige Minuten zu spät kam, als schlechtes Beispiel an: „Wenn das jeder machen würde!“, regte Senff sich Wernher gegenüber auf: „Rechne doch mal die nicht geleisteten Stunden zusammen!“ Wernher fühlte sich geschmeichelt, Sonderbeauftragter des Chefs zu werden. Also verschaffte er dem Chef die gewünschten Informationen. Eine Zeit lang notierte Wernher sich fortan in einem kleinen Notizbuch die Zeiten jedes einzelnen Arbeiters. Diese Kontrolldaten ließ Senff mit den offiziellen Listen der Grabungsleiter vergleichen, dabei stellte er fest, dass beides nicht immer konform ging.
Pikant war bei der Angelegenheit jedoch, dass ausgerechnet Senffs Stunden von niemandem kontrolliert wurden. Die rechnete nämlich niemand anderer zusammen als er selbst, natürlich grundsätzlich zu seinen Gunsten. Dies wurde ihm dadurch ermöglicht, dass er nicht immer im Amt arbeiten, sondern auch viel unterwegs sein musste. Da das mit dieser Stelle zu betreuende Bundesland ein relativ großes Flächenland ist, war er zudem oft gezwungen, für die Touren von Grabung zu Grabung örtlich in Hotels oder – schlimmer! – in den abgewirtschaftete und angemieteten LPGs unterzukommen. Zum Ausgleich für diese Geringschätzung seiner eigentlichen Bedürfnisse nutzte er die auswärtige Arbeit dann allerdings zu ausgedehnten Schlaforgien. Nie kam er vor 10 Uhr aus dem Bett, eher sogar später. Aber es heißt schließlich nicht umsonst: Quod licet Iovi, non licet bovi.
Als Sylvia mir von Wernhers früherer Spionagetätigkeit erzählte, war ich entsetzt. Schon an der Uni war ich in direktem Kontakt mit Senff stets vorsichtig gewesen. Doch nach dieser Warnung blieb ich auch anderen gegenüber mit manchen Informationen sehr zurückhaltend. Ich achtete ziemlich genau darauf, wen ich was wissen ließ und was ich für mich behielt. Glücklicherweise kann ich im Nachhinein einräumen, dass ich ausgerechnet Wernher später noch als freundlichen Mann kennenlernte. Er war neben seinen Monatsverträgen bei dem Landesamt ehrenamtlich als Bodendenkmalpfleger beschäftigt, daher brachte er auf den Ausgrabungen neben dem grundsätzlichen Elan auch ein echtes Interesse für die Archäologie an den Tag. Das erleichterte die Arbeit mit ihm ungemein.
Nach der kurzen Plauderei mit Sylvia schlenderte ich zu Jan, der sich vor dem Bagger auf seine Schaufel lehnte. Hatte Stefan gerade wieder eine Bahn auf die Höhe des Befundhorizontes heruntergebaggert, schippte er lose Erde auf den Teil, den der Baggerfahrer noch nicht gebaggert hatte. Sah er einen Befund, kennzeichnete er dessen Umriss mittels der Schaufel oder einer Spitzkelle, die er auf der Grabungsfläche meist in der Gesäßtasche seiner Hose stecken hatte. Danach nahm er aus einem Eimer, der neben ihm stand, ein vorbereitetes Stück Flatterband und steckte es mit einem Nagel auf den Befund. Die Flatterbandstückchen hatten wir dazu im Bauwagen vorbereitet und mit einem wasserunlöslichen Filzstift durchnummeriert.
Es gibt eine ganze Reihe von Schabernack, den besonders lustige Zeitgenossen wochenends auf Ausgrabungen treiben. Dazu gehört der Spaß, die Befundzettel zu vertauschen. Glücklicherweise ahnen sie nicht, dass es in den meisten Fällen herzlich egal ist. Denn entweder sind die Befunde noch gar nicht aufgenommen, so dass jede Nummerierung sowieso noch fließend ist, oder sie sind bereits so weit aufgenommen, dass sie wieder problemlos identifiziert werden können. In dem Fall stört allein die verlorene Zeit.
Ich hatte mich gerade zu Jan gestellt, als er gegen den dröhnenden Lärm des Baggers schrie und mich unverblümt fragte: „Kann ich nächste Woche einen Rinderschädel mitbringen?“
Wahrscheinlich blickte ich ihn sehr merkwürdig an, denn er ließ kaum eine Sekunde verstreichen, da versuchte er zu erklären: „Ich hab von ’nem Bekannten son Rinderschädel bekommen. Da sind noch Fleisch und Haut drauf. Und hinten beim Soll hab ich beim Pinkeln ’nen Ameisenhaufen entdeckt. Da könnte ich den doch drauflegen, die nagen den dann ab und ich kann ihn mir an den Giebel von meinem Haus hängen.“
„Na, ich weiß nicht. Ist ’n bisschen eklig, wer weiß, was der alles anzieht. Da kommen doch alle möglichen Aasfresser“, wies ich ihn ab.
Jans Gesicht begann zu denken. In der Gesprächsruhe wirkte der Bagger mit seine Klonkgeräuschen nur umso lauter. Jan blickte kurz auf den Boden, plötzlich schrie er in das „uuuuuuuiiiiiii“ des Baggers: „Dann muss ich wohl doch son fertigen Kopf aus’em Schwarzwald holen.“
„Aus dem Schwarzwald?“, brüllte ich gegen das krrrrrrrallende Geräusch, mit dem sich der Bagger in den Boden fraß.
„Ja, da ist son Hof, auf dem ich mit meiner Frau schon ’n paar Mal Urlaub gemacht hab. Der Besitzer fährt immer nach Afrika, auf Großwildjagd. Der hat schon alles gejagt. Antilopen, Gazellen, Watussi-Rinder, Gnus, Warzenschweine. Alles. Die hat er dann auf eigene Kosten ausstopfen lassen oder so Trophäen für die Wand machen lassen und mit nach Deutschland gebracht. Der hat das ganze Haus voll mit irgendwelchen Jagdtrophäen. Vor dem Kamin im Wohnzimmer lag letztes Mal sogar ein Eisbärfell.“ Die Hydraulik machte „uiuiuiuiuiuiui“.
„Hübsch“, kommentierte ich mit. Die Ironie drückte ich allein mit dem Tonfall aus.
„Das ist doch toll! Und der verkauft die jetzt. Nicht alle, die besseren will er noch behalten, das kann ich auch verstehen. Aber da kriegt man sone Gazelle schon für fünfhundert Mark. Ich glaub, da werd ich mir das nächste Mal ein paar mitnehmen.“
Ich schwieg vielsagend. Der Bagger leerte mit einem lauten „KLONK-KLONK“ seine Schaufel über dem Abraum.
„Noch besser wär’s natürlich, mal selber auf Großwildjagd zu gehen. Ich schieß ja mit dem Bogen. Weißt du, instinktives Bogenschießen.“ Er hielt mit seiner linken Hand die Schaufel, als sei ihr Stiel ein Langbogen und pantomierte mit der rechten Hand und zwei Krallenfingern die Zugbewegung eines Bogenschützen. Ich hatte nur wenig Interesse daran, mir instinktives Bogenschießen erklären zu lassen, und fragte daher gar nicht erst nach. Jan jedoch nutzte die Gunst, sein Wissen wie ein abgegriffenes Klebebildchenalbum vor mir auszubreiten.
„Ich fahr an den Wochenenden ja immer zum Bogenschießen. Warte“, er kramte seine Brieftasche aus der Gesäßtasche, klappte sie auf und richtig, „hier hab ich ja sogar ein paar Fotos. Da ist dann son Weg vorgegeben und von bestimmten Stellen muss man dann auf Plastetiere schießen. Hier war zum Beispiel auf der anderen Seite eines Tales, das war bestimmt, uhm, einhundert Meter breit, da war auf der anderen Seite ein Plastebison. Da musste man dann über Bäume rüberschießen, das Bison konnte man gar nicht sehen, und ich hab getroffen. Das ist dann instinktives Bogenschießen.“
Ich runzelte die Stirn.
„Auf echte Jagd darf man mit dem Bogen hier ja leider nicht gehen. In Rumänien ist das aber erlaubt. Von den Wettbewerben kenn ich ein paar Schützen, die fahr’n ein paar Mal im Jahr nach Rumänien und schießen da Rehe und Hirsche. Da darf man das.“ Seine Augen glänzten verträumt.
Ich wandte mich ab und drehte meinen Kopf zu dem Befund, den Marion zusammen mit Dieter zeichnen wollte. Jan schaute in dieselbe Richtung und wirkte verblüfft.
„Die sitzt ja schon ’ne Stunde an dem Profil. Ich denk, die hat schon mal gezeichnet?“
„Hat’se zumindest gesagt“, schüttelte ich den Kopf. Wir sahen, wie Marion vor dem Befund thronte. Ihre Beine steckten in der flachen Grube, die für das knapp einen halben Meter breite Profil ausgehoben war, das Zeichenbrett ruhte auf ihren überdimensionierten Oberschenkeln. Dieter hielt einen Zollstock in der Hand und sprang wie ein Eichhörnchen mit einer Überdosis Koffein von Marion zum Profil und zurück, um ihr auf dem Zeichenbrett so viele Hinweise geben zu können, wie er ohne Brille vermochte.
„Ich kuck mir mal an, was die da veranstalten“, sagte ich und ließ Jan am Bagger. Da ich bereits Allerschlimmstes fürchtete, trottete ich entsprechend langsam zu dem Zeichenduo infernale. Die Unvermeidlichkeit des Unglücks wurde mir langsam klar, dennoch wollte ich es so lange wie möglich von mir fern halten. Kaum war ich angekommen, war nicht mehr zu leugnen, dass auch die übelste Ahnung noch weit übertroffen wurde. Als ich mich neben die Möchtegernkünstlerin kniete und die Graphitkatastrophe erblickte, merkte Marion sofort, dass ihre Zeichnung nicht nur nicht die beste war, sondern bei weitem nicht meinen Erwartungen entsprach. Sofort entschuldigte sie sich, das Millimeterpapier sei für ihre Augen zu bunt, die Miene des Druckbleistiftes breche die ganze Zeit ab, Dieter sehe ohne Brille nicht, was er für Werte messe und vieles mehr. Doch ihre speckigen Ausreden faulten in der Sonne so schnell, wie sie neue hervorwürgte.
Als erstes schickte ich Dieter zu den nächsten Befunden, um weitere Profile vorzubereiten. Dann hieß ich sie aufstehen, nahm ihr Zeichenbrett, legte ein leeres Blatt zuoberst und zauberte in wenigen Minuten mit wenigen Handgriffen und Strichen eine Zeichnung auf das Papier, die in aller Bescheidenheit mehr als ansprechend war. Ja, ich erlaube mir noch im Nachhinein, sie meisterwürdig zu nennen. Marion staunte schweigend und mit großen Augen. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass es unmöglich sein würde, ihr das notwendige Können zu vermitteln. Ich gab ihr den ernst gemeinten Rat, das Zeichnen von Profilen zu Hause anhand von Marmorkuchenstücken zu üben. Obwohl ich angesichts ihres Gewichts befürchtete, dass ein Kuchenstück kaum lange genug leben würde, um diese Prozedur zu überstehen. Diesen Gedanken behielt ich aber für mich: „Du kannst ja weiterhin die Nivellements machen und die Höhen rechnen“, versuchte ich Mut zu machen.
„J-ja. D-das k-kann ich.“ Sofort setzte sie wieder ihr schnippisches Gesicht auf. Und mir war bewusst, dass ich bei der erstbesten Gelegenheit Senff bitten musste, mir für die Profile einen anderen Zeichner zuzuteilen.
Für diesen Moment ging ich aber zur Gruppe der Arbeiter und fragte in die Runde, wer noch zeichnen kann. Hans meldete sich: „Ich hab schon mal gezeichnet!“
„Dann können wir morgen mal gucken, ob du die eine oder andere Zeichnung übernimmst“, hätte ich nicht sagen sollen. Später am Tag nahm Sylvia mich nämlich in einer unbeobachteten Minute zur Seite: „Kann ich dich mal dazu sprechen, dass du Hans zeichnen lassen möchtest?“
„Ja, sicher.“
„Lass ihn das bitte nicht machen.“
„Hm?“
„Hast du seine Schrift schon gesehen?“
„Hm!“
„Er hat zwar wirklich schon mal gezeichnet. Da ist er aber von allen ausgelacht worden. Und ich muss doch mit ihm zusammen arbeiten und mit ihm nach Hause fahren. Ich möchte nicht, dass er wieder so ausgelacht wird. Ich mach gleich schnell die Profile.“
„Na, ich kann mal versuchen, das unauffällig unter’n Tisch fallen zu lassen. Oder redest du noch mal mit ihm?“
„Das kann ich machen.“
Es half also alles nichts, ich brauchte einen neuen Zeichner.

Freitag, 23. Januar 2009

Kapitel 6.2

Am dritten Tag der Grabung sollten auch die vorläufig restlichen Mitarbeiter zur Grabung stoßen. Morgens war ich so früh an der Grabung angekommen, dass ich noch ein bisschen Zeit hatte, den üblichen Papierkram für den Tag vorzubereiten. Bald hörte ich aber die ersten Wagen anfahren. Dem Motorgeräusch nach war es der Kombi von Hans. Da keine Türen klappten, durfte ich mir auch relativ sicher sein, dass es die beiden waren. Denn ich wusste bereits von meiner Bekannten, dass beide jeden Morgen noch wenigstens fünf Minuten nebeneinander im Wagen sitzen blieben, meist ohne sich unterhalten.
Ich stand von der Bank auf und kletterte zur Tür des Bauwagens. Als ich nach draußen blickte, hockten beide tatsächlich wie zwei Schaufensterpuppen in dem Kombi. Ich sah aber auch schon die nächsten Wagen anrauschen. Zuerst kam der Pick-up von Stefan, der heute Dieter hinter dem Bahnhof aufgelesen hatte, dann fuhr ein blau gefärbter, abgeschnittener französischer Kleinwagen mit Mongolenblick auf die Zufahrt. Es folgte ein tiefergelegter Japaner, hinter dem sich ein alter Mercedes auf den unbefestigten Weg wälzte. Das war der Wagen von Jonas, aus dem laut tönte: „... Na-ta-scha Spek-ken-bach, mit Haa-ren wie To-ma-ten-saft, und die kennt Marx und En-gels und wie mans rich-tig macht ...“ Degenhardt gehörte ab diesem Tag zu dem morgendlichen Ritual, dem ich mich in den nächsten Wochen zu unterwerfen hatte. Jonas stoppte die Kassette erst, als er direkt vor dem Bauwagen stand. In seinem Strich Acht saß auf dem Beifahrerplatz ein kleiner untersetzter, leicht stämmiger Arbeiter, der sich mir nach dem Aussteigen als Jan Retzlaff vorstellte. Jan war kaum älter als ich, war aber auf dem kurzhaarigen Schädel bereits von einer kreisrunden Platte betroffen.
Aus dem Franzosen zwängte sich Wernher Senger. Er war eigentlich nicht dick, hatte aber irgendwie einen rundlichen Körper in der Art eines Schneemannes. Sein ballförmiger Kopf war mit einem katerartigen Schnurrbart geschmückt, unter dem der Mund meist freundlich grinste. Überhaupt hatte sein Kopf etwas von dem Schädel eines Katers.
Wernhers Fahrersitz war weit nach vorn geschoben, weil er dem Anschein nach seinen halben Hausstand in den erstaunlich geräumigen Wagen gestopft hatte. So wie sich das gequetschte Mobiliar an die Scheiben drückte, war zumindest ersichtlich, dass er wenigstens ein Klappbett und mehrere Teppiche eingepackt hatte.
Inzwischen waren auch Hans und Sylvia ausgestiegen. Sie sagten mir mit beinahe übertriebener Freundlichkeit „Guten Morgen!“ und strebten dann auf die Neuankömmlinge zu. Hier begrüßten sich alle gegenseitig, bevor Hans Wernher die Frage stellte, die mir auch auf der Zunge gelegen hatte: „Sag mal, ziehst du um?“
„Mönsch, Hans, du weeßt doch jenausujut wie icke, det man heutzutage allet mitnehmen muss, wat man kriejen kann. Un ick war heut früh kaum losjefahren jewesen, da komm ick am Sperrmüll vorbei – und wat seh ick da? Jetz kiek dir mal diese Perser an. Da ist doch jar nüscht dran! Det Jeld liecht doch wirklich uff de Schossee!“
Er öffnete den Kofferraum und zeigte Hans und Sylvia in der Art eines professionellen Teppichverkäufers die Ware, die gerade heute erst ins Geschäft gekommen ist.
Hans prüfte den Perser reibend: „Du hast recht. Da is nüscht dran. Aber ich bleib lieber bei Geräten. Ich hab ja zu Hause noch sechs Fernseher und sieben Rasenmäher zu stehen. Die kann man wenigstens reparieren und verkaufen. Obwohl – die Polen kaufen ja auch keine ollen Fernseher mehr. Die wollen ja nur noch Farbfernseher. Aber man kann ja wenigstens die Kabel abschneiden und das Kupfer verkaufen.“
„Stimmt, du wars ja son Kabelfledderer“, erinnerte Wernher sich und lächelte. Dabei dreht er sich leicht und zeigte mit allen vier Fingern der linken Hand in schönster Militärmanier auf Hans’ Rückspiegelschmuck: „Hatteste da nich ooch dinn kleenet Skelett her?“ Hans grinste.
Sylvia erklärte mir später lächelnd, dass Hans berüchtigt war für seine Sperrmüllsammelei. In seiner Garage stapelten sich die Rasenmäher, an denen er im Winter herumbastelte, bis sie wieder funktionierten und er sie verkaufen konnte.
Als letzte quälte sich die überaus korpulente Studentin aus ihrem Japaner. Erst jetzt merkte ich, dass er gar nicht tiefergelegt war, sondern lediglich auf ihr Gewicht reagiert hatte. Sylvia hatte mir am Vortag zwar schon gesagt, dass Marion früher einmal für das Amt gearbeitet hatte, aus meinem Team kannten sie aber nur Sylvia, Hans und Dieter. Krachend schlug die Studentin die Tür ihres Autos zu. Im Gesicht trug sie die zu ihrer Statur passende hochgezogene Schweinsnase und ebensolche Augen. Ihre abgefressenen Haare waren hundgelockt und krönten ihre Figur, die im Ganzen an ein aufgeblasenes Halmamännchen erinnerte.
Mit einer Behändigkeit, die man sonst bei Dicken vor allem dann beobachten kann, wenn ein Buffet eröffnet wird, stürmte sie auf unsere Gruppe zu, würdigte die meisten keines Blickes, sondern baute sich vor Jonas auf und erklärte kurzerhand „Ich b-bin die Studentin. Ich habe mit D-doktor Senff t-t-telefoniert, er weiß, dass ich z-zeichnen und v-v-vermessen kann.“ Jonas grinste mich mit seiner von Snus ausgebeulten Oberlippe an, die anderen schwiegen leicht betreten. Sie blickte kurz verwirrt hin und her und bemerkte so ihren Fehler. Jetzt stellte sie sich mit der wortwörtlich selben Aufzählung bei mir vor.
Dieter lachte und empfahl ihr: „Marion, knall doch die Türen nicht so! Is doch nur ein Kleinwagen“, doch der belustigte Hans widersprach: „Genau – als ob man bei meinem großen Wagen die Türen knallen dürfte!“
Obwohl wir alle es schon besser wussten, fragte Sylvia: „Mensch Marion, ist dein Wagen tiefergelegt?“
„N-nein!“, beschied sie mit einem hochnäsig nach hinten verdrehten Kopf. Dabei schloss sie ihre Augen und zog Lider und Brauen gleichzeitig nach oben, wo sie sie hielt, als seien sie mit einem Binderclip an der pickeligen Stirn fixiert. „A-aber der ist sowieso n-nur für meine Sch-schwester. Ich muss nämlich f-für den Wagen arbeiten. Im Winter habe ich mir nä-ämlich den Wagen von meiner Schwester geliehen und b-in auf dem Eis a-ausgerutscht. Dort ist ihr Wagen aufs Dach geschliddert, und ihre Vers-sicherung wollte nicht z-zahlen. B-bloß weil meine Schwester eine V-versicherung abgeschlossen hatte, mit d-der nur sie fahren durfte. Un-mööglich. Eigentlich wollten wir die Versicherung schon verklagen, a-aber die Rechtsschutzversicherung meines Vaters w-wollte das nicht bezahlen. Na, was soll’s. Jetzt hat mein Vater d-diesen Wagen gekauft und ich arbeite ihn ab, d-damit ich ihn meiner Schwester überlassen kann. Aber das ist ein doofer Wagen. Der fährt zwar schön sch-schnell, ist ab-b-ber lange nicht so gut wie ein Trabi. Dort kann man nämlich alles s-selber machen. Wenn ich früher mit einem unserer Trabis liegengeblieben bin, m-musste ich immer nur m-meinen Vater anrufen, der ist dann s-s-sofort gekommen und hat alles repariert.“
Während sie das sagte, zurrte sich ihr Puttenmund zusammen, und sie nahm einen schnippisch-verschlagenen Fahlblick an, den ich in den folgenden Wochen etliche Male an ihr beobachtete. Sie setzte ihn für gewöhnlich auf, wenn sie zum Ausdruck bringen wollte, dass alles, was etwas mit ihr zu tun hatte, besser war als ihre gesamte Umgebung. Und das glaubte sie eigentlich immer. Um das zu unterstreichen, wedelte sie meist grotesk mit ihren unproportionierten Puppenarmen, an denen sich ihre Wurstfinger wie überdimensionierte Maden krümmten. Letztlich war ihre äußere Erscheinung aber ohnehin nur der körperliche Ausdruck ihres Charakters, wie ich bitter lernen musste. In beider Hinsicht bot sie einen wenig ästhetischen Anblick, ja sie war äußerlich und charakterlich das absolute Gegenteil der blanken Anmut.
Wir verteilten uns langsam zu den Bauwagen, die Nichtraucher brachten ihre Sachen in den Chefbauwagen, der schon wegen der Zeichnungen und Unterlagen nikotinfrei bleiben sollte, während Stefan, Dieter und Jonas ihre Taschen mit dem Pausenessen in den anderen Wagen warfen.
Sylvia und Hans gingen anschließend zu seinem Kombi, um sich andere Schuhe anzuziehen, während ich im Chefwagen den von mir am Morgen verteilten Papierkram zusammensortierte und abheftete. Jan kam kurz in den Wagen geklettert und wollte mir noch irgendwelche Arbeitspapiere für Maxim geben, als er in meiner Arbeitstasche eine Stirnlampe entdeckte, die ich für irgendein früheres Projekt benötigt hatte. Als ich seinen rätselnden Blick sah, murmelte ich wie beiläufig „falls es abends mal länger wird“ und sah aus dem Augenwinkel, dass Jan mit einem erschrockenen Blick aus dem Bauwagen trat.
Kaum war auch ich wieder aus dem Bauwagen gekommen, da hörte ich, wie Sylvia sich mit Jonas unterhielt. Sie hatte beim Anziehen ihrer Arbeitsschuhe offenbar an der Decke seines Mercedes einen Blutfleck entdeckt und erkundigte sich danach, was da passiert war.
Jonas lehnte am Kühler seines Wagens. Nahe der Lüftungsschlitze stand sein Taschenascher, in dem seine obligatorische Zigarette verglühte, während er sich gerade eine Portion Snus zurechtknetete. Er freute sich über die Frage, denn da er ein eingefleischter Fan des damals aktuellen Pulp Fiction war, ermöglichte sie ihm die Antwort: „Mr. Wolf hat nicht richtig saubergemacht!“
Sylvia blickte ihn fragend an, sie ahnte, keine weitere Erklärung zu bekommen, wunderte sich aber ohnehin darüber, dass ein junger Schwede kommunistische Lieder hörte, war der Sozialismus doch gerade grandios gescheitert. Jonas dagegen war hoch erfreut, dass Sylvia ihm eine Plattform geboten hatte, sich so herrlich unangepasst zu geben.
Sylvia ging inzwischen ihre Zeichenutensilien holen, während ich langsam zu dem archäologisch unerfahrenen Stefan lief, um ihm den weiteren Ablauf mit dem vergrößerten Team zu erklären. Jonas, dessen Oberlippe inzwischen die schwedentypische Snus-Beule aufwies, drückte seine Zigarette im Ascher aus, klappte ihn zusammen und kam zu uns. Ohne Nachfrage erklärte er mir von sich aus, was es mit dem Blutfleck auf sich hatte: Er war mit zwei Freunden kurz nach der Wende nach Tschechien in Urlaub gefahren, wo sie Campingurlaub machten. Auf dem Weg von einer billigen Zechtour zurück zu ihrem Zelt musste Jonas dringend austreten und hielt an. Beide Freunde waren im Fond sitzen geblieben, und als er wieder in seinen Wagen stieg, hatten sie sich aus irgendeinem Grund, den sie ihm nie verraten haben, so gestritten, dass der eine dem anderen kurzerhand die Fresse poliert hatte.
So wie ich mich auch später gut mit Jonas verstand, nahm ich immer an, dass wir ohnehin gewissermaßen auf einer Wellenlänge funkten. Dass er mir nun aber ohne Nachfrage diese Geschichte erzählte, sollte eindeutig ein Gunstbeweis sein, für den er eine kleine Belohnung erwartete.
Er hatte daher kaum dieses unwichtige Rätsel aufgeklärt, da fragte er schon, ob er nicht auch einmal ein wenig baggern dürfe, um sein Know-how zu erweitern. Stefan, den er gar nicht erst zu Wort kommen ließ, sei es jedenfalls egal, noch jemanden einzuweisen. Da ich damals noch nicht ahnen konnte, dass er diese Fertigkeiten nicht in erster Linie für Ausgrabungen erlangen wollte, und gleichzeitig mit Marion nach eigener Auskunft jemanden hatte, der wenigstens zeitweise die einfachen Vermessungsarbeiten übernehmen konnte, hatte ich nichts dagegen.

Donnerstag, 22. Januar 2009

Kapitel 6.1

Die erste Nacht in der ehemaligen LPG Totenow war recht ruhig. Außer mir übernachtete nur Wieland, der das übernächste Zimmer belegt hatte. Andere Gäste sollten termingemäß auch frühestens am Folgetag eintrudeln.
Wieland und ich sahen uns am nächsten Morgen nur kurz zum flüssigen Koffeinfrühstück in der improvisierten Küche, die später auch als abendlicher Archäologentreffpunkt diente, dann packten wir unsere Wagen mit dem restlichen Gerät voll und fuhren zu unseren Grabungen.
Kurz bevor ich zur Grabung kam, sah ich Dieter direkt hinter der Ampel zur Grabung laufen. Ich hielt an, ließ ihn einsteigen, und er begann nach kurzem Gruß direkt zu plappern. Auf den wenigen Metern zur eigentlichen Grabung hatte er mir in gedrängter Form seinen Lebenslauf erzählt mit einer besonderen Gewichtung auf die zivile Seefahrt in der DDR. Dieter war nämlich auf einem DDR-Frachter zur See gefahren und freute sich besonders, als er mir den Unterschied zwischen Luv und Lee erklärte: „Das lernst du nämlich ganz schnell, wenn du mal gegen den Wind gepisst hast“, strahlte er mich an.
Als wir auf die Baustelle fuhren, stand bereits ein Pick-up von der Baufirma auf der Grabung. Zumindest der Baggerfahrer war also vor uns angekommen und glänzte mit auffallender Pünktlichkeit. Noch saß er in seinem Wagen, hörte sehr laut Truck Stop und las dazu angestrengt in der üblichen Bauzeitung mit den großen Abbildungen. Er merkte, dass jemand gekommen war, raschelte schnell die Blätter dreimal zusammen und stopfte sie zwischen Armaturenbrett und Windschutzscheibe. Als er dabei aufblickte, war ich eine Sekunde verwundert. Der Mann, der da gerade ausstieg und in den nächsten sechs bis acht Wochen für uns den Bagger bedienen sollte, sah aus wie die Bonsai-Wiedergeburt von James Joyce. Das hagere Männchen mit leicht gelig zurückgekämmten Haaren stellte sich als Stefan vor und lugte durch die wahrscheinlich dicksten Brillengläser östlich der Elbe. Am auffälligsten waren jedoch seine stark eingefallenen Wangen, da ihm genau wie dem irischen Schriftsteller die meisten Zähne fehlten. Anders als Joyce hatte Stefan sie jedoch schlagartig bei einem Unfall verloren, wie ich später noch erfahren sollte. Er trug eine unförmige Bundeswehrlatzhose und wollte mir auch gleich eine andrehen, führte er doch wie ein Vertreter eine Kiste mit einem halben Dutzend solcher Hosen im Pick-up mit sich. Zum Glück fiel mir die Ablehnung eines derart albernen Kleidungsstücks umso leichter, weil mir die Hose auf den ersten Blick nicht passte, schließlich trug ich im Gegensatz zu Stefan schon seit einigen Jahren keine Kindergrößen mehr.
Ich gab Stefan den Schlüssel für den Bagger. Während er mit dem kettengetriebenen Spielzeug für große und kleine Kinder zur Ausgrabungsfläche rasselte, öffnete ich den Container und die Bauwagen. Dieter packte seine Hanftasche in einen der beiden Wagen, der dadurch zum Raucherwagen befördert wurde. Dann zeigte ich ihm, wo Stefan unter seiner Aufsicht mit dem Baggern beginnen sollte. Da ich von Senff erfahren hatte, dass Dieter auch ehrenamtlicher Denkmalpfleger war, hatte ich keine großen Bedenken, ihm diese Arbeit zu übertragen. In der Zwischenzeit räumte ich den Zeichenkram in den Nichtraucherwagen, weil ich jeden Moment mit der Ankunft der ersten Zeichnerin Sylvia Widder und ihres Kollegen Hans Gros rechnete.
Ich hatte Anglerkoffer und Zeichenbretter kaum in meinem Büro auf Rädern verstaut und damit begonnen, die Sachen für zwei Zeichner vorzubereiten, als ich hörte, dass draußen ein Auto vorfuhr. Als ich aus dem Wagen kletterte, sah ich, dass ein Endzwanziger mit roten Haaren in einem der vom Amt angemieteten Dienstwagen angekommen war. Nach den Erzählungen meiner Bekannten war klar, dass es sich nicht um Hans handeln konnte, daher vermutete ich, dass es sich um Arnold Eichhorn, den dritten Grabungsleiter in der näheren Umgebungen handelte.
„Scheiße, w’s is dátten für’n Mistdreck!“, war das erste, was ich von ihm vernahm. Irgendwie verwurstelte er sich gerade mit seinem Gurt. Langsam schritt ich auf ihn zu.
„Hallo, du bist Arnold?“
„Son verkackter Mist – ja!“, er war zwar inzwischen aus dem Gurt befreit, fummelte aber weiter am Fahrersitz herum, bevor er sich mir zuwandte, „Wieland hat mir von dir erzählt.“
„Hoffentlich nur Gutes“, schmunzelte ich.
„Na, was man ebm so redet. Ich wär schon eh’r hier gewesen, aber ich hab son beschissenen Veilchenbeschleuniger vor der Nase gehabt.“
Ich hob fragend die Augenbrauen.
„Na, son Blumentransporter.“
„Du gräbst auch in der Nähe?“, erkundigte ich mich dann.
„Ja, meine Grabung, das is son slawisches Gräberfeld, das zum Teil noch unter diesen dämlichen Betonplatten von irrndsomm ollen LPG-Wech liegt.“ Er drehte sich nach hinten und wies knapp einen Kilometer nach Süden, in Richtung unserer Unterkunft.
„Wieland hockt mit seiner Krütziner Grabung da drüben ja direkt zwischen uns“, ergänzte er, „das ist ja auch ein Dreckskram.“
„Wieso?“
„Na, eintlich soll er ja wie wir bei der Umgehung buddeln, direkt neben seiner Fundstelle möchte aber irrndsone olle Scheißfirma ’n paar WKAs bauen.“ Ich blickte fragend. „Na, Windkraftanlagen. Und weil wir ja sowieso grad dabei sind, darf Wieland für die Vollidioten gleich ’n paar Mistlöcher mehr aufmachen. – Aber sach ma, wat macht Dieter da eintlich?“
Ich drehte mich um und sah zu meinem Entsetzen, dass Dieter sich gerade mehr oder weniger eingrub. Anstatt einfach knapp unter den Mutterbodenhorizont baggern zu lassen, stand er inzwischen mit seiner Schaufel mehr als anderthalb Meter unter der Bodenoberkante und machte dem Baggerfahrer mit einer gebogen-grabenden Hand heftige Zeichen, noch viel tiefer zu graben. Schnell lief ich zu Dieter, mit Arnold im Schlepptau. Ich winkte und übertönte mit lauter Stimme den Bagger, um Dieter klar zu machen, dass er sich längst zu tief ins Holozän eingegraben hatte. Der Arbeiter war ein wenig erschreckt, entschuldigte sich jedoch bei mir völlig übertrieben und ließ den Bagger ein Stück nach hinten fahren, wo er dann in zwei, drei Zügen seiner Schaufel insgesamt nur noch knapp einen halben Meter abhobelte.
„Solltess du nich eintlich mehr Mitarbeiter haben?“
„Ja, ich warte noch auf Sylvia Widder und Hans Gros. Kennst du die?“
„Nee, mit den’ habbich nie gearbeitet“, sagte Arnold. Im selben Moment fuhr ein Wagen auf den Acker. Nach der Beschreibung meiner Bekannten war mir klar, das mussten Hans und Sylvia sein. Die zwei trugen im Auto Baseball-Kappen, dazu hatten beide ihre langen Haare als Zopf durch die hintere Öffnung über dem Clip zur Größeneinstellung gezogen. Der Wagen rollte zu den Bauwagen und blieb da stehen. Beide stiegen zügig aus, Sylvia schritt auf uns zu.
„Sylvia Widder?“, fragte ich. Sie bejahte, ich stellte Arnold und mich vor, inzwischen war auch Hans zu uns gestoßen. Hans besaß einen auffallend durchdringenden Blick. Seine Haare waren zwar genauso lang wie die von Sylvia, allerdings waren seine bereits in Ehren ergraut. Ich war überrascht, wie overdressed er als Arbeiter erschien. Seine Hemden waren aber während der gesamten Grabung stets wohlgebügelt, und er war adrett aus dem Ei gepellt, egal ob er in glühender Sonne Planum gekratzt oder mehrere Stunden in einem verschlammten Loch verbracht hatte.
Arnold verabschiedete sich und ich ging mit dem Arbeitsehepaar zu Dieter und erklärte ihnen, was wir untersuchen und was wir zu erwarten haben. Hans sollte anschließend zusammen mit Dieter arbeiten, Sylvia wollte ich die Pläne zeigen und ihr die Zeichenutensilien und Vermessungspläne geben, damit sie schon einen Übersichtsplan vorbereiten konnte, bis erste Teile der Fläche gezeichnet werden konnten. Bei der Gelegenheit plauderte ich mit ihr ein wenig und enthüllte ihr, dass ich von ihr und Hans schon die eine oder andere Geschichte gehört hatte. Sie war darüber überrascht, freute sich aber, mit mir eine gemeinsame Bekannte zu haben, mit der sie sich bereits gut verstanden hatte. Hieraus schloss sie nicht zu unrecht, dass auch wir gut miteinander auskommen würden.

Mittwoch, 21. Januar 2009

Kapitel 5.4

Zwei Stunden später kam ich auf dem Acker an, auf dem ich die nächsten Monate verbringen sollte. An der baumgesäumten Landstraße erwartete mich bereits mein erster Mitarbeiter Dieter Räumer. Als ich mit dem Geländewagen langsam auf die Feldeinfahrt trudelte, winkte mir der etwas schmächtige Kerl im Blaumann zu. Dieter hatte einen sehr kurzen Meckischnitt und war kräftig sonnengebrannt. Seine Haut war wettergegerbt und zerfurcht, dabei aber nicht im eigentlichen Sinne faltig. Fast immer, wenn man ihn sah, waren seine Augen leicht zusammengekniffen, dabei bildeten die Brauen eine Form wie der Giebel eines Satteldaches.
„Ich habe den Bauwagen schon gesehen!“, begrüßte Dieter mich durch die offene Tür, noch bevor ich aussteigen konnte. Er hatte den Satz betont wie ein fünfjähriges Kind, das seiner Patentante stolz von seiner neuen Modelleisenbahn erzählt, ich merkte schnell, dass das sein normaler Tonfall war.
„Der ist unten im Ort falsch abgebogen. Der steht an der Tankstelle.“ Entfernt bimmelte eine Bahnschranke; noch hörte ich dieses Geräusch aufmerksam, wenige Tage später hatte ich es so oft gehört, dass ich es kaum noch wahrnahm. „Hallo, ja, dann steig ein und zeig mir mal, wo der steht.“
Dieter und ich fuhren von dem Acker auf die Landstraße, und er erklärte mir ungefragt, dass er nur wenige Dörfer weiter weg wohnt und jeden Morgen mit der Bahn kommt.
Wir rollten über die nahen Bahngleise und mussten an der dahinter gelegenen Ampel halten, die fast immer rot war. Bei der Gelegenheit sah ich, dass die grünbraune Stofftasche, die Dieter auch später alle Tage mit sich führte, auf der Vorderseite mit der handtellergroßen Darstellung eines Hanfblattes geschmückt war. Er merkte, dass ich auf die Tasche blickte und beeilte sich, mir den Sachverhalt zu erklären: „Das ist eine Kiffer-Tasche.“
„Ich weiß“, grinste ich vielsagend.
„Die habe ich aber von meinem Sohn. Ich kiffe nicht“, schüttelte er den Kopf. „Ich rauche zwar, aber ich rauch nur Tabak, keinen Knaster. Und die Tasche hat mir mein Sohn gegeben ...“
Die Ampel wurde gelb und grün, ich fuhr los.
„Dieter“, versicherte ich ihm, „selbst wenn du kiffst, macht mir das nichts aus. Ich glaub dir aber auch.“
„... ich kiffe nämlich nicht.“
Er beruhigte sich, wir kurvten nach rechts und erreichten nach knapp anderthalb Kilometern die einzige Tankstelle im Umkreis einer Tagesreise zu Pferd. Hier wartete der Tieflader bereits mit dem Bagger.
„Na, wenigstens macht er keinen Unsinn“, entfuhr es mir.
Dieter fragte: „Wieso?“
„Ich sollte mal für ’ne Notgrabung einen Bagger am Freitag Nachmittag entgegennehmen, der Lieferant hat wie üblich die Adresse nicht gefunden und den Bagger im erstbesten Obstgarten abgestellt.“ Ich schüttelte lachend den Kopf. „Irgendwann rief dann ein aufgeregter Kleingärtner bei dem Bauunternehmer an. Der Fahrer hatte nämlich noch ein paar Apfelbäume kaputtgehauen. So richtig schöne alte Sorten. Aber der Unternehmer war ja versichert.“
Als wir an der Tankstelle ankamen, ertappten wir den Tiefladerfahrer dabei, wie er gemütlich im Straßenplan kramte. Er hatte es nicht besonders eilig, uns zu finden, aber das machte uns nicht viel aus. Immerhin war heute sowie nur der Tag, an dem die Geräte angeliefert werden sollten.
Wir geleiteten ihn zur zukünftigen Baustelle, wo er zum Abladen erst mal mit Nachdruck die Bundesstraße blockierte. Dahinter hupten Autofahrer, die es nicht aushielten, entweder fünf Minuten zu warten oder die Blockade einfach auf der kaum entfernten Parallelstraße zu umfahren. Der beinahe übermäßig ruhige Lieferant bedachte sie mit dem freundlich vorgetragenen Hinweis darauf, dass „wir das ja gerne diskutieren können, dann dauert’s aber nur umso länger.“
Da ich ohnehin nicht viel zur Situation beitragen konnte, amüsierte ich mich schlicht. Inzwischen wurden auch Bauwagen und Werkzeugcontainer angeliefert, gleichzeitig kündigte sich mein erster Besuch an. Wieland kam nämlich mit seinem Dienstwagen angefahren, ich wunderte mich, warum er den offenbar ältesten Bulli des Amtes mit der größten Beulendichte bekommen hatte, während ich mit einem angemieteten Neuwagen versorgt war. Später erfuhr ich von anderer Seite, dass Wieland auf Autos Beulen sammelte wie andere Briefmarken.
„Hallo Wieland!“, begrüßte ich ihn, als er aus dem Bulli stieg.
„Grüß dich, ich hab schon mal einen Schlüssel für die LPG nachmachen lassen. Da hat übrigens eben der Klo-Mann angerufen, der sucht eure Grabung.“
Ich griff nach dem Schlüssel und pulte ihn an mein Schlüsselbund: „Hat der denn keine Lieferadresse bekommen?“
„Natürlich, aber du weißt doch, die finden die Grabung doch nie.“
„Das stimmt. Wo wartet der denn jetzt?“
„An der Tankstelle.“
„Na super, da kommen wir gerade her. Dieter?“
Der dreht sich mit einem „Ja?“ zu mir.
„Ich muss das Klo an der Tanke abholen. Kannst du dich gerade mal um die Bauwagen und den Container kümmern, der soll die am besten dahinten hinstellen.“ Ich wies vor das zukünftige Südende der Grabungsfläche.
„Nicht lieber hier vorne unter den Bäumen? Da hätten wir ein bisschen Schatten.“
„Nee, das wird nicht viel bringen, dafür sind die Bäume zu hoch und zu licht. Außerdem müssten wird dann den Kram so weit schleppen. – Gibt es sonst noch was, Wieland?“
„Nein, äh, achso, ich grabe übrigens in Krützin, das ist gleich dahinten auf der anderen Straßenseite.“
„Ja, ich weiß, na, wenn ich was brauche, komme ich einfach rüber“, da ich wusste, wie ungeduldig ausgerechnet die notorisch unzuverlässigen Baustellenklolieferanten und -reiniger waren, sprang ich beinahe unhöflich, mich gerade noch verabschiedend in meinen Wagen und ließ Wieland stehen. Im Losfahren kurbelte ich aber noch das Fenster runter und rief Dieter zu: „Wenn die Vermesser kommen, sag ihnen, dass ich sofort wieder da bin.“
Wieder ging es über die Gleise, an der Ampel halten, einmal rechts und tausendfünfhundert Meter die Straße runter. Der Lieferwagen stand aber nicht an der Tanke, sondern gegenüber in einem toten Feldweg. Hier stand der unverhältnismäßig gestresste Klo-Mensch gebeugt rauchend neben seinem Wagen und studierte in nervöser Panik die gefaxten Anfahrtsskizzen und einen Straßenplan. Ich hielt hinter seinem Wagen, stieg aus, ging zu ihm und erklärte ihm, wer ich bin und wo das Baustellenklo hingestellt werden sollte. In dem Moment, in dem ihm klar wurde, wen er vor sich hatte, wurde er frech und schimpfte, die Anfahrtsskizze sei unmöglich, die Baustelle nicht zu finden, und außerdem sei da ja noch gar keine Baustelle.
Ich kannte das Geterze ausgerechnet des untersten Gliedes, ließ ihn motzen, dachte schmunzelnd an den gerade vom Tiefladerfahrer gehörten Spruch und geleitete ihn zur „Baustelle“. Dieter hatte mit den beiden anderen Lieferanten die Bauwagen und den Container an die vorgesehene Stelle befördert, dabei hatte sich der Lastwagen mit dem Bauwagen auf dem noch nicht einmal besonders matschigen Acker festgefahren. Praktischerweise fuhr sein Laster nämlich auf Reifen, die schmaler waren als bei den meisten Mountain-Bikes. Immerhin waren die Lieferanten patent genug, den Wagen mit dem kettenbetriebenen Bagger in Richtung Straße zu ziehen, so dass ich mich wenigstens nicht auch noch darum kümmern musste.
Der Klo-Mann hatte den blauen Plastikquader kaum abgestellt und mit den stinkenden Chemikalien befüllt, da trudelte schon der nächste Bulli an. Die Vermesser waren angekommen. Glücklicherweise waren sie zu Dritt gekommen. Wir zeigten uns gegenseitig unsere Pläne und besprachen, wo wir welche Pflöcke gesteckt bekommen wollten. Ich bat darum, mir nach dem Setzen der Pflöcke einen Grundplan mit Gauß-Krüger-Koordinaten zu überlassen. In der Zwischenzeit wollte ich mit Dieter zur ehemaligen LPG fahren, die das Amt angemietet hatte, und schon einmal eine erste Fuhre Werkzeug holen. Bei der Gelegenheit konnte ich mir gleich ein Zimmer aussuchen und darin die wertvolleren Vermessungsgeräte dort abstellen, da ich sie ohnehin nicht mehr an diesem Tag benötigte.
Um zu dem Gebäude zu gelangen, mussten wir wieder über die Bahngleise, an der Ampel halten, nach der Ampel jedoch nach links abbiegen und etwa vier Kilometer hinter einer Unzahl von unüberholbaren 25-km-Autos herzuckeln. Hinter einer leicht erhöhten, mit Kiefern bewachsenen Anhöhe lag ein länglicher Bau, dem man bereits von außen ansehen konnte, dass er im Ganzen stark heruntergekommen und ungepflegt war. Ich hielt direkt vor dem Eingang, schließlich wollten wir die Geräte nicht unnötig weit schleppen. Ich packte meinen Kram und die Vermessungsgeräte aus dem Wagen, Dieter half mir beim Tragen, und glücklicherweise passte sogar der Schlüssel ohne Probleme in das eher unzuverlässig wirkende Schloss. Hinter der naturgebeizten Tür entblößte sich uns ein breiter, etwa fünfzig Meter langer Gang, von dem zu beiden Seiten zahllose Türen abgingen. Der Gang war mit einem vermutlich bereits in den Fünfzigern ausgeblichenen Linoleumimitat gepflastert, das den dringenden Eindruck erweckte, dies sei nicht das Gebäude für die Subotniks der LPG gewesen, sondern es handele sich um den alten Kuhstall. Dieter kannte das Gebäude und empfahl mir: „Als Grabungsleiter solltest du eines von den Zimmern im hinteren Teil nehmen. Da funktionieren die Nachtspeicheröfen noch.“ Wir trudelten den Gang hinab, ich blickte dabei unschlüssig nach rechts und links.
„Nimm lieber ein Zimmer auf der rechten Seite“, beantwortete Dieter mein fragendes Gesicht, „da hast du morgens Sonne, außerdem kann man die Türen auf dieser Seite abschließen.“
Ich entschied mich schließlich für einen Raum, der noch nicht vergeben war und nicht allzu sehr zugestellt war. Hier war der Boden zwar mit einer Art Auslegware zugepflastert und insofern weniger unangenehm als im Gang. Einige Tage später musste ich jedoch feststellen, dass der filzig-fasrige Boden quasi lebte, zumindest produzierte er Wollmäuse in einer solch großen Zahl, dass ich mir während der Ausgrabung problemlos einen Pullover hätte stricken können, wenn es mir denn nicht zuwider gewesen wäre, diese „Fasern“ näher als irgend nötig an mich heranzulassen.
Immerhin war das Zimmer bei meinem Einzug so aufgeräumt, dass ich am Abend lediglich ein paar rasselnde Fundkartons umzuräumen und den Schreibtisch in eine günstige Position zu rücken hatte, um es mir den Umständen entsprechend gemütlich einzurichten. Jetzt verschlossen wir jedoch erst einmal die Tür, und ich bat Dieter, mich zu den Räumen mit den Werkzeugen zu führen.
„Was brauchen wir denn?“
„Insgesamt sind wir acht Leute.“
„Ja“, platzte es aus Dieter, „da nehmen wir am besten mal so zehn Schaufeln, vielleicht auch acht Spaten, oder?“ Dieter griff nach zwei, drei Schaufeln, sein Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse: „Ä! Hat Rüdiger die wieder mit Diesel eingeschmiert.“
Dieter stellte die Schaufeln wieder an die Wand und wischte sich die Hände reflexartig am Latz seines Blaumanns ab. „Haben wir nicht ...“, er blickte sich um, „... irgendwo? ... Ah! Hier! Ein paar Tücher. Ich mach die Schaufeln erst mal sauber, so können wir die doch nicht in deinen Wagen legen.“
„Der Boden wird hier doch bestimmt sandig sein, da können wir uns Spitzhacken bestimmt sparen?“
„Neinnein, die brauchen wir nicht, aber ein paar Kratzer können wir gleich einpacken. Und falls die Befunde mal zu trocken werden, du weißt schon, für ein Foto, oder damit man sie besser zeichnen kann, lass uns auch mal ’ne Gloria mitnehmen. Außerdem sollten wir uns zwei Schubkarren aussuchen, bevor nur noch kaputte Karren da sind.“
„Die kriegen wir aber nicht sofort mit, da fahren wir nachher nochmal – hamja Zeit“, grinste ich.
Wir packten noch dutzende Kellen, Stukkateureisen, Bürsten, Eimer, ja, voller Optimismus sogar ein paar Pinsel ein, außerdem bereiteten wir ein paar Fundkartons mit Fundtüten vor, legten mehrere Blocks Fundzettel dazu. Aus einer größeren Kiste räumten wir noch den nötigsten Zeichenkram (Druckbleistifte, Buntstifte, Radiergummi, Anspitzer, Lineale, Millimeterpapier) in zwei leere Anglerkoffer und suchten uns die beiden Zeichenrahmen aus, die am ehesten den Eindruck machten, die Grabung halbwegs zu überstehen. Da wir die Zeichenutensilien an diesem Tag noch nicht brauchten, stellten wir sie zu den Vermessungsgeräten in mein neues Zimmer.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit mehreren Touren, um das weniger wertvolle Werkzeug zur Grabung zu transportieren. Bei jedem Besuch sahen wir, wie die gut gelaunten Vermesser nach und nach alle für uns notwendige Pflöcke pflanzten. Die Grabungsfläche, die zu untersuchen war, führte von der Zufahrt der Landstraße eine kleine Anhöhe hinauf und an einem Soll vorbei. Ein halbes Jahr später sollte mit der Auskofferung der neuen Umgehungsstraße begonnen werden, die in Wirklichkeit erst ein Jahr darauf erfolgte. Zur Vereinfachung unserer eigenen Vermessungsarbeiten hatte irgendein freundlicher Landmesser viele Jahrzehnte zuvor diesen Soll genutzt, um einen Höhenpunkt zu setzen. Also mussten wir nicht mit irgendwelchen Behelfspunkten arbeiten, um die Befunde über Normalnull einmessen zu können. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich natürlich noch nicht wissen, dass ich trotzdem noch mehrere Wochenenden damit verbringen würde, Höhenwerte nachzurechnen und zu korrigieren.

Donnerstag, 15. Januar 2009

Kapitel 5.3

„Du kommst also aus Schweden?“, fragte ich, als er mich die Gänge zu dem Kellergewölbe führte.
„Jo, das gibt ein kleines Dorf im Zentrum des Landes, da komme ich von her.“
„Und was hat dich ausgerechnet nach Deutschland verschlagen?“ Wir tippelten eine kurze Treppe hinab.
„In Sweden sind nicht viele Stellen, und du kannst in Deutschland gut lernen auszugraben.“
„Mannmannmann. Das ging ja jetzt alles ziemlich überstürzt. Ich bin erst am Freitag von einem Arbeiter informiert worden, dass es heute losgeht.“ Es ging zwei kurvige Gänge nach links.
„Am Freitag erst?“
„Wusstest du schon früher Bescheid?“
„Maxim hat mich schon vor anderthalb Wochen informiert. Wer hat dich denn angerufen?“ Und wieder nach rechts.
„Ein Dieter Räumer. War’n bisschen merkwürdig am Telefon. Vor anderthalb Wochen?“
„Ja. Aber das ist normal hier. Daran wirst du dich noch gewöhnen“, grinste er, „Dieter ist o.k. Der ist ein guter Arbeiter und ziemlich nett. Manchmal wirkt er ein bisschen trottelig, das ist er aber nicht“, ergänzte er noch, dann standen wir vor der Kellertür, die uns beiden kaum bis zur Brust reichte.
Jonas, der wusste, welcher Schlüssel in das Schloss passte, öffnete sie. Hinter der Tür glitt eine schäbige ausgetretene Treppe herab, deren Abstiegswinkel an die Eiger Nordwand gemahnte. Jonas griff hakig um den Türrahmen nach dem Lichtschalter und führte mich in den trüben Keller. Der Gerätekeller war über und über mit Resten abgebrochener Schaufeln, Spaten, den Leichnamen rostzerfressener Schubkarren, eingedreckten und angeschimmelten Schubkarren und Holzfunden zugestapelt. Lediglich ein schmaler Gang war freigeräumt, durch den wir uns zwängten, um zu dem ersten Raum zu gelangen, in dem die besseren Werkzeuge eingeschlossen waren.
„Hier sollte Matthias mal sein hobby-horse machen“, stänkerte Jonas, wies auf die schwammigen Wände und zog grinsend die Mundwinkel nach oben.
„Wieso?“
„Na, er renoviert doch so gerne.“
„Aha. – Na, ich kenn ihn nicht besonders.“
„Ja, er zieht immer von einer Wohnung in eine andere. Ist er eingezogen, renoviert er sie. Dann zieht er wieder in die nächste Wohnung und renoviert die dann.“
„Tatsächlich?“, jetzt konnte ich mir ein Grinsen auch nicht länger verkneifen. Jonas öffnete die nächste Tür. In diesem Raum waren die Werkzeuge sehr ordentlich in Regale geräumt und nach Form, Arbeitsbereich und Material sortiert.
„Was fehlt denn noch so in Totenow?“, fragte ich.
„Wir brauchen vor allem Geräte für die Vermessung. Also Stativ, Messlatte, Holzpflöcke, Maßbänder, Nägel und ein biss-schen Kleinkram, ein biss-schen Kellen, Pinsel und so. Außerdem Nordpfeil und Maßstab für Fotos. Schaufeln, Spaten, Fluchtstangen und Schubkarren sind dagegen in Totenow genug“, antwortete der Schede, wispernd fügte er hinzu: „Hoffentlich hat Wieland nur nicht alles in seinem Zimmer gehortet.“
„Wieland?“, fragte ich. „Wieland Kellerman?“ Ich kannte Wieland von der Uni. Er war nicht gerade die archäologische Leuchte und hatte oft Probleme, mit anderen Menschen sozial zu interagieren. Dabei besaß er eine Grundahnung von vielem, für die praktische Arbeit fehlte ihm allerdings schlicht und ergreifend jede Patenz. Dennoch hatte ich ihn als durchaus erträgliche Person kennengelernt.
Wieland war vor allem zur Archäologie gekommen, weil sein Vater seit Jahrzehnten ein arrivierter Archäologe war. Als der Sohnemann begann, in dessen Fußstapfen zu treten, saß Papa Kellerman längst in zahlreichen Kommissionen. Die Familie gehörte trotz ihres eher einfachen Namens irgendeinem größtenteils ausgestorbenen Adelszweig an, dem sie ihr Familienwappen verdankten. Wieland hatte es mir eines Tages an der Uni beschrieben und skizziert, ich kann mich aber nur noch daran erinnern, dass es ungewöhnlich kleinteilig war. Es war in Viertel gegliedert, in denen eine stilisierte Kuh, ein Pferd, ein Reh und irgendetwas zu essen abgebildet war.
Wir kramten die notwendigen Geräte zusammen und stellten sie vor die Tür, bevor wir sie aus dem Keller und zum Parkplatz der Dienstfahrzeuge trugen. Zwischenzeitlich begrüßte Maxim uns kurz auf dem dichtregalten Gang, sagte mir, welchen Wagen ich bekomme (einen Geländewagen) und reichte mir dessen Schlüssel.
„Bevor du losfährst“, ermahnte er mich, „kommst du nochmal in mein Büro. Wir müssen noch den Papierkram machen.“
„Stimmt. Und ich würde gerne wissen, wohin ich fahren muss“, erwiderte ich mit einem schnippischen Ton, der Maxim völlig zu entgehen schien.
Als Jonas und ich die Geräte in dem nagelneuen Dienstauto verstaut hatten, ging ich zu meinem privaten Wagen, um meine Taschen zu holen. Als ich wieder bei dem Geländewagen ankam, stand dort der Schwede und rauchte eine Zigarette an. Kaum begann sie zu glühen, zog er aus seiner Weste einen Taschenascher, öffnete ihn und legte die Zigarette auf die dafür vorgesehene Delle.
„Und wo kommst du her?“, fragte er mich.
„Ich hab hauptsächlich im Pott studiert. Im Ruhrgebiet.“ Ich ergänzte: „Ist nur ein kleines Institut, dafür umso feiner“, und lächelte wissend.
„Möchtest du später an der Uni arbeiten?“
„Nee, ich strebe eindeutig die praktische Arbeit an. Bloß nicht mit zu vielen lebenden Menschen in Kontakt kommen, ist meine Devise.“
Jonas nickte, „Das kann ich verstehen.“ Seine Zigarette lag weiterhin auf seinem Taschenascher und glühte vor sich hin. Dort blieb sie auch für den Rest dieses verbalen Beschnupperns liegen, bis sie bis zum Filter verascht war. Danach klappte er den Taschenascher ein und ermahnte mich, jetzt solle ich aber besser zu Maxim gehen, bevor der ungeduldig wird.
Ich kramte die Versicherungsunterlagen aus einer meiner Taschen und trabte federnd in das Büro von Maximmatthiasmerle. Als ich nach Wieland fragte, wurde mir eröffnet, dass gleich drei Grabungen in näherer Umgebungen stattfinden würden, eine leitete Wieland, die zweite ein Arnold Eichhorn, den ich nicht kannte, und das letzte Projekt schließlich hatte ich bekommen. Da die zwei bereits für das Amt gearbeitet hatten, sollte ich mich bei Problemen zunächst an einen der beiden wenden. Matthias drückte mir noch den Fotokoffer mit einer Spiegelreflexkamera, drei Dia-Filmen, einer Fototafel, und den Buchstaben in die Hand.
Im Kabuff musste ich noch etliche trübe Witzeleien über mich ergehen lassen, während ich den abgespeckten Arbeitsvertrag gegenzeichnete und mir auf Plänen die Position der Ausgrabung zeigen ließ. Gnädigerweise musste ich die gewünschten Ausgrabungsflächen nicht memorieren, sondern bekam zusammen mit etlichen Formularen Kopien von den Plänen ausgehändigt.
Am selben Tag, so erfuhr ich nun, sei lediglich mit der Anlieferung des Baggers, der Bauwagen und des Baustellenklos zu rechnen. Im Laufe des Tages käme außerdem Wieland zu meiner Grabung, um mir einen Schlüssel für die Unterkunft in Totenow auszuhändigen. Dessen Grabung sollte nur wenige hundert Meter von meiner Grabung entfernt liegen, und im Zuge derselben Bauarbeiten notwendig geworden sein.
Erst am zweiten Tag sollten Sylvia Widder, die erste Zeichnerin, mit dem Arbeiter Hans Gros zum Team stoßen, was ich besonders lustig empfand, weil eben dieselbe Archäologin, die mir Grundinformationen über Spasst gegeben hatte, mit beiden zusammen gearbeitet und mir ein paar Geschichten von diesem Arbeitsehepaar erzählt hatte. Ab dem dritten Tag schließlich seien neben Jonas auch der ehrenamtliche Denkmalpfleger Wernher Senger, ein grabungserfahrener Arbeiter Jan Retzlaff sowie eine Studentin namens Marion Pauls bestellt. Letztere wurde aufgrund ihrer telefonischen Angaben ebenfalls als (für das Amt finanziell besonders günstige) Zeichnerin angestellt.
Bevor ich mit Dieter in der LPG Totenow die restlichen Werkzeuge abholen sollte, ermahnte Maxim mich allerdings mit einem pflaumigen Gesicht, auf die Vermesser vom Katasteramt zu warten, die uns die Fläche noch genau auspflocken sollten. Ich meldete Maxim und Matthias ein „Selbstverständlich!“, verabschiedete mich artig und ging hinaus zu dem Dienstwagen.

Dienstag, 13. Januar 2009

Kapitel 5.2

Am Montag stand ich gegen acht Uhr am Amt. Da ich gewöhnlich ein recht pünktlicher Mensch bin, war ich natürlich vor Senff, vor Spasst und vor den meisten anderen Mitarbeitern an dem kleinen halbverfallenen Bau. Der wankelnde Pförtner ließ mich in das Gebäude und führte mich in das kleine, huckige Büro, in dem Matthias Spasst, Maxim Senff und eine Zeichnerin namens Merle während der Arbeit hausten.
Ich machte es mir auf einem der ausgeleierten und knarrzenden Drehstühle bequem und betrachtete das Amtszimmer. Büros sind bekanntlich grundsätzlich dazu geeignet, eine Vorstellung von den geistigen Vorgängen ihrer Nutzer zu vermitteln. Hier war ich nun mit der konzentrierten Form gleich zweier Schreibtischhengste und einer -stute auf einem nur knapp zwölf Quadratmeter messenden Raum mit einer hohen Decke und vollgestapelten Blechregalen aus dem Baumarkt konfrontiert. Dort stand eine dieser unseligen Bürotassen, die eine keramische Variante der mit neunmalwitzigen Sprüchen bedruckten T-Shirts darstellen. Hier hing eine alberne Autogrammkarte eines wurstigen G-Prominenten, um die im lobotomierten Fanwesen ausgedrückte Persönlichkeit des Schreibtischbedieners jedem zufälligen Besucher sogleich auf die Nase zu knoten. Am Schrank hing ein kasperiges Fax, das zu einem ausgedachten Trinkerkongress einlud und mit müden Verlockungen (Aspirin mit Monogramm) vermutlich selbst einem ausgewiesenen Asmussen-Publikum bestenfalls ein flaues Grinsen hervorzulocken vermöchte. Lediglich zwei an strategischen Punkten an die Wand geheftete und mit bunten Pins gespickte Pläne linearer Projekte ließen die Vermutung aufkommen, dass hier auch gearbeitet würde.
Ich hatte kaum eine halbe Stunde in dem Kabuff gewartet, als ein spießig gekleideter Fußabtreter zusammen mit einem blonden Rastafari schwatzend in das Büro bummelte. In der mit einem rosa gestreiften Hemd geschmückten Person erkannte ich gleich zurecht Matthias, der Typ mit den zu einem Zopf zusammengebunden Filzwürsten und einer abgetragenen dünn schwarzen Lederweste wirkte als kräftiger Kontrast zu diesem Schreibtischtäter. Durch Frisur und Klamotten bezeugte der Rasta mit Nachdruck, wie wenig er von dem aufgeputzten Amtszinnober hielt und erntete auf den ersten Blick einige Sympathiepunkte bei mir.
Matthias vermutete sofort, wer ich sei, und stellte mir den Rastamann als Jonas Grönahög vor. Jonas kam aus Schweden und grinste meist freundlich. Der Schwede, so erklärte Matthias, sei studierter Archäologe und solle im Verlauf der Woche als Techniker zu der Grabung stoßen. Heute sei er hier, um mir bei der Zusammenstellung der Werkzeuge zu helfen, da er wusste, welche Geräte sich bereits in der nahegelegenen LPG befänden und welche noch fehlten. Außerdem verriet mir der Klarchologe, dass Senff jeden Moment eintreffen müsste, um mir die Schlüssel für den angemieteten Dienstwagen aushändigen zu können. Bis dahin könnte ich jedoch bereits mit Jonas das restliche Werkzeug im Keller zusammensuchen. Dazu händigte Matthias uns ein schwer behangenes Schlüsselbund aus.

Dienstag, 6. Januar 2009

Kapitel 5.1

Das Telefon klingelte an einem Freitagmittag.
„Hallo?“
„Ja, hallo? – Hier ist Räumer, Dieter Räumer. Ich habe Ihre Telefonnummer von Doktor Maxim Senff.“
„Aha“, wunderte ich mich.
„Ja. Das Wetter soll ja toll werden“, abhackte Dieter Räumer. Ich staunte ein wenig.
„Also, wenn es am Montag losgeht, soll’s ja auch schön werden.“
„Wenn was losgeht?“
„Die Ausgrabung. Hat Doktor Senff denn noch nichts gesagt?“
„Nein.“
„Ja. Also, am Montag soll bei der Allee nach Totenow die Grabung losgehen. Da, wo die neue Umgehung gebaut werden soll. Da waren doch gerade die Grünen und haben die Bäume mit Kreide mit einem X bemalt. Da ist sofort die Polizei gekommen. Da trauen sie sich. Aber wenn die Nazis aufmarschieren, dann sind’se weg“, redete Dieter sich in eine trocken geschnittene Rage.
„Eine Ausgrabung in Totenow?“
„Genau. Hat Doktor Senff denn noch nichts erzählt?“
„Nein, aber ich werde ihn gleich mal anrufen“, ich sah auf meine Uhr und stockte, „wenn er noch im Haus sein sollte.“
„Ja, wir sollen uns jedenfalls um Zehn an der Grabung treffen. Dann kommen auch Bauwagen, Dixi und der Bagger.“
„Gut, ich klär das erst mal mit Maxim Senff“, verabschiedete ich mich etwas kühl.
Ich legte auf, suchte die Nummer von Senff heraus und rief ihn an. Natürlich erreichte ich ihn nicht mehr, an den Apparat ging sein damaliges Faktotum Matthias Spasst, den ich damals noch nicht persönlich kannte. Eine mir bekannte Archäologin hatte mir allerdings ein wenig von ihm erzählt. Er sei ein Klarchologe, wie Klassischen Archäologen im deutschsprachigen Raum von praktisch arbeitenden Bodendenkmalpflegern in durchaus abwertender Absicht bezeichnet werden. Klarchologie, das bedeutet Meditieren über Mamormuskeln, Faltenzählen, Haarwirbel suchen und Vasenkunde der stumpfsinnigsten Art. Obwohl ein Gutteil der beginnenden Archäologie von Untersuchungen der klassisch archäologischen Themen ausging, gilt die klassische Archäologie heute eher als Unterabteilung der Kunstgeschichte. Von moderner Ausgraberei verstehen Klarchologen dagegen üblicherweise nichts oder sogar noch weniger.
Dank dieser Grundinformationen wusste ich etwa, wie ich Matthias einzusortieren hatte. Er erklärte mit einer saumsäuseligen Stimme, dass der Bauherr unbedingt anfangen wollte, um rechtzeitig drei Monate später mit dem Bau der Umgehungsstraße beginnen zu können. Der Projektleiter beim Straßenbauamt sei allerdings erst am Mittwoch aus dem Urlaub zurückgekehrt und habe es erst jetzt geschafft, den Landwirt davon zu überzeugen, den Archäologen Begehungsrechte zu erteilen.
Da ich damals schon mit den Abläufen und den Gepflogenheiten der zuständigen Verursacher vertraut war, wunderte mich die Erklärung kaum, obwohl es mich ein wenig störte, dass Senff mir nicht zuvor einen minimalen Hinweis darauf gegeben hatte, dass ich für diese Ausgrabung grundsätzlich als Leiter vorgesehen war. Außerdem erklärte es überhaupt nicht, warum dieser Dieter vor mir informiert wurde.
Ich erfuhr nun, dass es sich bei der Fundstelle um eine Siedlung der späten Bronzezeit bis zur Eisenzeit handelte. Danach teilte der Klarchologe mir mit, wie hoch der Beitrag war, den mir das Landesamt zu meinen Unterkunftskosten zurückerstattete. Das Amt hätte jedoch auch ein altes LPG-Gebäude angemietet, in dem sich eine einfache Küche und Dusche befände. Hier könnte ich gratis unterkommen. Außerdem bekäme ich einen Dienstwagen, der am Montag am Amtssitz mit einem Teil des Grabungsmaterials abzuholen sei. Zuletzt fragte er, ob ich schon lange versucht hatte, ihn zu erreichen, besaß doch das gesamte Amt lediglich eine (!) Leitung, mit der man in das öffentliche Telefonnetz telefonieren konnte. Als ich ihm mitteilte, dass es mein erster Versuch gewesen war, beglückwünschte er mich zum Abschied.
Den Rest des Wochenendes verbrachte ich damit, telefonisch nach einem Zimmer in Totenow zu suchen. Am Sonntagnachmittag erkannte ich aufgrund der Pensionsknappheit, dass es einfacher wäre, in der LPG unterzukommen, in der auch andere Grabungsleiter und ein paar Arbeiter wohnen wollten.

Montag, 5. Januar 2009

Kapitel 4.5

Ich hielt mich in meiner Dissertation nur wenig zurück, entschärfte die entsprechenden Stellen aber auf wiederholtes Anraten meines Doktorvaters trotzdem. Sprach ich Senff in ersten Textversionen noch jede Fähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit ab, nannte ich schließlich in der beim Prüfungsamt eingereichten Version die offensichtlichen Ungereimtheiten nur noch fälschlich und irrtümlich und versteckte diese Kritik sogar in Fußnoten.
Heute weiß ich, dass das falsch war. Inzwischen kenne ich mehr Details zu der Geschichte. Ich lernte, knapp zwei Jahre nachdem ich promoviert worden war, einen ehemaligen Mitarbeiter Senffs kennen. Dieser Mitarbeiter machte sich selbst im Nachhinein Vorwürfe, dass er Maxim Senff bei der Abfassung seiner Dissertation geholfen hatte.
Ich weiß nicht, ob jemals jemand die ganze Wahrheit erfahren wird, mir ist auch nicht bekannt, wer alles so weit eingeweiht ist, wie ich es bin. Aber angesichts der Unterlagen und Belege, die mir dieser Ghostwriter vorlegte, bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass zumindest er nicht gelogen hat.
Professor Pickenpack hatte aus dem Nachlass eines anderen Professors, der vor Jahrzehnten an dem Institut gearbeitet hatte, entscheidende Unterlagen zu zahlreichen Einzeluntersuchungen, die Senffs spätere Dissertation betrafen. Die Nachlasspapiere waren schlampig gearbeitet, daher hatte sie der alte Professor auch nicht vorgelegt. Senff hatte sie nun in seine Klauen bekommen, hatte sie verarbeitet, verwurstet und zum Markt getragen. Er hatte sie aber schlampig belassen und Pickenpack war es egal gewesen. Genau genommen hatte er sie nicht einmal schlampig belassen, denn Senff hatte den Nachlass nicht einmal selbst exzerpiert.
Als er damit begann, die drei Jahre in Neuweiler auszuwerten, die er dort geherrscht hatte, stellte er bald fest, dass er nicht in der Lage war, die notwendigen Tabellen zu erstellen. Klein fing es an, er bat diesen Studenten um Hilfe, jenen Studenten ließ er Zeichnungen anfangen und er merkte schnell, wie bequem das Promovieren doch sein kann, wenn man die Arbeit anderen überlässt. Die meisten Fehler, die sich eingeschlichen hatte, stammten schlicht und ergreifend von verschiedenen Studenten, die er die einzelnen Teile anfertigen ließ.
Für ein erklärendes Einzelkapitel entdeckte er eines Tages, dass eine vergleichbare, aber unveröffentlichte Examensarbeit bereits vieles von dem erforscht und dargestellt hatte, was er genauso in seine Untersuchung einfließen lassen konnte, ja musste, wie er sich selbst sicher wurde. Bei diesem Kapitel handelt es sich übrigens um das einzige, bei dem das Sprachzentrum des Lesers nicht auf der Stelle einen Infarkt erleidet. Man kann es lesen, man versteht es und man merkt, dass es nicht zu dem sonstigen Brimborium gehörte.
An dem Tag, an dem Senff diese Entdeckung machte, muss ihm eingefallen sein, doch auch weitere Teile von anderen verfasst zu bekommen. Nach und nach reichte er Kapitelaufträge weiter, und der Student, der ihm diese Arbeiten erledigte, war glücklich, konnte er sich doch so schwarz sein armseliges BAFöG aufbessern und sich gleichzeitig seinem Fach widmen.
Sauer war er nur über die Schlussabfertigung. Senff hatte sich nämlich geweigert, die letzte Rate zu bezahlen. Der Student hatte ja leider keinen schriftlichen Auftrag vorliegen. Zum Ausgleich dazu waren die Texte natürlich fern davon, wissenschaftlich brauchbar zu sein, denn der Student war zur Zeit der Abfassung noch nicht so weit, kompetente Qualität zu liefern. Aber das war an der Universität ohnehin egal. Als der von allen Seiten hochgeschätzte Senff eine schriftlichen Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einreichte, zählte der Name des Einreichenden schon genug, um das lesefaule Publikum der Prüfungskommission zu blenden.
Ich war neugierig geworden, als der Ghostwriter mir von dieser Geschichte erzählte, blieb jedoch anfangs misstrauisch, bis er mir handfeste Beweise vorlegte. Er zeigte mir in seinem WG-Zimmer Unterlagen, angefangene Stichwortsammlungen und handgeschriebene Kapitelaufträge.
Als ich die Handschrift sah, wusste ich, dass kein Zweifel an dieser Geschichte bestand. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Handschrift des weit überschätzten, größtenteils von Pickenpack nach oben beförderten Dr. habil. Maxim Senff zur Genüge. Ich hatte nämlich inzwischen für ihn gearbeitet.
Er hatte mich nach meiner Promotion gefragt, ob ich Grabungsleitungen im Osten übernehmen wollte. Ich weiß bis heute nicht, welchem Umstand ich das zu verdanken habe. Erklären kann ich es mir allein dadurch, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda mich als wenigstens genehmen und halbwegs fähigen Leiter hingestellt hatte, die immer wieder gebraucht werden. Womöglich hatte Senff auch geglaubt, in mir einen jungen Archäologen zu finden, den er sich nach Gusto zurechtbiegen konnte.
Da ich notorisch Geld brauchte und keine Anstellung in Aussicht hatte, sagte ich zu und ließ mich auf einen Kontrakt mit diesem wissenschaftlichen Teufel ein. Er fragte, ob ich demnächst eine Grabung übernehmen könnte, ohne dass ich bereits Genaueres erfuhr.
Die Zeit auf den Ausgrabungen im Osten verlief dabei sehr oft sehr seltsam. Wie in anderen Berufen auch fand sich unter westdeutschen Archäologen hartnäckig das falsche Bild des faulen Ossis aus heruntergekommenen Löchern und mit seltsamen politischen Anschauungen. Und Senff hatte noch ein besonderes Problem mit den Ostdeutschen. Westdeutschen Angestellten hielt er nämlich vor dem Stellenantritt einen mindestens halbstündigen Vortrag über die ostdeutschen Grußgewohnheiten. Lang und breit erklärte er, dass jeder Ostdeutsche es ausdrücklich verlange, persönlich mit Namen und Handschlag begrüßt zu werden, weil sie sonst auf den Tod beleidigt seien.
Natürlich durfte auch ich mir diese törichte Einführung in ostdeutsche Rituale anhören. Ich hatte lediglich das seltene Glück, von dem äußeren Prozedere seiner gewöhnlichen Vorstellungsgespräche verschont zu bleiben. Die fanden damals nämlich stets in einer Filiale eines großen amerikanischen Burger-Braters statt, obwohl er dabei nie etwas aß.
Eigentlich überraschte es mich wenig, dass ich die Arbeiter so anders erlebte, als Senff sie mir geschildert hatte. Ich war den Menschen, die Ostdeutschland nicht verlassen hatten, von Beginn an ehrlich freundlich gesinnt und half ihnen, wo ich nur konnte. Dadurch erlangte ich nicht allein ein angenehmes Arbeitsklima für alle Beteiligten, sondern erhielt darüber hinaus auch sehr schnell Informationen, an die ich kaum gelangt wäre, hätte ich die Menschen so hochmütig behandelt, wie Senff es tat.
Daher dauerte es auch nicht lang, bis ich die Pointe zur Begrüßungsposse erfuhr. Noch in der ersten Woche hatten die Arbeiter gespürt, dass sie in mir eine ehrliche Haut vor sich hatten und keinen Hinterträger und Verräter. Da die meisten Senff nicht besonders leiden konnten, tratschten sie gerne über ihn und erzählten mir bereitwillig, dass sie ihm gegenüber keineswegs stur darauf bestanden hatten, ausführlich begrüßt zu werden, nein, sie hatten lediglich überhaupt gegrüßt werden wollen. Und genau das hatte Senff anfangs gänzlich abgelehnt oder missachtet. Wenn er in den ersten Monaten auf einer Ausgrabung ankam, ging er stets nur wortlos zum örtlichen Grabungsleiter, unterhielt sich mit ihm und guckte die Arbeiter mit dem Arsch nicht an. Es waren ja auch nur einfache Arbeiter und keine promovierten und lorbeerbekranzten Popenbengel wie er!
Aber es nützte alles nichts, nach den ersten Beschwerden bei seinem Vorgesetzten musste auch Maxim sich dazu herablassen, die Arbeiter zu grüßen und sie per Handschlag sogar zu berühren.

Sonntag, 4. Januar 2009

Kapitel 4.4

Aus der Prüfungsordnung: „Die Dissertation muss eine die Forschung fördernde, selbständig verfasste wissenschaftliche Abhandlung sein.“

Samstag, 3. Januar 2009

Kapitel 4.3

Als ich ein halbes Jahr meiner teuren Zeit damit verschwendet hatte, mich mit der Sense durch dieses nur durch wenige Geistesblitze erhellte geistige Stoppelfeld zu kämpfen, dessen stilistischer Grad in etwa mit dem Vorkommen barocker Skulpturen auf dem Erdenmond korrespondierte, war ich endlich Herr über die Materie geworden. Ein lächerlich kurzes Hundertseitenwerk war diese Arbeit, in die Kommata augenscheinlich hineingewürfelt, ein Zehntel der Absätze nicht beendet und Abbildungen nicht korrekt zugeordnet waren. Damit nicht genug, hatte ich doch all die Mühe, die Senff eigentlich hätte leisten sollen, selbst erneut machen und alle Quellen ein weiteres Mal heranziehen müssen. Ich war also gezwungen, für die Unterabteilung eines Unterkapitels all die Erkenntnisse neu zu gewinnen, mit denen ein anderer wenige Jahre zuvor promoviert worden war. Endlich war ich jedoch in der Lage, meinem Doktorvater diesen Stand der Dinge mitzuteilen.
Seine Sprechstunden waren an der Tür alle Semester hindurch mit der Stunde vor der Mittagspause am Mittwoch angegeben. Doch all die Jahre, die er an diesem Institut verbrachte, war er grundsätzlich ausgerechnet in dieser Zeit nicht anzutreffen. Das galt besonders, wenn es in der Mensa seine Leibspeise gab: Milchreis mit Zimt. Davon verdrückte er gewöhnlich mehrere Portionen und zog somit die Mittagspause unverhältnismäßig in die Länge. Da es auch in der Woche, in der ich mich zum wissenschaftlichen Rapport meldete, Milchreis gab, mied ich den Mittwoch natürlich bewusst und klopfte erst am Donnerstag an seine Tür.
Er bat mich „Herein!“, ich öffnete, sah ihn telefonieren und mich in sein Büro winken. Ich grüßte wortlos und bog um seine Kartentische zu der grünen Sitzecke, die seinem Schreibtisch gegenüber stand, während er im Smalltalk mit einer Museumssekretärin die Wiederkunft des Direktors in Erfahrung zu bringen suchte. Die Sitzecke, in der ich mich niederließ, war angewandte Psychologie, hatte er doch absichtsvoll eine besonders weiche Couch samt zugehörigen Sesseln in seinem Büro plaziert. Hatte man sich hierhin gesetzt, befand man sich zwangsläufig zwei bis drei Köpfe unter dem Herrn dieses Büros, der auf seinem Schreibttischstuhl thronte. Er genoss dieses Spiel sichtlich vor allem dann, wenn seinem Gegenüber dieser Ausdruck der gewünschten Rangordnung nicht bewusst wurde. Allerdings war er auch leicht zu verwirren, indem man sich der Situation entzog. Es störte ihn merklich, blieb man lange stehen oder bediente man sich sogar der Couchlehne als Sitzbasis, weil die sichtliche Ordnung dann gestört war.
An dem bewussten Tag war ich aufgrund meiner gesammelten Erkenntnisse zu Senffs Dissertation wütend genug, dass mir solche Spielereien vollkommen egal waren.
Er hatte sein Telefonat inzwischen beendet und fragte vornübergebeugt „Sie wollen vom Stand ihrer Dissätation berichten?“
Mit einem festen „Genau!“ kramte ich meine Unterlagen heraus, wollte ich doch ein überzeugendes Plädoyer gegen das Senffsche Machwerk führen. Ich verteilte Kopien der Hausgrundrisse und anderer Befunde, legte die Vervielfältigung des Gesamtplanes aus, bereitete auch Beispiele für Senffs katastrophale Listenführung vor. Sein sprachliches Unvermögen regte mich bereits nicht mehr auf, man gewöhnt sich eben an alles. Mein Doktorvater machte große Augen, erkannte anhand der Auszüge die zugehörige Dissertation.
„Sie hatten mir doch empfohlen, mich mit der Arbeit von Senff zu beschäftigen?“, begann ich meinen Verriss.
„Ja. Haben Sie dinn schon mit ihm gesprochen?“, blinzelte er mich an.
„Nee, und ehrlich gesagt hab ich das auch nicht mehr vor, nachdem ich mich durch seine Diss gekämpft habe – kennen Sie den Text?“
„Natürlich, ich hab mich vor allim mit den Teilen beschäftigt, die sich auf meine Doktorarbeit bezogen. Meine Chronologie konnte er nich widerlegen.“
„Das wundert mich nicht. Das hätte er gar nicht können! – Seine Arbeit ist eine Ka-ta-stro-phe! Schauen Sie sich mal die Hausgrundrisse an.“ Ich schob ihm die Abbildungen vor den Bauch, auf denen mehrere Hausgrundrisse auf einen karierten Quadrantenplan eingetragen waren. „Kucken Sie mal auf die Orientierung!“
„Sagensi nich immer Orientierung, die Häuser sin’ doch Nord-Süd-ausgerichtet und nich nach Osten.“
„Gut, sie sind Nord-Süd-ausgerichtet, das schreibt Senff auch – jedenfalls meistens. – Und jetzt kucken Sie sich mal den Gesamtplan an.“
Ich reichte ihm den Überblicksplan hinüber. Er hielt die Kopien in beiden Händen, kniff die Augen zusammen und blickte konzentriert auf die Blätter. Schnell und unwillkürlich drehte er die Blätter so, dass die Karos des Messsystems auf allen Blättern gleich gerichtet waren.
„Hm“, machte er, „ich weiß nich, worauf sie –“ Ich zeigte auf die Nordpfeile der Detailpläne und wies wortlos auf den Nordpfeil des Übersichtsplans.
„Diss is ja, der Nordpfeil“, öffneten sich seine Augen wieder weit, „die Häuser sind Ost-West-orientiert!“
„Und das ist nur einer der offensichtlichen Fehler. Hören Sie, ich habe jetzt ein Dutzend Befunde, die Senff im Text an mehreren unterschiedlichen Stellen nennt, um sie mal als Werkstatthaus und mal als Brunnen zu deuten. Zig Abbildungen fehlen, andere sind falsch zugeordnet. Auf jeder dritten Seite laufen Sätze ins Nirwana, werden nicht aufgelöst.“
Mein Doktorvater sah mich stolz an und begann vorsichtig zu grinsen.
„Am meisten“, zögerte ich einen Moment, „hat mich aber seine Schlampigkeit bei den Rohstoffen genervt.“ Ich hielt ihm Beispiele für die Listen und Tabellen vor die Nase. „Hier! Und da!“, tappte ich mit dem Zeigefinger auf irgendwelche Stellen auf den Blättern. Fehler traf man sowieso immer. Bei jedem Tappen blickte er auf die gezeigte Stelle.
„Nirgendwo nennt er einen Fundplatz korrekt. Immer gibt er irgendwelchen Mist an. Nichts stimmt!“, begann ich mich aufzuregen.
Mein Doktorvater lächelte stoisch, er setzte seine Brille ab, lehnte sich zurück und legte seine gefalteten Hände auf den Bauch.
„Wissen Sie“, atmete er tief ein, „ich habe vor einem Jahr einen Kollegen hier im Inssitut zu Recht als faul bezeichnet. Sie können sich nich vorstellen“, blickte er nun auch noch mit seinem Zeigefinger auf mich, „was diss für ’n Ärger wurde. Diss is bis ganz oben gegangen und ich musste ’n Gespräch midd’m Dekan führen.“ Seine Hand tanzte im Takt des Satzes vor und zurück. „Diss gab ’ne richti’e Vewaanung.“ Er senkte seine Stimme und sprach überbetont „So-et-was-sagt-man-nicht-von-Kol-le-gen.“ Seine Stimme nahm wieder einen normalen Ton an: „Auf dimm Markt zählt sowieso nur, wer zuerst kommt. Seh’n Sie, kennen Sie dinn Hortfund von Szercina?“ Ich nickte lahm, er wedelte mit seiner Brille in der rechten Hand. „Der is von Hussar publiziert worden, in, äh, den Jahrbüchern zu, Sie wissen schon.“ Wieder hob und senkte ich meinen Kopf. „Wassi aber nich wissen, Hussar is nich regulär an den Fund gekommen. Der Beumler, der mit der Eisenzeit, hat den nich nur aussegraben, sonnern wollte ihn natürlich auch siebenunnzwanzich veröffentlichen. Er war aber leider nich schnell genug, Hussar hat Fotos vom Hort in die Finger bekomm’ und – zack – auffin Markt geworfen. Kein Mensch verbinnet dinn noch mit Beumler, alle zitieren nach Hussar. Wer zuerss kommt, mahlt zuerss. Dabei hat Hussar nur ’n Foto vorgelegt und ein paar Zeilen dazu geschrie’m. Wie’n Tiligramm. – Seh’n Sie, Sie könn’ diss natürlich schreib’n. Sie könn’ darauf hinweisen, welche Fehler in seiner Doktorarbeit steck’n. Schreibense’s aber so, dass Senff, wenn er diss liest, von sich denken kann, er is der Größte. Sei’n se vorsichtig, vielleicht sinnsi mal darauf angewiesen, bei ihm zu arbeiten.“ Als er mir mit vorgeschobener Unterlippe den letzten Satz sagte, wurde sein linkes Auge immer größer.