Samstag, 28. Februar 2009

Kapitel 9.2

Micha kam erst spät in die Unterkunft der ehemaligen LPG. Orka fuhr ihn noch vorbei, warf ihn zügig aus dem Auto und brauste mit durchdrehenden Reifen davon. Ich hatte mir gerade den Grabungsdreck in der nachträglich eingezogenen Billigdusche abgewaschen und schlenderte den Gang hinab zu meinem Zimmer, als Micha mir entgegen kam. Wir gingen zusammen in mein Wohnbüro und er überreichte mir mit verdrehten Augen Niv, Stativ und Messlatte.
„Ich muss mich entschuldigen“, war das erste, was er sagte, „du hattest recht. Sie ist eine Katastrophe.“
Ich schwieg, hörte mir den neuesten Tratsch stumm an, tief in meinem Innersten muss ich triumphiert haben, ich weiß es nur nicht mehr. „Wir haben die Befunde in den Quadranten B zehn bis zwölf nivelliert. Erst habe ich abgelesen und sie hat die Latte gehalten, dann haben wir gewechselt und das Ganze nochmal gemacht.“ Er schüttelte seinen Kopf. „Es ist einfach nicht zu fassen: Sie macht falsch, was man nur falsch machen kann. Sie hat Zahlendreher drin, dass sie 19 statt 91 schreibt, sie peilt über den falschen Strich in der Optik, so dass schon auf einer Entfernung von zehn Metern ein Fehler von 30 cm entsteht. Sie guckt nicht richtig. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich die Optik richtig einstellen muss, und ihr gezeigt, wie man das macht. Keine Chance!“ Jetzt zuckte er mit den Schultern. „Ich weiß einfach nicht, was man da machen kann, so schwer ist das doch nicht, das kann doch jeder Idiot.“ Jetzt lachte er wieder wie ein Pferd: „Sogar ich!“
„Mich überrascht das langsam nicht mehr, du hast ja nicht gesehen, was sie für eine Katastrophe beim Zeichnen war. Die Frau kann einfach nix.“
„Welche Frau?“
„Orka!“
„Das ist ’ne Frau?“, lachte er.
Ich stimmte ein: „Biologisch schon!“
Micha lachte und formte mit den Armen an seinem Körper ein großes O: „Üch bün zwoi Tonks!“
Dann fiel mir ein, dass wir sie weiter auf der Grabung ertragen mussten, und mir blieb das Lachen im Halse stecken: „Die geht mir so auf den Keks, die lähmt nur die ganzen Betrieb. Die ist ja sogar zu doof, Befunde zu schneiden. Ich wünsch der fast schon den Tod auf den Hals!“, entrutschte es mir verächtlich.
„Den Tod?“, fragte Micha. „Viel zu harmlos. Da hat’se ja nix von. Besser irgendwas Mieses, woran sie schon zu Lebzeiten viel Spaß hat, zum Beispiel Herpes im Hirn.“ Er lachte und trollte sich gut gelaunt in sein Zimmer: „Ich geh jetz duschen.“

Donnerstag, 26. Februar 2009

Kapitel 9.1

Für den nächsten Tag hatte ich mir von Arnold das Nivelliergerät ausgeliehen. Auf seiner Grabung war es an diesem Tag gerade nicht notwendig, außerdem hatte ich Micha abends bereits davon unterrichtet, dass ich zusammen mit ihm ein paar Höhenwerte prüfen musste. Mehr hatte ich ihm noch nicht verraten.
Er wohnte zwar wie Dieter in relativer Nähe zu der Grabung, weil er weder eine so günstige Bahnanbindung wie der Seemann hatte noch über ein Auto verfügte, übernachtete er während der Grabung ebenfalls in der LPG. Morgens fuhr er gewöhnlich bei Jonas, selten bei Wernher mit, manchmal, so wie an diesem Tag, auch bei mir.
Sylvia und Hans warteten wie jeden Morgen in ihrem Auto, bis die Arbeitszeit begann. Stefan kam mit seinem Pick-up angeeiert und brachte Dieter vom Bahnhof mit, Wernher tuckerte mit seinem Franzosen über die verfahrenen Furchen und Jonas schmierte mit seinem Strich Acht über den schwachbrüstigen Schlamm. Heute tönte „Bo-dooo, ge-nannt der Ro-te!“ aus seinen Boxen. Als letzte legte Orka ein weiteres Mal ihren Japaner tiefer (war er nicht sogar jeden Morgen ein Stück tiefer?) und ächzte mit der blechernen Reisschüssel auf das Gelände. Ihr Getriebe krachte, und Dieter rief lachend: „Oh, Liebestriebe vom Gegrüße!“
Die anderen setzten ihre Arbeit fort, die sie am Vortag wegen des Regens abgebrochen hatten, nur Micha und ich nivellierten alle Befunde nochmal, soweit sie noch messbar oder rekonstruierbar waren, die Orka bereits gemessen hatte.
Stefan baggerte mehr schlecht als recht, Jan schaufelte vor dem Bagger und verteilte die nummerierten Plastikfähnchen, Dieter und Jonas setzten ein paar neue Pflöcke, Hans putzte das regenverplästerte Planum, Sylvia zeichnete hinter ihm her und Wernher schnitt mit Orka die in der Fläche gezeichneten Befunde.
Bis auf Sylvia, die Bescheid wusste, und Hans, den sie sehr wahrscheinlich informiert hatte, wunderten sich alle sichtlich, das Micha mit mir all die Arbeit wiederholte, die bereits erledigt zu sein schien. Jan und Jonas dachten sich ihren Teil allerdings vermutlich, da sie sich bereits darüber lustig gemacht hatten, wie lange Orka an der miserablen Zeichnung des ersten Pillepallebefundes gewerkelt hatte. Schließlich waren Micha und ich fertig mit dem Messen, er begann seine Profilzeichnungen, ich ging in den Bauwagen, um die Werte auszurechnen und mit Orkas Ergebnissen zu vergleichen. Natürlich war das Resultat verheerend. Alle gemessenen Werte stimmten mit den von mir am Vortag erhobenen Daten überein. Orkas Messungen waren falsch.
Ich ging auf die Fläche und bat in harschem Ton Orka zusammen mit Sylvia als Zeugin in den Bauwagen. Außerdem teilte ich Micha mit, dass ich ihn im Bauwagen sprechen möchte, wenn das Gespräch beendet wäre.
Orka stratzte rotzfrech als erste in den Wagen, Sylvia ließ mir den Vortritt und betrat den Wagen als letzte.
„Marion“, eröffnete ich den Anschiss, „ich hab gestern festgestellt, dass ein paar Unstimmigkeiten bei den von dir gemessenen Höhen vorliegen.“ Ich biss mir auf die Zunge.
„D-das sind b-b-bestimmt nur ein p-p-paar Fehler vom Taschenrechner.“
„Nein! Da sind Fehler, die können einfach nicht sein, manche Höhen sind einen halben Meter zu hoch, bei einigen Befunden multiplizieren sich die Fehler noch, weil eine Fehlmessung zu hoch, die andere zu niedrig liegt.“
Orkas Gesicht fiel zu Boden: „K-kann ich d-die W-werte nochmal sehen? Ich w-würde die g-gerne n-nochmal rechnen!“
„Das hab ich gestern Abend schon gemacht und hier auf der Grabung hab ich für solche Sperenzchen keine Zeit mehr!“
„K-kann ich die F-f-formulare dann mit nach H-hause nehmen?“
„Nein!“ Ich sah, Sylvia staunte still über meine Strenge, Orka hatte die Grenze aber inzwischen zu oft überschritten, um auch nur noch einen Funken Freundlichkeit von mir erwarten zu können. Die Zeichnerin schwieg. Orka blickte geknickt auf den Tisch. Sie hatte ihre hingeklatschten Schinkenarme darauf verteilt und wurstelte nervös mit ihren Parodien auf wohlgestaltete Finger.
„Du wirst nicht mehr messen und du wirst nicht mehr zeichnen. Du kannst Befunde schneiden, da hast du genug, was du noch lernen musst!“
„A-aber ich b-bin doch f-fast f-fertige A-a-archologin!“
„Das glaubst du!“
„I-ich h-hab doch sogar sch-schon ein Diplomt-t-thema!“
„Aha, was denn?“
„Ich w-wollte die Gr-größen von Siedlungen ho-hochrechnen. D-das k-kann man mit d-dem Ge-ge-gefälle des Geländes errechnen.“
Ich blickte sie mit einer hähmischen Miene an: „Mit dem Gefälle?“ Sie nickte, dann machte ich wortlos ein höhnisches Geräusch und kontrapunktierte mit „Na, denn viel Spaß.“
Orka musste endgültig gemerkt haben, dass sie jede Gunst verspielt hatte. Vermutlich fühlte sie sich ungerecht behandelt. Schmollend grollte sie sich aus dem Bauwagen. Wenig später tapste Micha zu uns hinein.
„Du kannst dir denken, wie die Ergebnisse von Orka waren.“
„So, wie sie gerade auf die Fläche kam: ja.“
„Sie ist raus aus dem Rennen. Sie zeichnet nicht nur nicht mehr, sie misst auch nichts mehr. Sie wird nur noch schneiden. Schaffst du das Nivellieren neben dem Zeichnen noch?“ Micha nickte. „Dann liegt das jetzt bei dir.“
Er stimmte zu: „Gut, kann ich machen“, und ging wieder raus auf die Fläche. Sylvia schüttelte den Kopf. „Die ist so dreist, das gibt es nicht. Hatte Wernher dir eigentlich erzählte, dass sie hier die Macht übernehmen wollte?“
Verdutzt schaute ich Sylvia an.
„Na, als du letzte Woche zum Baumarkt musstest, neues Flatterband holen. Da hat Orka tatsächlich versucht, hier das dicke Mäxchen zu machen. Weil sie ’ne Studierte ist, war sie der Meinung, dass sie direkt nach dir kommt.“
„Das ist nicht dein Ernst?“
„Doch, du kannst Wernher fragen. Der hat ihr gesagt, sie soll den Ball mal ganz flach halten, Vorarbeiterin sei ich und fürs Technische wäre erst mal Jonas da.“
„Te, das gibt’s gar nicht, warum habt ihr mir das nicht erzählt?“
„Na, ich hab gar nicht mehr daran gedacht. Als du wiederkamst, war’n wir grad so beschäftigt. Mich wundert nur, dass Wernher auch nichts erzählt hat.“
Damit versickerte noch der letzte Rest von Ansehen, das ich gewöhnlich jedem Menschen zugestehe. Orka war Geschichte. Wir gingen aus dem Wagen. Ich kontrollierte an diesem Tag auf der Fläche nur noch ihre Arbeit und achtete ständig darauf, dass sie wenigstens nicht noch mehr zerstörte.
Irgendwann sprach Micha mich von der Seite an: „Sach mal, Orka ist echt geknickt, kann ich nicht noch mal mit ihr zur Übung messen? Sie will wissen, woran es liegt.“
Ich war sauer, und mein Zorn sprudelte weit über sein Ziel hinaus: „Nee, nicht während der Arbeitszeit. Davon hat sie schon genug verbraten und mich zu viel genervt.“
Micha versuchte weiter zu beschwichtigen: „Hm. Und wenn ich mit ihr nach Feierabend noch mal messe? Lässt du uns das Niv da?“
„Dann stehst du mir aber für das Gerät gerade!“, patzte ich weiterhin grundlos den Falschen an.

Samstag, 21. Februar 2009

Kapitel 8.4

Das Waschen der Keramikscherben gehört erfahrungsgemäß mit zu den aufwendigsten Arbeiten, die auf einer Ausgrabung anfallen, obwohl es natürlich auch immer wieder vorkommen kann, dass man auf einer vier Hektar großen Fläche lediglich eine Handvoll kümmerlicher Tonbrösel entdeckt.
Auf der Totenower Grabung füllten die aus den Befunden geborgenen Keramikscherben bereits mehrere große Kartons, daher kam es mir durchaus entgegen, einmal einen Nachmittag in die Unterkunft zu verlegen, um diese Nacharbeit wenigstens zu beginnen.
Hans, Wernher, Dieter und Orka suchten sich eines der weiterhin leerstehenden Zimmer, bauten sich zwei Tapeziertischen auf, suchten aus anderen Räumen Stühle und füllten viereckige Plastikschalen mit Wasser.
Sylvia setzte sich mit mir in mein Zimmer, das zugleich mein Büro war, und arbeitete an den Zeichnungen, während ich die eben abgelesenen Nivellierwerte durchrechnen und eintragen wollte.
Das Scherbenwaschzimmer lag meinem Büro schräg gegenüber, im Hintergrund hörte ich beständiges Geplätscher und das typische Gekritze, wenn mit Wurzel- und Zahnbürsten unterschiedlicher Stärke und verschiedenen Alters über den Ton gefegt wurde. Der einheitliche Geräuschteppisch wurde nur unterbrochen, wenn Scherben oder Bürsten platschend in das Wasser getunkt wurden oder jemand aufstand, um einzelne Keramikecken in die mit Zeitungen ausgelegten Bananenkartons oder andere Kisten zu legen. Dazu plapperten Dieter und Wernher mit Orka. Hans schwieg die meiste Zeit, trotzdem war es selbst aus meinem Büro merkbar, dass sich seine Laune wieder weitgehend normalisiert hatte. Von draußen drappelten dicke Regentropfen an die Fenster der LPG.
„Die Sonnenstrahlen klopfen an“, schmunzelte Sylvia dazu und blätterte mir gegenüber die Zeichnungen durch, vervollständigte Zeichnungsköpfe und Legendenteile, fragte mich zwischendurch nach Zeichenblattnummern und ergänzte Daten. Währenddessen rechnete ich die von mir gemessenen Nivellierwerte nach. Anschließend begann ich damit, sie in die Zeichnungen einzutragen. Dabei stellte ich fest, dass es mehrere Überschneidungen mit den bereits von Orka nivellierten Befunden gab.
Das allein wunderte mich nicht so sehr, schließlich kann so etwas leicht passieren, wenn man mal nach dem Nivellieren vergisst, den einen oder anderen Befund abzuhaken. Ich stolperte aber, als ich merkte, dass sich unsere Werte zum Teil stark voneinander unterschieden. Und es erschreckte mich sehr, plötzlich zu erkennen, dass einige dieser von Orka abgelesenen und gerechneten Werte sogar in sich unstimmig waren. Befunde, die in der Realität auf nahezu ebenen Boden aufgenommen waren, stiegen nach ihren Messungen auf einer äußerst kurzen Strecke unvermittelt um einen Meter an.
„Das kann doch nicht sein!“, stöhnte ich wiederholt und nannte Sylvia einzelne Abweichungen.
„Hat die sich vielleicht verrechnet?“
„Das hab ich auch erst gedacht, obwohl sie sowieso die meisten Subtraktionen mit dem Taschenrechner gemacht hat. Deshalb hab ich mir ihre Rechnungen angeguckt“, glücklicherweise hatte ich stets darauf bestanden, alle Schmierzettel und Kritzelpapiere einzusammeln, um mit etwas Mühe alle Rechnungen nachvollziehen zu können, „und die stimmen! Kuck dir aber mal die Werte an, die sie von der Latte abgelesen hat. Kuck mal, wie falsch die zum Teil sind!“ Die Ausreißer waren teilweise derartig deutlich fehlerhaft, dass es mir jetzt geradezu peinlich war, sie nicht früher bemerkt zu haben.
Zusammen mit Sylvia ging ich Fehler und Zeichnungen durch. Wir schauten uns Orkas Höhenwerte an und verglichen sie mit umliegenden Höhen. Jetzt zeigte sich die Tragik in ihrem ganzen Ausmaß: Einzelne Nivellements auf der Fläche schwebten sogar über der früheren Ackerkrume. Es zeichnete sich am Horizont der Tropfen ab, der das Fass zum Überlaufen bringen sollte. Ich war äußerst verblüfft und wurde sowohl auf Orka als auch auf mich wütend, weil mir ihre miserable Messleistung erst so spät aufgefallen war. Sylvia schüttelte nur den Kopf.
Gleichzeitig war ich unsicher genug, auch die von mir gemessenen Werte nicht als endgültig anzusehen. Immerhin konnte auch ein Fehler im Nivelliergerät vorgelegen haben. Ich beschloss, mir für den nächsten Tag das Niv von Arnold oder Wieland zu leihen und zusammen mit Micha besonders strittige Werte zum dritten Mal zu messen.
Im selben Moment klappte die Eingangstür am Ende des Ganges. Drei Gestalten raschelten in Regensachen und plapperten unverständlich. Micha lachte dazu laut, Jonas hö-hö-te und Jan schien der Stimme nach etwas unentschlossen zwischen Freude und leichtem Ärger zu pendeln. Sylvia und ich sahen uns stumm an. Die drei Nachzügler stapften den Flur zu meinem Büro und blieben vor der Tür stehen. Jetzt konnten wir sehen, dass sich auch in ihren Gesichter die Laune widerspiegelte, die uns akustisch angekündigt worden war. Micha lachte: „Haha, das hättet ihr sehen müssen.“
„Hätten sie nicht“, widersprach Jan bellend.
„Doch, doch“, waren sich Micha und Jonas in einem Atemzug einig.
Der geistige Herbst in meinem Büro hatte meinen Schreibtisch mit Bergen von vollgekritzelten Blättern bedeckt, Sylvia saß mir gegenüber gerade aufgerichtet. Ihre Unterarme ruhten aufeinander, so dass ihre Arme ein Dreieck bildeten, das von ihrem Kopf gekrönt wurde. Wir blickten uns fragend an.
„Hähä, ihr hättet Jan sehen müssen!“ Michas Gesicht zog eine Fratze, „Ihr kennt doch seinen Poncho.“
„Dieses schwarze Ku-Klux-Klan-Ding mit der spitzen Kapuze?“
„Genau! Das Ding, das man auch als Zelt nutzen kann.“
„Ich weiß.“
„Aber eben auch dann“, lachte Micha, „wenn ihn jemand trägt.“ Er deutete auf den grinsenden Jonas. „Jan hockte noch, um ein Stück Planum sauber zu machen, da hat Jonas ihm den Poncho mit Heringen festgetackert.“ Jan blickte wie ein verwirrtes Haustier, das nicht recht wusste, warum es ausgelacht wurde. Sylvia freute sich: „Nu, da is er ja wenigstens nicht nass geworden.“
„Habt ihr denn die Fünfzehn fertig gekriegt?“, fragte ich etwas ernster.
„Ja, alles kein Problem“, beruhigte Micha.
Von hinten kam Wernher an: „Da seitta ja wieder, Mönsch, wat müffelt hier denn so?“
Jetzt sah Jan seine Chance, die Schmach wieder gutzumachen: „Das is Jonas hier.“ Er hielt sich die Nase zu: „Die Rastalocken riechen wie nasser Hund!“
„Ist der Bagger schon wieder fertig?“, erkundigte ich mich.
„Nee, der is bis Feierabend beschäftigt. Morgen soll er aber wieder laufen.“
„Dann könnt ihr euch ja eben umziehen und dann auch noch ein bisschen Scherben waschen.“ Die drei, die ebenfalls in dem früheren LPG-Gebäude wohnten, zerstreuten sich in ihre Zimmer.
Wernher nutzte die Gunst: „Kann ick dich ma kurz sprechn?“
Sylvia stand auf: „Ich muss sowieso mal wohin“, und ging aus dem Zimmer, Wernher rotierte in mein Büro hinein und schloss die Tür.
„Ick wollt noch ma wejen heute mit dir reden. Det war ja eijentlich keene schöne Sache nich, aber det hat mir jezeicht, det du menschlich urst knorke bis. Det ha’ck dir nur ma sa’n woll’n.“ Wernher hielt mir die Hand wie zum Dank hin. Das war meine letzte Überraschung an diesem unseligen Tag. Diesmal positiv.

Samstag, 14. Februar 2009

Kapitel 8.3

Wernher ging Werkzeuge holen, um Hans zur Hand zu gehen, während ich zu Sylvia lief. Sie hatte hatte von dem Streit offenbar nur wenig mitbekommen. Ich schilderte ihn ihr kurz und fragte: „Sach mal, was ist denn mit Hans los? Ist der heute mit dem linken Bein aufgestanden?“
„Keine Ahnung. Vielleicht liegt’s ja auch daran, dass er erst vor dieser Grabung mit dem Rauchen aufgehört hat. Ich weiß es nicht“, sie unterbrach sich selbst und lenkte ab, „du, kuck dir mal Orka an.“.
Ich drehte mich in die entsprechende Richtung und wurde Zeuge einer Sitzgelegenheit, die ich anatomisch bislang für unmöglich gehalten hätte. Die Körperhaltung, die die massiv-passive und passiv-massive Orka gerade einnahm, hätte bei normalförmigen Menschen einem Hocken entsprochen. Orka dagegen gelang es, auf ihren aufgeblähten Unterschenkeln regelrecht zu sitzen, ohne erst in die Hocke gehen zu müssen.
„Jetzt kuck dir mal die Gummistiefel an, die werfen ja Falten“, staunte Sylvia. Richtig, Orka hatte ihre roten Gummistiefel passend zur Schuhgröße gewählt. Und so wie die meisten Dicken überproportional häufig besonders kleine Füße haben, entsprach die Stiefelgröße nicht ihrem Beinumfang. Sie muss sichtliche Mühen dabei gehabt haben, den Kautschuk über das gedunsene Gewebe zu rollen. Nun schlugen ihre Stiefel Falten.
„Haste den Dieter heut morgen gehört?“, fragte Sylvia. Ich schüttelte den Kopf. „Als sie mit ihr’m tiefergelegten Japaner ankam, hat der Seemann ,Da bläst er!' gerufen.“
Im nächsten Moment wälzte Orka ihre Beine herum und akrobatierte am halb ausgenommenen Befund. Dabei trat sie ungelenk in das Profil und entriss dem Planum den rechten der beiden Nägel, die ich bei jedem Befund setzte, um die Schnittrichtung festzulegen.
„Jetzt kuck dir das an“, sagte ich zu Sylvia und stemmte die Hände in die Hüften, „jetzt rammt sie nicht nur den Nagel raus, sondern steckt ihn ’n Stückchen weiter wieder rein. Das gibt’s doch nicht. Mal gucken, ob sie zu dir kommt, damit du den Nagel auf der Zeichnung korrigieren kannst.“
Sylvia schüttelte den Kopf: „Die kommt nicht. Das hab ich schon ein paar Mal gesehen und ich hab es ihr jedesmal gesagt. Die kommt nicht von allein.“
„Das hat sie schon ein paar Mal gemacht?“, verdutzte es mich, „Das kann ja wohl nicht sein. Ich denk, die hat schon mal gegraben? Wie kann man denn so blöde sein? Da passt doch keine Profilzeichnung mehr zu den Plana!“, regte ich mich auf.
„Die hab ich ja schon korrigiert“, beschwichtigte Sylvia noch, dann ging ich zu Orka.
„Marion? Hör mal, ich hab gerade gesehen, dass du den Nagel rausgerissen hast und einfach neu gesetzt hast. Ich weiß, dass das mal passieren kann, dann musst du aber Sylvia Bescheid sagen, dass sie das auf den Plänen korrigiert.“ Ich sah nun aus der Nähe, wie sie sich im Sandboden an die Schnittkante vorarbeitete. „Außerdem wäre es hilfreich, wenn du dich den Nägeln vorsichtig annäherst und erst mal fünf bis zehn Zentimeter davor stehen lassen würdest.“
„D-das ist mir gerade zum ersten Mal p-passiert.“
„Aha?“ Es war einfach unmöglich, dass sie von meinem Gesicht nicht ablesen konnte, dass ich es besser wusste.
„Ich p-pass jetzt auf.“
„Und das Eintreten des Profils macht übrigens einen Kasten Bier fürs Team. Alte Grabungsregel.“ Marion schwieg. Ich war sauer und ging wieder zu Sylvia. Die Zeichnerin stand inzwischen bei Hans und Wernher, die gerade mit ihrem Profil fertig waren.
„Als ob es nicht reichen würde, dass irgendwelche Idioten am Wochenende Profile eintreten!“, motzte ich.
„Na, immerhin fahren sie nicht mit Motorrädern über die Fläche“, erwiderte Hans.
„Stimmt, Arnold erzählte auch schon so was, dass die bei anderen Grabungen hier schon mal mit ’ner Enduro oder mit diesen Quads herumeiern. Das soll’nse hier mal machen, bei der Fünfzehn können se sich schön den Hals brechen“, empfahl ich.
Für die Untersuchung des Befundes Nummer Fünfzehn hatten wir ein besonders tiefes Loch anlegen müssen. Die Laune von Hans und Wernher war inzwischen wieder merklich gestiegen.
„Sowas hätt’s früher nich gegeben“, war Hans sich sicher, „kuck dir nur mal die Wiesen an den Straßen an. Heute wuchert das alles, zu Ostzeiten war’n die alle schön gemäht.“
„Stimmt“, bestätigte Sylvia, „weißte noch, Hänschen, da stellten alle ihre ,Hier mähe ich'-Schilder auf.“ Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich, ihr Gemüt versank in Ostalgie, blieb aber doch so in der Jetztzeit hänge, dass sie mir erklärte: „Mit dem Gras haben wir immer unsere Kaninchen gefüttert.“
„Na, und heute“, drängte sich auch Wernher in die schönen Erinnerungen, „heute ham die Jemeinden nich ma jenuch Benzin, det se im Mai noch mähen könn. Ihr müsstet ma zu mir komm. Vor mei’m Haus mäh ick jetze schon selber. Det is doch keene Art!“
„Ja, aber dafür darf die Jugend im Frühsommer Silvesterraketen zünden, und Privatleute kaufen sich Sprengstoff“, ereiferte sich Hans.
„Ah, stimmt, gut, dass du darauf kommst“, klinkte ich mich ein, „ich hab am Wochenende mal mit einem alten Schulfreund telefoniert, der studiert Jura, dem hab ich von dem Sprengstoff erzählt und der wunderte sich gar nicht, der erzählte, dass man nach dem STGB sogar nur mit fünf Jahren Bau bestraft wird, wenn man eine Atombombe zündet.“
„Fünf Jahre?“, fragte Sylvia nach.
„Fünf Jahre ist die Höchststrafe. Das ist die gleiche Höchststrafe wie bei Eigentumsdelikten. Du kannst also genauso lange verknackt werden, wenn du auf dem Campingplatz ’n Zelt klaust. Das heißt, vielleicht kriegste noch was extra, wenn bei der Atomexplosion jemand draufgeht.“
„Na, das glaub ich fast nicht“, schüttelte Sylvia den Kopf, „bei uns im Ort hat letztens der geschiedene Sohn von irgendeinem Hotelier drei junge Mädchen totgefahren, weil der besoffen und unter Drogen in einer Kurve überholt hat. Der hat nur ein Jahr auf Bewährung bekommen.“
Hans bestätigte kopfnickend: „Dem ist fast nix passiert. Nur ’n Beinbruch. Der hat noch im Krankenhaus wieder mit seinen Drogenpartys angefangen. Das hätt’s damals auch nicht gegeben.“
Meine Vorstellung über den behördlichen Ablauf bei einem durch einen SED-Funktionär verursachten Unfall behielt ich für mich. „Tja, es ist eben lange nicht alles Gold im Westen“, grinste ich, „eure Propaganda hat nicht immer gelogen.“
„Das stimmt“, bestätigte Hans.
„Aber was soll’s. Gerade als Archäologe seh ich das ziemlich abgeklärt, irgendwie fatalistisch. Es ist schließlich noch jedes Imperium untergegangen. Alle Systeme sind irgendwann gescheitert, und trotzdem geht es irgendwie weiter.“ Ich zuckte die Schultern, Hans verstand meine Haltung.
Von der Seite hörte ich, wie Jonas Micha zuquatschte. Jonas sprach ziemlich gut deutsch, er redete aber auch immer gerne sehr viel. Gerade unterbrach er seine Arbeit, um vor Micha herumzukaspern. Der Profilzeichner lachte tiefhalsig. Der Schwede präsentierte seinen Spaten und rief: „Das hier ist mein Spaten, es gibt viele andere, aber dieser ist meiner, mein Spaten ist mein bester Freund. Ohne meinen Spaten bin ich nutzlos, ohne mich ist mein Spaten nutzlos.“
Ich grinste, als ich das Filmzitat hörte. Sylvia wackelte mit dem Kopf: „Der redet auch nur die ganze Zeit.“
„Ha“, ich musste schmunzeln, „der ist doch nur die Ausnahme von der Regel.“
„Welche Regel?“
„Mein Doktorvater hat in Seminaren immer gefragt, ob Anthropologen anwesend sind. Wenn sich jemand meldete, dann hat er gefragt, woran man am Skelett Frauen und Männer unterscheiden kann. Die Anthropologen erzählten dann immer vom unterschiedlichen Becken, von den Überaugenwülsten und den stärkeren Kiefern.“ Ich wies auf die entsprechenden Körperteile und -stellen. „Und erst hier hakte mein Doktorvater dann ein. Kiefer stimmt, sagte er dann, und dann schob er den Unterkiefer vor und zeigte mit den Zeigefingern auf das Unterkiefergelenk“, ich machte die Geste nach, Sylvia grinste erwartungsvoll, „und erklärte, dass das Unterkiefergelenk bei Frauen stärker abgenutzt ist. Nach einer kleinen Pause sagte er dann: Weil Frauen die ganze Zeit plappern, rabrabrabrabrab.“ Ich machte mit der Hand die sprechende Geste, mit der auch mein Doktorvater das sinnlose Sprechgeräusch jedes Mal unterstrich.
Hans und Sylvia lachten, dann lenkte Sylvia unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit: „Orka muss bald wieder nivellieren, da fehlen noch Werte.“
„Nee, die kann erst mal weiter schneiden, da kann sie noch ’ne Menge lernen. Hans? Du kannst wieder Planum putzen, Wernher, wir zwei nivellieren, holst du schon mal Stativ und Latte?“
„Ja, marick.“ Wernher drehte sich im Sprechen und ging zum Werkzeugcontainer. Hans freute sich, wieder mit Sylvia zu arbeiten. Ich lief zum Bauwagen, kramte die Pläne hervor, auf denen noch unnivellierte Befunde waren und suchte mir dazu ein paar leere Formulare.
Bevor ich wieder auf die Fläche ging, nahm ich das Nivelliergerät aus dem Kofferraum des Dienstwagens und stieg zu Wernher, der bereits das Stativ an strategisch günstiger Stelle aufgebaut hatte. Ich schraubte das Niv fest, richtete es waagerecht aus und fertigte zusammen mit Wernher eine Skizze an, auf die ich die Befunde kritzelte, die wir nivellieren mussten. Ich markierte ihm genau die Punkte, die ich gemessen haben wollte, und zeigte sie ihm. Bevor wir mit dem eigentlichen Nivellieren anfangen konnten, ging er mit der Latte auf den Höhenpunkt, für den wir ja glücklicherweise einen TP am naheliegenden Soll hatten. Dann klapperte Wernher die Befunde nach meiner Skizze ab, und ich notierte die Ablesewerte. Die Rechnung wollte ich erst später im Bauwagen machen.
Kaum hatten wir die zwanzig Befunde nivelliert, als auch schon wieder irgendein Auto von der Landstraße zu den Bauwagen abbog. Wernher kannte den Wagen nicht, Sylvia und Hans auch nicht. Aus dem Wagen stieg ein grauhaariger Mann, der eigentlich nur aus Bauch bestand, an den jemand zwei Arme und zwei Beine gesteckt hatte.
Genervt über den ungebetenen Besuch bat ich Wernher: „Baust du schon mal das Niv ab, ich kümmer mich um den Idioten. – Wer immer das ist.“
Der Grauhaarige hielt sich nicht damit auf, vor der Fläche stehenzubleiben, sondern stakste direkt auf die Grabung.
„Hallo“, rief ich ihn an, „bleiben Sie mal bitte draußen.“
„Jaja“, versuchte er zu beschwichtigen, „ich kenn das, ich war schon oft auf Ausgrabungen.“
Ich kletterte aus dem Schnitt auf den stinkenden Acker: „Tach, kann ich Ihnen helfen?“
„Ja“, er streckte mir seine Hand wie bei einem Messerangriff entgegen, „mein Name ist Fornefett. Jürgen Fornefett. Sind Sie der Vorarbeiter?“
„Ich bin der Grabungsleiter, ja.“
„Ich bin ehrenamtlicher Denkmalpfleger. Ich hab die Ausgrabung hier angeleiert.“
„Hm.“, staunte ich, schließlich kannte ich die Hintergründe, das reguläre Prozedere mit Bauanträgen und Genehmigungen.
„Ja, wenn ich keinen Leserbrief an die Zeitung geschrieben hätte, dann wär hier einfach alles weggebaggert worden. Mein Vater hat hier schon immer gegraben, ich kann Ihnen mal meine Ordner zeigen, ich hab ja den ganzen Keller voller Ordner.“
Er versuchte, mich zu seinem Wagen zu leiten. Dämlicherweise ging ich mit und stand neben ihm, als er den Kofferraum öffnete. Der rollende ,Keller' war mit anderthalb Dutzend Ordnern gefüllt, blind griff er einen aus der Menge.
„Schaun Sie mal hier. Mein Vater war ja Dorfschullehrer. Der musste immer gegen den Paster, der ist immer mit seinen Konfirmanden auf Raubzug gegangen, da musste mein Vater mit seinen Schülern immer die Grabhügel in der Umgebung retten.“
„Retten?“, fragte ich skeptisch.
„Jaja, der Paster hätt sonst alles ausgegraben. Schaun Sie mal, kennen Sie das hier?“, keuchte er und versuchte mich zu testen.
„’ne Urne“, antwortete ich gelangweilt und bemüht, „vorrömische Eisenzeit, scheint“, ich betrachtete das stockfleckige Bild und zögerte, „unverziert.“ Er blätterte die vergilbten Pappseiten weiter, auf denen sich unscharfe Schwarz-Weiß-Fotos mit überaus krakeligen Kugelschreiberskizzen abwechselten.
„Genau, keine Verzierung. Sehen Sie den Boden? Da sind Sie mit ihrer Grabungsfläche genau auf der richtigen Höhe. Hier können Sie Funde erwarten.“
„Ach“, machte ich überrascht.
Nun sagte er einen Moment nichts und kam dann schwer atmend auf den Punkt: „Sagn Sie mal, können Sie mir einen Detektor empfehlen?“
„Einen Detektor?“
„Na, son Metalldetektor, dann kann ich mal mit ’nem Detektor über die Felder gehen. Die sind zum Teil ja ganz schön teuer, da möcht ich doch gleich das Richtige kaufen.“
„Ähem, Sie wissen schon, dass das verboten ist?“
Er hm-te mehrfach, legte den Ordner zur Seite und öffnete einen Karton in der hinterletzten Ecke des Kofferraums. Daraus griff er ein grünweiß gebundenes Buch, das er vorsorglich in eine vergilbte Prospekthülle gesteckt hatte, und hielt es mir direkt vor die Nase. „Wolln Sie das Buch kaufen? Das ist die Chronik von Totenow, die hat mein Vater geschrieben.“
„Kann ich vorher mal reingucken?“, ich hielt meine offene Hand in die Richtung des Buches.
Erbost zog er das Buch mit beiden Händen zur Seite: „Nein, Sie haben ja dreckige Hände.“
„Dann kauf ich das auch nicht.“
Er wurde sichtlich wütend und steckte das Buch wieder in den Karton. Dann drehte er sich um und zeigte auf den Soll: „Da oben war ja mal ein Überwachungsturm vom Arbeitslager.“
Ich blickte zu dem Soll, sagte aber nichts, Fornefett nervte mich und sollte das auch merken. Von der Fläche kam Dieter, er war auf dem Weg zum Bauklo. Als er Fornefett sah, grinste der Seemann, grüßte ihn kurz von der Seite und marschierte an uns vorbei. Fornefett grüßte noch kürzer und verbissen zurück. Er schwieg und hatte inzwischen offenbar erkannt, dass er störte. Also verabschiedete er sich und fuhr endlich los.
Dieter stieg aus dem Klo, als ich noch am Bauwagen stand und Fornefett auf die Landstraße abbiegen sah. Dabei verursachte der beinahe einen Unfall, weil er sehr gewagt vom Acker in den fließenden Verkehr schleuderte.
„So ein Arschloch“, sagte ich, und Dieter amüsierte sich: „Na, da haste ja unsern Maurer kennengelernt.“
„Maurer?“
„Ja, der hat früher gemauert, inzwischen ist er in Rente und hat noch mehr Zeit zum Raubgraben. Ich kenn einen vom Bauamt, der sagte, dass Fornefett die Grabungen hier machen wollte. Alle.“ Dieter grinste schnippisch.
„Er sagte, er sei Ehrenamtlicher?“, fragte ich.
„Ja, was man so nennt. Früher in der DDR, da hat er immer gemauschelt, da konnte er irgendwie besonders gut mit dem Bezirkarchäologen, keine Ahnung warum. Aber er hat immer nur raubgegraben. Der muss den ganzen Keller vollstehen haben. Und bei sich im Garten hat er ein Hünengrab nachgebaut. In klein. Daneben hat er noch eine Urne als Vogelbad stehen.“
Ich glotzte Dieter erstaunt an: „Der hat mir gerade die Dorfchronik angeboten.“
„Von Totenow?“ Ich nickte. „Und – hast du sie gekauft?“
„Nee, ich durfte vorher nicht reingucken.“
„Glückwunsch. Ich kenne zwar nicht viele Dorfchroniken, seine dürfte aber so ziemlich die schlechteste sein, die ich jemals gesehen habe. Die ist total beschissen.“
„Sein Vater hat die geschrieben?“
„Nee, nur vorbereitet. Der is vorher gestorben, da hat sein Bruder die Unterlagen abgetippt und dann haben’se das auf eigene Kosten drucken lassen. Aber da sind nur Listen mit Vereinsmitgliedern drin. Schützenverein, Kaninchenzüchter, Kleingarten, Trachten – alles seit neunzehnhundertirgendwann. Und immer steht irgendein Fornefett auf den Plätzen eins bis drei. Die wohnen in Totenow schon seit Menschengedenken. Aber gut, hier guckt ja sowieso über jeden Zaun son Wasserkopp.“ Dieter verzog den Mund zu einer verächtlichen Mimik. „Hoffentlich kommt der nicht wieder.“
„Das hoffe ich auch.“
„Vor allem nicht, wenn mal die Presse kommt. Da spielt er sich immer ganz besonders auf und erfindet irgendwelche Räuberpistolen.“
„Eben erzählte er irgendwas von einem Wachturm auf dem Soll?“
„Wachturm?“, fragte Dieter.
„Von einem Arbeitslager?“
Dieter winkte ab, „Das war doch auf der anderen Seite von Totenow. Das weiß hier jeder. Da steh’n sogar noch die Ruinen. Der spinnt!“ Dieters rechter Zeigefinger drehte Kreise an seiner Schläfe. Dazu streckte er die Zunge raus und schielte.
„Siehste den Hof da unten?“, fragte er dann und zeigte an den Dorfrand.
„Mit dem grauen Haus?“
„Nein, den Hof neben dem Strommast. Da, links.“ Ich nickte. „Den hat letztes Jahr ’n Wessi mit seiner Frau gekauft. Als die da eingezogen sind, kam ’ne alte Frau vorbei, die wohnt jetzt ein Dorf weiter im Altersheim und die war da geboren. Als die Wessis da eingezogen sind, ist die dahin und erzählte, das wär ihr Geburtshaus und sie wollt sich das nochmal ankucken. Die Wessis freuten sich, zeigten ihr das Haus, und sie erzählt zu jedem Raum irgendwelche Geschichten. Irgendwann quatschte Fornefett die Wessis dann im Dorf an und bei der Gelegenheit erzählten sie von der alten Frau. Da ist der total ausgeflippt, das würde ja gar nicht stimmen, die käme gar nicht daher. Die Wessis staunten, haben aber nicht weiter darauf reagiert. Ein paar Tage später stand die Neunzigjährige dann wieder vor deren Tür und heulte. Da hat der Idiot doch tatsächlich bei der Frau angerufen und sie beschimpft, warum sie denn erzählt, dass sie da geboren ist, das könnte ja gar nicht sein, er weiß genau, wer hier wo geboren ist und sie is doch bestimmt ’n Bastard. Naja, und darum rief sie jetz die Wessis an, um sich zu entschuldigen und weil sie Angst hatte, dass sie glauben, sie hätte die beiden angelogen.“
Ich ließ meine Kopf verstehend nach hinten kippen und machte große Augen.
„Natürlich ist die da geboren, er kann das ja auch gar nicht wissen, ist schließlich ’n Vierteljahrhundert jünger. Der hat sonen Dachschaden, der Idiot. Das ist einfach ein Arschloch!“, geringschätzte Dieter. Ich nickte und wir gingen beide zurück auf die Fläche.
„Übrigens muss das Klo bald mal geleert werden“, sagte er dann, „das ist schon wieder eine Woche überfällig.“
Ich nickte und erwiderte: „Darum kümmere ich mich nachher noch.“ Für ein Telefongespräch war ich eindeutig zu aufgeregt wegen des Zoffs zwischen Hans und Wernher, der Profilzerstörung durch Orka und jetzt auch noch wegen dieses Fornefetts. Ich musste mich einfach körperlich betätigen und ein paar Befunde schneiden und ausnehmen.
Oben auf dem höchsten Punkt der Grabung arbeiteten Wernher und Micha konzentriert. Wernher schaufelte um einen Findling herum, bei dem nicht klar war, ob er zu einem anthropogenen Befund gehörte, Micha hockte daneben in einer Grube und zeichnete. Ich hatte von der Fläche einen unbenutzten Spaten genommen und stellte mich leise neben Micha.
„Gut sieht das aus“, bewertete ich seine Zeichnung.
Sein ganzer Körper zuckte: „Hast du mich erschreckt!“
„Na, so hässlich bin ich nu auch wieder nicht!“, schlagfertigte ich ihn ab, und Micha pferdelachte so laut, dass Hans mit einem genervten Blick zu uns herüberschaute.
„Was willste denn mit dem Spaten?“, fragte Micha dann.
„Ich muss mich abreagieren, ich muss ein paar Befunde schneiden“, sagte ich und begann zu graben.
„Aha“, grinste der Zeichner, „soll’n wir unten ein Schild aufstellen ,Hier gräbt der Chef'?“
Ich schmunzelte, „Das ist hier irgendwie nicht so üblich bei dem Amt, dass der Leiter selber mitgräbt, kann das sein?“
Wernher meldete sich leicht ungehalten zwischen, „Naja, das nimmt uns ein wenig Arbeit ab. Dann sind wir zu schnell fertig.“
Micha rechtfertigte mich: „Ist aber immer noch besser als der Knochen, der immer von der Grabung weggefahren ist, um uns dann vom Gebüsch zu beobachten.“
„Jochen meinst du.“
„Aus dem Gebüsch?“, fragte ich.
„Ja, der is immer weggefahren und irgendwann haben wir dann mal gesehen, dass er nur den nächsten Feldweg rein is, um zu gucken, ob wir arbeiten. Auf der Grabung hat er sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Wusste aber immer, was wir getan haben.“
Wir hörten das Gepinge der Bahnschranke. Es war erstaunlich laut, erst jetzt registrierte ich, dass der Bagger nicht mehr lief. Ich rief zu Stefan und Jan: „Was is’n los? ’n Raucherpause? Getankt hat er doch gestern?“
Jan rief zurück: „Nee, der Bagger is kaputt.“ Stefan fügte hinzu: „Hier is’n Schlauch von der Hydraulik im Arsch. Ick muss ma int Dorf, meinen Scheff anrufen, der soll ’n Techniker rausschicken.“ Er ging zu seinem Wagen, um zum Telefon zu fahren. Jan kam zu uns rüber, um beim Schneiden zu helfen.
Ich schwieg, griff zum Spaten und begann den nächsten Befund zu schneiden.
„So wie du da reinhackst, musst du dich wohl abreagieren“, merkte Micha.
„Das kann man sagen. Eben war son Heimathirsch da, der Fornefett, kennste den?“
„Ach, der war das eben“, Micha nickte, Wernher auch.
„So ein Vollidiot. Ich hab ja schon viele Ehrenamtliche erlebt, aber der –“, ich machte ein möglichst verächtlich klingendes Geräusch. „Kennt ihr die Inga Abelt?“ Beide verneinten wortlos. „Die spielt die rothaarige Ärztin in der Lindenstraße und die ist auch Ehrenamtliche. Ich war mal auf ’ner Grabung im Norden von Düsseldorf, da kam die immer an. Die hat wirklich Ahnung und setzt sich für die Archäologie ein. Besonders lustig war mal ein Tag“, lachte ich, „an dem wir einen geologischen Schnitt in die alten Rheinauenböden gesetzt haben. Da ist sie dann auch rein mit ihren rosa Kindergummistiefeln und kam alleine nicht mehr raus.“ Ich malte mit der flachen Hand die Größe der Schauspielerin in die Luft, um die verpatzte Pointe zu erklären: „Die ist ja nur so groß. Naja, der Grabungsleiter war ganz Kavalier alter Schule und hat ihr dann rausgeholfen.“
„Na, mit den Ehrnamtlichen is det sone Sache, det stimmt schon“, nickte Wernher und sah zu Micha, „du kennst doch det Kläuschen.“
„Den Goldsammler?“
„Jenau den. Det is son Sondenjänger, der rennt den janzen Tach über die Äcker mit sei’m Apparat. Der hat aber ooch een janz feinet Näschen“, Wernher setzte sein Katergesicht auf und tippte sich auf die Nase, „der findet allet. Na, und um an seine Sammlung zu kommen, ham’ se ihm die Funde mit Arbeetsverträjen abjekooft. Der durfte monatelang seine eijene Sammlung katalojisier’n und hat dafür noch Jeld jekricht. Nu sach mal“, wandte Wernher sich zu mir und zeigte mir seine leeren Handinnenflächen, „is det nu jerecht? Unsereiner immer ehrlich, hat nüscht jestohln, und der wird noch mit Arbeit belohnt!“
Ich verneinte und ergänzte: „Aber ich weiß, dass es oft schwer ist, manche Heimathirsche einzubinden.“ Dann spatete ich meinen Befund wortlos weiter.
„Ha!“ machte Wernher plötzlich, „ick musste jrad an Besuch denken, den ick mal uff ’ner Jrabung hatte.“ Zur Erzählung stützt er sich auf den Stiel seiner Schaufel. „Det war ooch son linearet Projekt wie dit hier jetze. Da musste der Jrabungsleiter ma kurz zum Baumaakt und sacht zu mir, Wernher, ick muss ma e’m los, du übernimmst so lang die Leitung. Der is kaum wech, da kommt uff eenmal son Hubschrauber und landet mitten uffem Planum. Ick denk bei mir, det kann doch nich wahr sein, ham die noch alle Tassen im Schrank, oder wat, da steicht uff eenmal son Schlipsträjer aus dem Hubschrauber und hat so zwee weißrussische Schränke ne’m sich.“ Wernher zeichnete erst einen Schlips auf seiner Brust und formte dann mit beiden Händen zwei Schlägertypen in der Luft. „Ick sach, moment mal, det jeht aber nich, Sie können doch nich hier uff det Planum landen – da stellt der sich vor, Juten Tach, ick bin der Sowieso vom Straßenbauamt, det is mein Projekt, zeijense mir doch ma bitte, wat Se hier schönet jefundn ham. Nu, ick erklär ihm allet, führ ihn über die Fläche, immer diese beiden Schränke anbei, er ist janz bejeistert und fliecht irjendwann wieder mittem Hubschrauber los.“ Seine Hand machte eine schraubende Bewegung nach oben. „Ick sach dir“, wandte Wernher sich an mich, „der hatte jrad abjehoben, da kam der Scheff wieder. Da sarick dem, du hass jrad wat verpasst. Da war ’n Hubschrauba uff die Fläche. Der zeicht mir natürlich ’n Vogel – bis die andern uff de Jrabung meine Jeschichte bestätijen. Det war ’n Ding!“ Wernher freute sich, Jan lachte.
Micha stand inzwischen auf und blickte an mir vorbei. Ich hielt inne und drehte mich um: „Son Mist, da zieht ja ’ne Front auf! Heute sollte doch den ganzen Tag die Sonne scheinen.“
„Das tut sie ja auch – da drüben.“ Micha zeigte mir die Wetterscheide zwischen unserer Untersuchung und der Grabung von Wieland. Die Regenwand zog nur zu uns.
„O.K.“, ich rief so laut, dass mich alle hörten, „es ist zwar sowieso bald Feierabend, aber wir fahren noch zur LPG, da können wir noch ein paar Scherben waschen.“ Sylvia und die Arbeiter waren inzwischen auf mich zugelaufen. Ich ergänzte: „Ich brauch aber noch ein paar Freiwillige, die den Befund von Or-, Marion fertigmachen, der ist schon so weit, der geht sonst kaputt.“
Jonas und Jan erklärten: „Das machen wir, Micha kann ja zeichnen.“
„Gut, der Rest packt dann ein. Jonas? Wenn der Techniker für den Bagger schnell genug fertig werden sollte, soll Stefan den Abraum bewegen. Nicht, dass einer vom Amt vorbeikommt und Stunk macht.“
„Sag ich ihm.“
Wernher half derweil beim Almabtrieb und forderte die anderen auf, die Werkzeuge zusammenzukramen: „Dawai-dawai, ihr habt ja jehört, wat der Scheff jesacht hat, det jeht zum Scherbenwaschn!“, und machte weit ausholende Scheuchbewegungen mit beiden Armen. Wir verteilten uns auf die Wagen und fuhren zur LPG, zum Scherbenwaschen.

Freitag, 13. Februar 2009

Kapitel 8.2

Eines Tages musste ich jedoch einsehen, dass nicht einmal diese zivilisatorischen Grundfähigkeiten von Orka zu erwarten waren. Der Vormittag verlief noch verhältnismäßig ruhig, abgesehen davon, dass der Bauer die umliegenden Felder mit irgendeinem ominös stinkenden Giftzeug bespritzte, das in Schwaden auf unsere Grabungsfläche herüberzog. In der Mittagspause bedankte sich der gutgelaunte Hans noch bei mir für die Empfehlung jugoslawischer Fleischgerichte. Erst am Vortage hatte er im Supermarkt entdeckt, dass es gefrorene Ćevapčićis in Tüten gab. Er hatte gleich eine davon gekauft und ihren gesamten Inhalt noch am selben Abend verspeist.
Nach der Pause verschärfte sich die Gemengelage allerdings schlagartig. Micha nervte vor allem die älteren Arbeiter Wernher, Dieter, Hans und Sylvia, indem er am Werkzeugcontainer plötzlich mehrere Silvesterraketen zündete. Ich fand die Aktion lange nicht so schlimm wie das, was er ja ursprünglich vorgehabt hatte, ermahnte ihn aber mit erhobenem Finger vor der Grabungsöffentlichkeit, um den Personalfrieden weitgehend wiederherzustellen.
Der noch gut gelaunte Hans hatte zuvor so viel von der Fläche geputzt, dass ich ihn nun ein paar Befunde schneiden lassen wollte, während ich im Bauwagen Befundbeschreibungen in Formblätter übertrug. Nach einer Zeit schneite Sylvia zusammen mit Wernher in den Bauwagen, er hatte einen größeren Befund zu Ende geschnitten und erkundigte sich nach dem weiteren Vorgehen, Sylvia war mitgekommen um anzumerken, dass sie doch überraschend schnell mit dem Zeichnen der Quadranten vorangekommen war. Ohne mir viel Gedanken zu machen, entschied ich mich für das Naheliegende und bat Wernher, so lange das Planum zu putzen, bis Hans mit dem Schneiden des von ihm bearbeiteten Befundes fertig würde.
Es waren kaum fünf Minuten vergangen, dass die zwei den Bauwagen verlassen und mich über meine Formblätter brüten ließen, als plötzlich ohne jede Vorwarnung Hans zu mir in den Wagen sprang.
„Sag mal, das kann doch nicht sein“, Wernher strauchelte in seinem Schlepptau hinterher, „ich schneide Befunde und der da“, Hans wies auf Wernher, „macht jetzt meine Arbeit?“ Hans schrie zwar nicht, seine Stimme zitterte aber. Man merkte, dass er aufs Äußerste erregt war und größte Mühen aufwandte, sich noch halbwegs zu bändigen.
„Jetzt im Moment, ja“, sagte ich verdutzt.
„Wie kann das sein, ich habe immer das Planum geputzt, mache ich die Arbeit nicht gut?“
Wernher, der sichtlich genervt war, und den Hans offenbar bereits auf der Fläche angefahren hatte, stieg jetzt laut ein: „Ick brauch mir von dir jar nüscht sa’an lassn!“ Im Gegensatz zu Hans versuchte er sich aber nicht einmal zurückzuhalten. Seine kräftige Stimme biss, als er sich erst an den Kopf, dann an die Brust tippte: „Ick jloob, ick spinn! Ick bin ooch schon über fuffzich. Un wenn der Scheff sacht, mach det, denn mach ick det.“
Hans hatte seine Sache vorgetragen, seine Wut blieb grotesk groß. Er drehte sich, winkte mir ab: „Ach!“, sprang aus dem Wagen und lief zurück zu seinem Befund. Ich lief ihm nach, weil ich es selbstverständlich fand, diesen gleichermaßen unbegründeten wie unseligen Streit zu schlichten. Wernher trapste wie ein Terrier mit uns. Er versuchte zwischen Hans und mich zu kommen und zeterte keifend weiter: „Det brauch ick mir nich jefalln zu lassn! Ick hab ooch schon ’n paar Jahr jearbeit’t. Ick weeß, wo der Hase schnalzt!“
Jetzt musste ich nicht allein mehr Hans beschwichtigen, sondern auch Wernher zur Räson bringen: „Du brauchst nicht noch nachzutreten!“, fuhr ich ihn durchaus angemessen an.
Hans stapfte schnell zu seinem Befund, griff sich seinen Spaten, rammte ihn in den Boden und trat auf die Kante des Blattes und sprach zu sich selbst: „Die woll’n mich nur verheizen!“ Er sah mich an und schnaubte: „Ich arbeite hier, und der da hinten steht nur rum!“, wies er auf Jan, der vor dem Bagger stand.
„Ja und?“, fragte ich, „Der macht auch nur seine Arbeit.“
„Ach!“, motzt Hans nur noch. Er schien langsam zu begreifen, dass er einen unnötigen und heillos übertriebenen Sturm verursacht hatte, wollte es aber noch nicht zugeben. Wernher stand neben uns, ich blickte ihn ermahnend an, dass er auch ja nichts mehr sagen solle.
„Hört mal, sowas will ich auf meiner Grabung nicht haben. Das ist hier kein Kindergarten. Und jetzt gebt euch die Hand!“, widersprach ich mir selbst. Hans knirschte mit den Zähnen.
Wernher erkannte schneller die Chance, wieder Punkte gut zu machen, die er durch sein verbales Nachtreten verloren hatte: „Also, ick hab damit keene Probleme nüscht. Det war ja eh bloß ’n Missverständnis. Hier Hans!“, und reichte Hans die Hand.
Hans sah von seinem Befund hoch. Jetzt galt ihm mein strenger Blick. Und ich starrte ihn auch noch an, als ich zu dem neben uns stehenden Wernher sagte: „Du kannst Hans ja gleich mal beim Schneiden helfen, Wernher.“
Dann hob auch Hans seine rechte Hand und griff zögerlich nach Wernhers Hand. Beide schüttelten ihre Hände kurz, ließen sie aber schnell wieder schlapp fallen. „Ich hoffe, das ist damit erledigt“, betonte ich ernst, drehte mich um und trottete aus dieser unwirklichen Szene.

Sonntag, 8. Februar 2009

Kapitel 8.1

Inzwischen hatte sich das Team auch in der neuen Zusammenstellung weitgehend eingearbeitet. Ich musste oft morgens nicht einmal sehr detailliert erklären, welche Tagesarbeit anstand, weil die größtenteils erfahrenen Arbeiter in eine Art selbstorganisiertes Chaos verfielen.
Hans putzte üblicherweise das Planum, Sylvia zeichnete die von ihm freigelegten Befunde in der Aufsicht. Jan stand gewöhnlich am Bagger, zeitweise unterstützt von Dieter oder Jonas, die darüber hinaus die Pflöcke für die Quadranten setzten, wenn genügend Fläche freigebaggert war. Ansonsten schnitten beide die Befunde, damit die vorgeschichtlichen Gruben und Feuerstellen auch im Profil, aufgenommen werden konnten. Bei dieser Arbeit halfen Wernher und Orka, wenn die zwei nicht gerade damit beschäftigt waren, die im Planum bereits gezeichneten Befunde zu nivellieren. Das Nivellieren ist eigentlich eine sehr einfache Tätigkeit für zwei Leute, die lediglich daraus besteht, dass der eine Zahlen lesen und schreiben können muss, während der andere in der Lage sein sollte, eine je nach Notwendigkeit des Bodengefälles bis zu vier Meter lange Holz- oder Aluminiumlatte mehr oder weniger lotrecht in den Wind zu halten. Ich durfte also durchaus berechtigt annehmen, dass Orka zum Nivellieren befähigt war, obwohl ich ihr bereits die Berechtigung zum Zeichnen auf meiner Grabung entzogen hatte.

Freitag, 6. Februar 2009

Kapitel 7.5

Wenn er zu Grabungen kam und die Fortschritte begutachtete, kam er grundsätzlich zur Mittagspause. Damit stand er in der guten Tradition aller Amtsarchäologen. Deren Befähigung, diese Stelle auszufüllen, scheint nämlich vornehmlich daran gemessen zu werden, ob sie in der Lage sind, fünf Ausgrabungen am selben Tag gleichzeitig zur Mittagszeit zu besuchen. Vielleicht werden sie aber auch nach der Stellenbesetzung einfach in einer aufwendigen Initiation in das Geheimnis eingeweiht, diesen temporalen Hattrick zu beherrschen.
Sowohl die Arbeiter im Chefwagen als auch die Raucher reagierten auf die Ankunft Senffs, ohne dass sie ausdrücklich ermahnt werden mussten. Bis auf Sylvia, die noch im Bauwagen die Köpfe und Legenden mehrerer Zeichnungen beenden musste, trollten sich alle unaufgefordert nach draußen, suchten dort die Arbeit auf, die sie zuvor unterbrochen hatten, und setzten sie fort. Ich winkte lediglich Dieter zu mir und bat ihm, das Pony auf die Koppel zu bringen, auf die es gehörte. Dieter suchte sich daraufhin ein Seil im Werkzeugcontainer, bastelte daraus mit Seemannsknoten eine Trense und brachte das ruhige Tier zu seinem Herkunftsort.
Ich ging auf den schwer übermüdet wirkenden Senff zu, der wie üblich albern gekleidet war. Nach allgemeiner Meinung hatte er diesen unbewussten Drang, die Öffentlichkeit unfreiwillig mit einer clownesken Erscheinung zu belustigen, bereits in frühester Kindheit angenommen. Als er und Nicole zu Unizeiten ein Paar geworden waren, hatte sie zumindest verschiedenen Kommilitonen stolz alte Fotos von ihm als 12-Jährigen herumgereicht, die ihn auf Geheiß der lieben Frau Mama mit einem Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und einer viel zu engen Seppellederhose zeigten. Inzwischen hatte Nicole den Platz von Maxims Mutter eingenommen. Sie ermutigte den Mittdreißiger dazu, auch noch die lächerlichsten Klamotten zu tragen, was seinem Ansehen kaum förderlich war. Denn durch diesen Aufzug, der stets für großes Amüsement sorgte, bewies Maxim von vornherein, dass man ihn als Person nicht ernst nehmen konnte. Und das dachte einfach jeder Arbeiter, mit dem ich mich im Osten unterhalten habe. Nur von einen einzigen Arbeiter weiß ich, dass er Senff nicht einmal lächerlich fand, sondern schlicht dermaßen blöde, dass er sich bis zu dessen Weggang beharrlich geweigert haben soll, Maxim die Hand zu geben.
Wir waren derweil von dem Aufzug des Projektleiters nur amüsiert, seine Garderobe war wirklich unglaublich. Seine meist kurzärmeligen Hemden waren entweder mit Hawaii-Mustern bedruckt oder mit den roten oder grünen Karos gestaltet, die bis in die schlimmen 80er Jahre Tischdecken und Bettwäsche zahlloser Jugendherbergen zierten. Die dazu passenden Hosen waren bunt karierte Bermuda-Shorts, oder wiederholt pumpbeinige Dreiviertelhosen in Beige, wie er sie auch an diesem Besuchstag trug. Um das Ganze abzustimmen, hatte er sein Erscheinungsbild außerdem mit an den Hacken offenen Turnschuhen gekrönt, deren modischer Ursprung fraglos in ethisch nicht zu rechtfertigenden Genexperimenten an Pantoletten zu finden ist.
Ich grüßte Maxim und führte ihn in den Bauwagen, um ihm die Pläne zu zeigen, bevor wir auf die Flächen gingen. Dass Sylvia im Bauwagen arbeitete, gab ihm anschließend Anlass, mich außerhalb des Bauwagens vor ihrer angeblichen Faulheit zu warnen. Tagelang, so beschrieb er ihre Arbeitsweise während einer anderen Grabung, habe sie über demselben Plan gebrütet und immer nur hin und her geblättert. Mich wunderte diese Kritik, da ich ausgerechnet Sylvia als sehr intensive und konzentrierte Arbeiterin erlebte. Dabei nahm sie gleichzeitig zu ihren Pflichten als Zeichnerin zusammen mit Jonas den Posten als Vorarbeiterin ein und achtete verantwortungsvoll auf die anderen Arbeiter.
Dagegen war mir ja längst bekannt, wie intrigant und unfähig Senff war. So schwieg ich zu den Anwürfen. Senff war aber kaum gefahren, da warnte ich meinerseits Sylvia davor, dass er sie ganz offensichtlich auf dem Kieker hatte.
Man merkte damals schon, dass Maxim es zusehends genoss, Macht inne zu haben, obwohl er sich gleichzeitig auf unterschiedlichsten Wegen freiwillig der Lächerlichkeit preisgab. Eigentlich glich sein Wirken ohnehin der Terrorherrschaft eines Clowns. Das zeigte sich in jedem seiner Schritte, in all seinen Handlungen. Das galt bis ins letzte Detail, vom Anfang bis zum Ende. In dieser Zeit war er allerdings besonders ungehalten. Das weiß ich noch genau, denn dieser Tag ist mir schon deswegen im Gedächtnis haften geblieben, weil ich völlig neue Grenzen des Unwohlseins erfahren hatte.
Die Ringe unter Maxims Augen konnte man nicht zählen und er war so unaufmerksam, freiwillig aus seinem unseligen Leben zu plaudern. Es war nämlich die Zeit, in der seine Frau Nicole kurz davor war, den Senff-Stammhalter zu werfen – oder wie Dieter sich eines Tages aufgrund Nicoles Herkunft aus Braunschweig versprach: „die Sächsin ist niederträchtig ...“
Maxim war in dieser Zeit ein nervliches Wrack. Das lag aber keineswegs daran, dass er mit so viel Mitgefühl bei der Sache war, sondern weil er unter den Launen seiner besseren Hälfte zu leiden hatte, was er selbstverständlich überhaupt nicht einsah. Er kam zwar immer noch nur an den Tagen in ihre gemeinsame Wohnung, an denen er am Institut arbeitete. Aber die wenigen zugehörigen Nächte wurde Maxim ständig geweckt, weil Nicole im Fünfminutentakt aufs Klo trippelte. Darüber hinaus zwang sie ihn zu den Kursen der Schwangerschaftsgymnastik, wo er mit wildfremden Menschen eine verstümmelte Abart des Sirtaki zu tanzen hatte. Um das letzte Bisschen häuslichen Segens zu retten, war er als Ausgleich für seine heißgeliebten Sportsendungen quasi verpflichtet, Sonntags mit seinem Weib regelmäßig die damals schon unsäglich klebrig-pilchrigen und ewig-gleichen ZDF-Filmchen im Fernsehen zu verfolgen und schlimmer noch: gutzuheißen! Da galt auch die Ausrede nichts, dass am Vorabend sowohl sein Handballverein als auch sein Fußballverein wichtige Ligaspiele verloren hatten. Infolgedessen quälte der völlig übermüdete Senff jeden Untergebenen an der Universität und im Denkmalpflegeamt, als zöge ein jähzorniger Rachegott durch die Lande. Er belästigte einfach jeden mit seinen eingebildeten Leiden. Wie es seiner Frau ging, war ihm egal. Alles in allem war es für niemanden eine gute Zeit, weder für die beiden, noch für den Rest der Welt.
Vor seiner Abfahrt wusste ich ihn aber noch zu treffen, indem ich ihm mitteilte, wie katastrophal Marions Fähigkeiten waren. Als ich von ihren „Künsten“ erzählte und zum Beweis ihre Kritzelei vorzeigte, die ich als Beleg für schlechte Arbeit heute noch aufbewahre, wurde Senff vor Wut still. Er hatte mir Marion aufgedrückt, hatte sich von ihr weismachen lassen, dass sie als Zeichnerin arbeiten könne. Wahrscheinlich fühlte er sich betrogen, und das waren wir ja beide. Er versprach, mir in der Folgewoche einen neuen Mitarbeiter zu besorgen. Er wollte einen ehrenamtlichen Denkmalpfleger namens Micha aus der Gegend aktivieren, der ab und zu bereits für das Amt gearbeitet hatte.
Senff war kaum gefahren, da ging ich zu Sylvia und Hans, und erzählte ihnen, wer zum Team stoßen würde. Beide kannten Micha, Sylvia schien durchaus erfreut, wusste sie doch wenigstens, dass er besser als Orka arbeitete und ihr somit bei den Zeichnungen zur Hand gehen konnte. Hans dagegen war entsetzt. Er verdrehte die Augen, drehte sich zur Seite und setzte seine Arbeit stöhnend fort. Ich wunderte mich, befürchtete natürlich die nächste personelle Katastrophe, aber Hans ließ sich lediglich entlocken, dass ihn Michas „Pferdelache“ störte, wie er sie nannte. Sie sei auf der gesamten Grabungsfläche zu hören.
Die „Pferdelache“, von der Hans gesprochen hatte, ließ nicht lange auf sich warten, als Micha in der Folgewoche auf unserer Grabung mitzuarbeiten begann. Der große Micha mit dem überbreiten Mund war eigentlich immer gut aufgelegt. Er erzählte viel von seiner Familie, beispielsweise verriet er mir, sein Vater, sein Bruder und er sähen zusammen wie die Olsenbande aus (Micha entsprach dabei Benny). Er besaß genügend Humor, dass er sogar weiter Witze erzählte, nachdem er während der Grabung erfahren hatte, dass bei seinem Bruder, dem Kjeld-Pendant, ein Hirntumor festgestellt worden war.
Natürlich führte er sich sogar mit einem Witz ein. Wir hatten uns kaum begrüßt und gegenseitig vorgestellt, als er von sich aus erzählte, dass Maxim Senff versucht hatte, ihn zum 20. April einzustellen. Micha erwiderte am Telefon erbost, er könne „doch nicht an Führers Geburtstag arbeiten!“, und lachte sich über seinen Einfall und mehr noch den verdutzten Senff tot. In Wirklichkeit betreute Micha an diesem Tag das Volleyballturnier einer von ihm trainierten Jugendmannschaft, aber Senff fiel natürlich auf den bösen Scherz des bekennenden Antifaschisten herein. Ich amüsierte mich dagegen köstlich, dass Senff so hereingelegt worden war.
Andererseits war Micha auch ein kleiner Pyromane. So fragte er mich eines Tages, ob er nicht einmal eine sowjetische Phosphorbombe auf der Grabungsfläche zünden dürfe. Ich verneinte natürlich und war etwas verwirrt über sein tatsächlich ernst gemeintes Ansinnen.
Dass er ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger war, hatte ich ja bereits zuvor von Senff gehört, und auch Dieter kannte ihn. So erfuhr ich aber, dass er auch regelmäßig sowjetische Übungsplätze absuchte, um Munition und alle möglichen Sprengstoffe zu sammeln. Ich weiß nicht, ob er auf pyrotechnische Experimente dieses Ausmaßes weitgehend verzichtete, weil wir uns gut verstanden, oder ob er selbst zu viel Angst vor der eigenen Courage hatte.

Sonntag, 1. Februar 2009

Kapitel 7.4

Unrhythmisch-schmatzende Geräusche, als schritte jemand im Sumpf Kreise ab, holten mich zurück in die schreckliche Realität. Es machte sich allgemein bemerkbar, dass mir weder der blutige Rülpsgeruch dieser Gorgozilla noch die Vorstellung gefiel, Blutbuletten zu verzehren. Jan wunderte sich: „Bist du etwa son Vegetarier?“
„Nee“, antwortete ich, „ich hab einfach ’ne natürliche Ekelgrenze.“
„Na, ich dachte nur, weil die meisten Archologen sind doch Vegetarier.“
„Sind sie?“
„Hast du schon mal mit Archologen gegrillt?“
„Natürlich.“
„Da war doch immer ein Vegetarier dabei, oder?“
„Jo“, musste ich einräumen, „ein oder zwei schon.“
„Siehste! Und ich hab mal mit einer archologischen Vegetarierin gearbeitet, die hat sich nur von Erdnussriegeln und Limo ernährt. Außer abends, da hat’se dann Pizza gegessen, Salat hat’se nich gemocht. Bis ich ihr mal erzählt hab, wo das Lab für den Käse herkommt, aus Kälbermägen nämlich!“ Die Mundwinkel in Jans Gesicht zogen sich fratzenartig nach oben. Er freute sich sichtlich: „Danach hat’se nur noch Pizza ohne Käse bestellt. Davon abgesehen is das sowieso total blödsinnig. Jeder isst Tiere.“
Ich setzte unwillkürlich ein verwundertes Gesicht auf: „Wieso?“
„Na, im Schlaf. Hast du mal überlegt, wie viele Spinnen du isst, wenn du mit offenem Mund schläfst?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Da gibt’s so wissenschaftliche Berechnungen. Das sind pro Woche wenigstens ein bis zwei Spinnen, die nachts von der Decke fallen und die du aus Versehen verschluckst. Ob du willst oder nicht.“
Sylvia unterbrach: „Hänschen, jetzt hör auf, an deinem Daumen zu knibbeln!“ Die Aufmerksamkeit war augenblicklich auf Hans gelenkt. Der hatte während unserer Unterhaltung ein kleines Taschenmesser aus seiner Hosentasche gezogen, es aufgeklappt und an seinem linken Daumennagel herumgepult, der schwarz und dick war, weil er sich einige Tage zuvor beim Schrauben den Daumen geklemmt hatte.
„Das ist doch nich steril. Das geht doch nicht, Hänschen. Was würde deine Mutti dazu sagen?“ Hänschen grummelte, schwieg ansonsten aber und kramte aus seiner Tasche ein Kabel, das er morgens von einem entsorgten Toaster abgeschnitten hatte, schnitt mit dem Messer die Isolierung ein und zog sie vom Kupfer.
Unvermittelt fragte er mich: „Du kennst Wieland noch von der Uni?“
Inzwischen war ich wieder weitgehend zu mir gekommen: „Ja.“
„Hm.“ Hans überlegte kurz, dann fragte er weiter: „War er da auch schon so ungeschickt?“
„Naja“, ich pustete einmal tonlos, „manchmal ’n bisschen nervig.“ Nach einer kleiner Pause ergänzte ich: „Also, er hat gerne mal die Leute in der Bibliothek zugeschwatzt und ihnen zu jedem erdenklichen Thema kurze Vorträge gehalten.“
Hans schaute verständnislos: „Tja, und hier hat er sich erst mal auf die Knochen blamiert.“
„Wieso?“
„Die erste Grabung, die er hier gemacht hat, war ’ne größere Flächengrabung. Da sollte er genau wie hier die Fläche in 10-Meter-Quadranten unterteilen und bearbeiten.“
„Ja. Und?“
„Rate mal, wie er versucht hat, ein Quadrat mit einer Seitenlänge von zehn Metern auszupflocken.“ Ich blickte verwirrt. „Er hat einen Pflock gesetzt, ist mit dem Maßband zehn Meter in eine Richtung gelaufen, hat da den zweiten Pflock gesetzt, ist Pi mal Daumen zehn Meter senkrecht dazu nach rechts gelaufen“, ich merkte, worauf Hans hinauswollte, „hat den nächsten Pflock gesetzt und wollte dann wieder senkrecht dazu beim ersten Pflock auskommen.“
„Der natürlich sonstwo stand“, lachte ich.
„Genau. Und Wieland hat einfach nicht begriffen, was er falsch gemacht hat.“ Er ahmte Wielands Stimme nach: „Das kommt einfach nicht aus, Hans! – Am Ende habe ich meine Schnur hier genommen“, Hans kramte ein Bündel Maurerschnur aus der Tasche, „und hab ihm die Pflöcke in Nullkommanix gesetzt. Und die stimmten.“
„Ich nehme an, die Schnur hat Knoten bei zehn Meter und bei vierzehn Komma, was sind das noch?“, überlegte ich, „eins ... vier ...“
„Genau, Pythagoras. So einfach ist das. Aber unser adeliger Archäologe ist zu doof dazu.“
„Grabungsleiter! Du wirst staunen“, sagte ich, „was ich da schon für Idioten erlebt habe. Ich war mal als Student auf ’ner Stadtgrabung, da hat der Chef Telekomleitungen gezeichnet und fotografiert. Von allen Seiten. Von oben, von links, von rechts und von unten. Es ist ja alles Befund, dozierte der ständig. Als das zuständige Amt merkte, dass er auch noch Plastikrohre ausführlich dokumentierte, war er die Grabung ganz schnell wieder los.“
„Telekomleitungen!“, lachte Hans, „Das ist gut. Wir hatten schon mal eine Archäologin, weißt du noch Sylvia? Die Klamm, die immer klamm war, die hat doch bei den kleinsten Pfostenlöchern noch Kreuzschnitte gemacht.“ Ich musste laut lachen.
Nach einer kleinen Pause kam Hans zurück zu Wieland: „Aber damals hat Wieland sich ja sowieso immer festgespielt.“
„Festgespielt?“
„Ja. Er macht alles selber, lässt keinen irgendwo ran, und vergisst jede Zeitplanung. Die Trasse hier und die Windkraftanlage sind die ersten größeren Projekte, die er seitdem macht. Zwischendurch hat er nur Voruntersuchungen für Radwege begutachten dürfen. Damit er sich da nicht festspielt.“ Hans freute sich: „Hehe, und er wusste nicht einmal genau, warum. Einmal hab ich ihn gefragt, Mensch Wieland, ist dir schon mal aufgefallen, dass du immer nur Radwege machen darfst? Da hat er wild genickt und zurückgefragt: Habt ihr das auch schon bemerkt?“
„Ja, du hast ihn immer geärgert, Hänschen“, unterbrach Sylvia, „auch mit deinen Wetten.“
„Mit was für Wetten?“, zwischenfragte ich.
„Ha! Das war immer lustig“, amüsierte er sich, drehte sich zu Sylvia und ermahnte sie, „außerdem hast du auch immer von dem Kuchen gegessen!“, dann wandte er sich wieder mir zu, „na, wenn wir einen Befund hatten, irgendein Steinpflaster oder so, denn hab ich mit Wieland immer gewettet. Da ist noch ’ne Urne drunter, hab ich dann gesagt. Und Wieland hat gesagt, nee, da kommt bestimmt nüscht mehr. Denn hab ich gesagt, um was wettest du? Wenn ich recht habe, backst du dem ganzen Grabungsteam einen Kuchen, hab ich gesagt. Na, und er hat eingeschlagen.“ Seine Mundwinkel wuchsen in neue Höhen. „’türlich hat er verloren. Aber er kann selber nicht backen, also musste seine Frau Britta einen Kuchen backen. Und er wollte natürlich schlau sein. Bei einem Wasserloch hab ich gesagt, da kommt noch ein Brunnen. Wieland sagte: Nein, da kommt nüscht mehr. Was wettest du, wieder einen Kuchen?“ Er malte mit den Händen einen Kuchen in die Luft. „Und er war sich so sicher. Hähä. Als der Bagger einmal reingriff, waren wir mitten im Brunnen, ’n schöner Kastenbrunnen. Und Wieland jammerte“, er drehte sich wieder Sylvia zu, die ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte, außerdem hob sich seine Stimme und singsangte, „Wie soll ich Britta das beibringen, dass sie am Wochenende schon wieder einen Kuchen backen muss?“ Hans lachte laut, der Bauwagen stimmte mit ein.
„Habt ihr den Brunnen denn noch graben können? War doch bestimmt ’ne gute Plackerei, wenn der noch unter Wasser stand?“
„Das kannst du laut sagen. Da brach ständig was ein, aber es hat sich auch gelohnt. Da haben wir ein paar schöne Holzfunde rausgeholt.“
„Mit den Einbrüchen muss man echt aufpassen. Ich hab mal ’ne Grabung erlebt, auf der der Grabungsleiter noch seine besten Freunde in drei Meter tiefe Schnitte geschickt hat, die offensichtlich einsturzgefährdet waren, weil er keine Spundwände gesetzt hatte.“ Ich setzte mein wichtigstes Gesicht auf, um die Bedrohung zu unterstreichen. „Es hatte vorher wochenlang nicht geregnet und plötzlich schüttete es in ein paar Stunden knapp siebzig Liter pro Quadratmeter. Als wir am nächsten Tag wieder zur Grabung kamen, sind um uns herum die Bäume umgefallen, weil der Boden das Wasser gar nicht aufnehmen konnte.“ Ich stützte beide Ellbogen auf den Tisch und imitierte mit den Unterarmen umfallende Bäume.
Jetzt schaltete Wernher sich ein: „Manche Leute kennen eben jar nüscht. Die sind als Archologe un ooch als Scheff unter aller Kanone.“ Er blickte zu Sylvia und Hans: „Ihr zwee kennt doch ooch den Fritz, der hat doch immer zusamm mit dem Carlo jearbeit’.“
„Der Carlo, der son bisschen zurückgeblieben ist?“, fragte Hans.
„Ja, jenau den meen ick. Der hat den Carlo der-ma-ßen aus-je-nutzt“, er dehnte die Silben und tippte im Rhythmus dazu auf den Tisch, „det jlobt man nich. Einmal ha’ck jesehn, det der Fritz sich vor den Carlo jestellt hat, als der jrad ’n Befund bearbeit’ hat“, Wernher streute zwischen die einzelnen Worte mehr und mehr Pausen, die immer länger wurden, „sich .. vorbeucht .. und ... dem ... Carlo .... mitten .... int ..... Jesicht ..... forzt.“ Jetzt schüttelte er den Kopf. Wir anderen stimmten in diese Geste mit ein – bis auf Orka, die mit ihren letzten Tollatschen beschäftigt war.
„Das kann man sich gar nicht vorstellen“, erwiderte Sylvia entsetzt und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Det war aber so, so wahr ick hier sitz“, schwor Wernher mit erhobener Hand.
Hans holte zum letzten Schlag gegen Fritz aus: „Soll der Fritz nich neulich in der Stadt im Mini und mit so Schminke im Gesicht rumgelaufen sein?“
„Stimmt“, erinnerte Sylvia sich, „das hab ich auch gehört.“
„Mit Schminke?“, fragte Wernher, Hans und Sylvia nickten. „Im Minirock?“ Sylvia und Hans bestätigten auch das. „Aber der wiecht doch bestimmt seine ... nu ja ... hundertzehn Kilo ... und is kleena als wie unsa Jan hier.“
Alle blickten zu Jan, der inzwischen eine Tafel Schokolade mit 60% Kakao aus seiner Tasche gekramt hatte, und sie nun auf den Tisch schlug als Zeichen dafür, dass der Nachtisch begonnen hatte. Die rohe Gewalt, die er dabei wirken ließ, atomisierte die gute Tafel leider zugleich.
Wernher kramte jetzt einen Apfel hervor, Sylvia wühlte zwei Plastiktöpfchen mit Pudding aus der Tasche und stellte einen Becher vor Hans, der sich bedankte. Orka entnahm ihrem Fresssack einen Halbliter-Topf vollgezuckerten Joghurt und riss mit einer fließenden Bewegung den jungfräulichen Deckel von der Öffnung. Ihr dicken Finger schlängelten sich um den Deckel und führten ihn an den Puttenmund, aus dem ein warziges und langgeschquetscht fleischiges Etwas entfuhr, das das Aluminium geräuschvoll abraspelte. Danach griff dieser weibliche Gargantua einen Esslöffel und vergewaltigte damit das Plastikfass, als wäre der Becher eine Glocke und der Löffel ein Klöppel, mit dem sie als Glöckner das baldige Ende der Welt anzuschlagen versuchte. Der zugehörige Blick wirkte dabei so konzentriert, wie das Gesicht eines siebzigjährigen Einsiedlers, der im vierzigsten Jahr über die Weltformel brütet.
Das Geklöppel Orkas klang noch nach, als der gemütliche, leider zu kurze Teil der Pause begann. Sylvia kramte eine Ostillustrierte hervor und schlug sie auf, Hans knispelte weiter an seinem Kabel.
„Schau mal Hänschen“, wies sie auf eine Anzeige, „Fuchs und Elster“, und blätterte weiter. Wernher verschränkte derweil die Arme vor seinem Bäuchlein, schloss die Augen und entspannte sich tief.
„Naschkatze. Hmm. Vanillesoße. Die ist lecker“, kommentierte sie die nächste Anzeige und klappte die Seite um. Jan legte seine Arme parallel auf den Tisch und bettete seinen Kopf darauf.
„Mensch“, murmelte die Zeichnerin erschreckt, „ich muss ja noch einkaufen!“
„Ich brauch für heute Abend auch noch was“, meinte Hans.
Sylvia pflückte inzwischen ein Blatt vom Fundzettelblock, der stets auf dem Tisch lag und missbrauchte die leere Rückseite als Einkaufsliste: „Was brauch ich denn?“
„Is heut nich Dienstag?“, fragte Hans in den Raum. Ich nickte. „Da steht doch der Vietnamese immer vor’m Supermarkt, ich glaub, da hol ich mir heute einen Broiler, da hab ich richtig Hunger drauf. Meine Mutter isst ja so gerne Broiler, die freut sich bestimmt. Und ich mich erst.“ Hans freute sich jetzt schon sichtlich.
Jan erwachte wieder, stand auf und fragte den quasi-schlafenden Wernher, während er nach dessen Apfelkitsche griff: „Darf ich?“
Sylvia dachte im Gegensatz zu Hans über den Abend hinaus: „Hm, erst mal brauch ich noch Äpfel, vier Äpfel, Elstar vielleicht, Erwin wollte außerdem noch, dass ich ihm TV Guck mitbringe ...“
„Natüürch“, erwiderte der noch schläfrig blickende Wernher, „natüürch darfste den entsorjen.“ Jan schritt mit dem Apfelrest zur Tür, öffnete sie und warf den Apfel auf ein Ziel außerhalb des Bauwagens, das wir nicht sehen konnten.
„... da kann ich auch gleich die neue SuperIllu einpacken ...“
„Zwar nicht getroffen, aber die Richtung stimmt!“, rief Jan erfreut und erwartete anscheinend eine Bestätigung von uns, die wir doch alle sein Ziel nicht sehen konnten.
„... für den Milchreis brauche ich noch Milch, einen, nein besser gleich zwei Liter, für die Haferflocken brauchen wir ja noch mehr ...“
„Wisst ihr, das kommt vom instinktiven Bogenschießen.“
„... ich glaub fast, Wurst-Käse ist auch alle ...“
„Instinktiv?“, fragte Marion, ich schwieg, um mir die Fotos nicht noch einmal ansehen zu müssen.
„... da hole ich gleich noch ein bisschen Mortadella ...“
„Ja, instinktiv. So trifft man am besten.“
„... Margarine ist auch schon fast alle, was ist mit Papiertempo?“
„Ich hab mal als Kind dem Hausmeister einen Schneeball ins Gesicht geworfen ...“
„... die brauchen wir doch bestimmt auch schon wieder, der schnieft vielleicht im Moment, das glaubt man nicht ...“
„... der kam gerade um die Ecke, das konnte ich nicht wissen, aber trotzdem hab ich ihn mitten ins Gesicht getroffen.“
„... für Toni brauche ich noch Fleisch, war nicht Nero im Angebot? Da nehme ich doch gleich vier große und acht kleine mit ...“
„Das ist noch son Steinzeiteffekt, dass man besser trifft, wenn man einfach drauflos wirft, als wenn man zielt.“
„... sollte ich nicht noch Rosinenbrot mitnehmen? Da hole ich besser gleich mal zwei, dann brauche ich noch Brötchen, Erwin braucht ja auch noch drei.“
„J-ja. D-das hat mein Vater auch gesagt“, bestätigte Orka Jans Theorie. „Der war ja Sportschütze in der D-DDR. Der hat mit einer D-dragunov geschossen und war Bezirksmeister.“
„Mit einer Dragunov?“, fragte Jan ehrlich interessiert.
„J-ja. Er hat auch eine kleine K-k-kanone. Mit der schießt er immer zu Silvester. Dafür darf er im Jahr f-fünf Pf-pfund Schwarzpulver kaufen.“
„Das gibt es doch nicht“, zweifelte Hans.
„D-doch. Er zieht auch selber M-musketenläufe und sch-schießt damit. Er darf auch ein Pf-pfund Sprengstoff kaufen.“
„Das kann doch nicht sein“, Hans blickte kopfschüttelnd in die Runde, „was ist das denn für ein Land, in dem ein Privatmann Sprengstoff kaufen darf?“
„Det würd ick ooch ma jerne wissen, Hans“, sagte Wernher, während er die Reste seines Mahls verstaute, und ergänzte, „so – jetzt muss ick ma dahin, wo der Kaiser zu Fuß hinjeht.“ Er stand auf, quetschte sich an Jan vorbei durch die Tür und war kaum aus dem Bauwagen gestiegen, als er uns auch schon herausrief: „Mönsch, kommt ma raus, det jlaubta nich, da steht ’n Pferd vor’m Bagger!“
„Ein Pferd?“, fragte Sylvia und blickte mit mir aus dem Fenster des Bauwagens. Wernher hatte nicht gelogen, es stand tatsächlich ein Pony vor dem Bagger und war offenbar glücklich darüber, ein wenig Gesellschaft zu haben. Es blieb dem Pony allerdings nicht vorbehalten, unsere Pause zu beenden, denn kaum hatten wir das Tier gesehen, als auch schon der Wagen von Senff auf den Acker fuhr.