Samstag, 28. März 2009

Kapitel 11.1

Im Verlauf der letzten Grabungswochen überschlugen sich die Ereignisse. Orka reichte mit einem nächtlichen Telefonat eine mündliche Entschuldigung für zwei weitere Wochen ein und auch Jonas verließ uns leider. Im Gegensatz zu Orkas offensichtlicher Krankfeierei war sein Ausscheiden allerdings keineswegs freiwillig, sondern hatte Ursache in einer richtiggehenden Suspendierung von Seiten Senffs. Jonas hatte eines schönen Wochenendes nämlich ungebetenen Besuch von der Polizei bekommen, weil sie in ihm einen großkalibrigen Drogenproduzenten sahen. Ein guter Freund des Schweden, den er noch aus seiner heißen Besetzerzeit kannte, hatte nämlich in dem Bahnhofsgebäude eines kleinen ostdeutschen Örtchens einen Keller angemietet, um dort Marihuana anzupflanzen. Leider war für die Anmietung noch ein Bürge notwendig geworden und Jonas hatte sich zur Verfügung gestellt. Er war aber abgesehen vom Eigenbedarf an dem Anbau nicht beteiligt. Der Keller befand sich pikanterweise direkt unter den Amtsräumen des BGS, der an dem damals noch genutzten Bahnhofs stationiert war. Die Elektrik der Räumlichkeiten war in einem miserablen Zustand und so kam es eines Tages, wie es kommen musste, die Sicherungen für irgendwelche Lampen und Belüftungsanlagen versagten und der Keller stand in kürzester Zeit in Flammen. Der BGS bemerkte zwar das Feuer, die Beamten begriffen aber nicht einmal angesichts des süßlichen Gestanks, dass sie jahrelang über der größten Haschischplantage des Landkreises gearbeitet hatten. Sie riefen die Feuerwehr und erst als diese die Zugänge aufbrach und das Feuer löschte, wurde die ermittlungstechnische Peinlichkeit bekannt. Nun stand die Kripo unter Zugzwang. Sie musste für die Lächerlichkeit der Kollegen geradestehen und griff dementsprechend mit voller Härte durch. Der eigentlich Mieter wurde kassiert, Jonas wurde vorgeladen, und als Senff von Sache Wind bekam, ließ er den Schweden auf der Stelle suspendieren. Freilich musste das Verfahren gegen Jonas aufgrund mangelnder Beweise innerhalb kürzester Zeit eingestellt werden. Es konnte ihm nämlich nicht einmal nachgewiesen werden, dass er den Keller jemals betreten hatte. Kein BGS-Beamter und kein Bahnhofsangestellter konnte ihn identifizieren. Und obwohl es der Staatsanwaltschaft ebenso wenig gelang, ihm auch nur Mitwisserschaft nachzuweisen, sollte genau diese oberflächliche Verbindung zum organisierten Drogenhandel ihm schließlich in Göteborg das juristische Genick brechen.
Nach der Verfahrenseinstellung in Deutschland kam Senff manchem Mitarbeiter gegenüber in Erklärungsnöte, da er sich stets als herzensguter und nächstenliebender Christ darstellen wollte. Er hätte ihn ja so gerne weiter beschäftigt, erzählte er dann, aber es sei einfach nicht möglich gewesen, rechtfertigte er sich, der Druck von oben sei zu groß gewesen. Das kann nicht ganz richtig sein, weil er gegenüber gleichrangigen Kollegen anderer Ämter durchweg betonte, dass er jede Zeit die vollständige Kontrolle über die Personalpolitik der Abteilung Sonderprojekte gehabt hatte. Er muss also gelogen haben.
Sei es, wie es sei, das Ergebnis blieb das gleiche. Jonas war die letzten Wochen nicht mehr auf unserer Grabung, die Mitarbeiter ergötzten sich staunend an den reißerischen Artikeln der lokalen Kleinzeitungen, die von regelmäßigen Besuchen der internationalen Drogenmafia auf irgendwelchen Einödhöfen des Landkreises schwadronierten. Gleichzeitig schüttelten alle den Kopf, weil jeder den Schweden zumindest so gut kennengelernt hatte, dass die hingeschmierten Räuberpistolen offensichtlich nicht stimmen konnten. Besonders Hans zeigte sich über diese Hetze empört und verglich sie wiederholt mit dem Schwarzen Kanal.

Sonntag, 22. März 2009

Kapitel 10.3

Leider war der nächste Baumarkt so weit und so umständlich anzufahren, dass ich erst zu Beginn der Mittagspause wieder auf der Grabung war. Ich war immer noch gut gelaunt. Nach der gestrigen Einladung durch Micha wollte ich an diesem Tag mal das Treiben in der Spielhölle von Totenow begutachten. Also kletterte ich kurz in den Nichtraucherwagen, nahm mit einem „Mahlzeit!“ meine Tasche mit dem Essen heraus, beantwortete die fragenden Blicke mit: „Ich geh mal rüber – gestern bin ich ins Casino Totenow geladen worden“, und schaukelte zu dem anderen Wagen, der bereits aus allen Ritzen und Löchern qualmte. Als ich die Tür öffnete, stand ich vor einer grauen Wand, es erschien mir wie eine Räucherkammer.
„Sagt mal, habt ihr hier nur Quarzuhren laufen?“, versuchte ich Stimmen hervorzulocken, um die Position der einzelnen Leute orten zu können. Ich wurde herzlich begrüßt, als hätten sie mich seit Wochen nicht gesehen: „Ah, der Scheff! Immer rinn int Kabuff! Willste dir nich setzn?“, fragte Stefan.
„Hier ’ne Herz Sieben, Dieter!“, plapperte Jan.
Ich hob ablehnend die flache Hand, „Nee danke, ich habe eben lang genug gesessen, außerdem bleib ich hier lieber bei der Tür, da ist die Luft besser.“ Ich stellte mich an die Wand des Bauwagens neben Dieter und sah, wie er mit einer lässig aus dem Mundwinkel hängenden Zigarette zwei Karten vom Stapel zog.
Die Räuchermännchen plapperten weiter. Jan und Dieter spielten gerade noch das Ende einer Runde aus, Micha und Stefan hatten die Partie bereits gewonnen. Vor Micha lag der Fundzettelblock, auf dessen Rückseite sie die Punkte notierten. Ich zog einen Apfel aus meiner Tasche und Stefan fragte. „Wat issten da? ’n Apfel? Willste nich ma wat richtijet? ’ne Schrippe mit Maurermarmelade?“
Ich verneinte wortlos, nahm meinen Apfel und biss krachend hinein. Jonas vertilgte ein Skinkost-Brot, er saß schräg vor dem Kopfende. Micha drehte sich wieder zu Stefan: „Wo war ich?“ Nur kurz schraubte er den Kopf zu mir und zwischenerklärte: „Ich erzähl grad ’ne Geschichte, die mir ein Raubgräber erzählt hat, den ich kenne“, dann wandte er sich wieder Stefan zu, „die haben also in dem Maisfeld eben son Bronzedepot aufgemacht, da war’n dann Beile, Schwerter und so Bronzeringe drin“, er unterstrich die Ringe, in dem seine Zeigefinger einen Ring um seinen Hals zeichneten. „Und irgendsone vernietete Blechplatte“, seine Fäuste hoben sich neben seinem Kopf, und öffneten sich schlagartig, „da gehen plötzlich so Flutlichter an, und eine Stimme ertönt“, er hielt die rechte Hand hohl vor den Mund, „hier spricht die Polizei. Keine Bewegung.“ Micha lachte. „Da haben sich dann alle auf den Boden geschmissen, sind mit den Funden aus dem Feld gerobbt und schnell ab nach Hause.“ Wieder lachte er. „Mein Bekannter hat sich tagelang nicht vor die Tür getraut, weil er immer dachte, er wird gleich abgeholt.“ Ich setzte meinen strengsten Ausdruck auf, um zu verstehen zu geben, dass ich solches Gebaren natürlich nicht gutheiße, und Micha begriff sofort: „Sowas mach ich natürlich nich“, versuchte er zu beschwichtigen und hob unterwürfig die Hände, „ich geb immer alle Funde ab.“
„Und eine Kreuz Sieben“, Jan freute sich merklich und betonte langsam: „letz-te Kar-te!“ Stefan feixte: „Ja, jib ihm Sauret!“ Dieter zog zwei weitere Karten, man sah, dass er das Spiel nicht an sich heranließ.
„Und ein Kreuz König – Mau! Na, alter Mann? Was haste denn noch auf der Hand?“
„Du Hund, bevor du deine Siebenen gespielt hast, hatt ich nur zwei Neuner – und jetzt das:“
„Haha, nur noch Bilder! Das macht, dreißig, vierzig, achtundfünfzig“, Micha notierte die Punkte, „da hat Jan dich aber noch ganz schön abgezogen. Wer ist mit Mischen dran?“
„Immer der, der fraacht!“, befahl Stefan.
Micha fragte mich: „Willst du mitspielen?“
Ich verneinte, „Nee, es reicht mir, wenn ich zugucke“, und grinste kauend.
Stefan motzte: „Boah, Kerle, dit is doch echt n Scheißspiel. Kann denn keena von euch wat Anständijet wie Arsch uff Eis oda Könich von Moabit?“ Alle schüttelten den Kopf, Micha schob die Karten zusammen und begann sie zu mischen. Ich sah Stefan an wie ein unbedrucktes Buch. „Is eem noch keena von euch im Knast jewesen.“ Wieder schüttelten alle den Kopf, Stefan fragte: „Noch nie wat ausjefressn, wa?“ Micha und Jonas schmunzelten. Micha zog die querliegenden Karten mit dem linken Daumen vom Stapel in seiner rechten Hand.
Dieter fragte: „Du, der Micha hier erzählte, die dicke Orka hat gestern angerufen? Die kommt heut nich, weil die ’n Tennisarm hat?“ Falten gruben sich in die Haut unter seine lachenden Augen, mit denen er einen nach dem anderen kurz fixierte: „Die spielt doch nie im Leben Tennis!“ Die meisten lachten dumpf auf, dann wurde es ruhig und man hörte einen Moment lang nur Michas Schlippschlippschlippschlippschlipp.
Es war offenbar ruhig genug, dass Stefan sich traute, nach Marions Spitznamen zu fragen: „Warum nennta die Dicke einklich Orka?“
„Na, das ist doch der Wal. Kennste die nich? Die schwarzweißen Killerwale?“, erklärte Dieter, und seine Hände umschrieben in der Luft etwas Großes, Dickes. Stefan nickte unwissend, blickte auf den Tisch und ließ seine Zigarettenschachtel mit der linken Hand immer wieder nervös auf den Tisch plumpsen. Da erwachte der Seemann in Dieter: „Habt ihr denn schon mal gesehen, wie ein Orka eine Robbe jagt und frisst?“ Anfangs war sein Gesichtsausdruck noch einfach nur erfreut: „Na, du stehst an der Rehling und siehst, wie sich ’ne Herde Seelöwen in den Wellen tummelt. Dann taucht immer so langsam bogend“, seine Hand beschrieb Bögen in der Luft, „eine schwarze Finne aus dem Wasser. PLÖTZLICH!“, seine Hand zuckte, „stößt der augenlose Kopf – man sieht beim Orka die Augen nämlich nicht“, erklärte er dem staunenden Jan und machte mit der Hand eine schnappende Bewegung, „und packt sich einen Seelöwen im Genick.“ Mit seiner rechten Hand fasste er sein linkes Handgelenk. Es ähnelte der Mischbewegung von Micha, der weiter schlippte. „Dann windet sich dieser riiiesige, spindelförmige Körper“, Dieter dehnte die Wörter ein wenig, um die Größe zu unterstreichen und drehte seine Fäuste zur Erklärung, während seine Augen bei jeder Silbe blitzten, „und schraubt sich mit dem Seelöwen herum. Du siehst nur zwei Körper, der eine schwarzbunt, wie ’ne Kuh, der andere dunkelbraun. Und dann schlägt der Orka den ungelenken Fettbalg auf dem Wasser hin und her, das klatscht nur so“, seine Hand klatschte einmal flach auf den Tisch, drei Feuerzeuge sprangen kurz hoch, „und das Wasser, die Gischt, das spritzt nur noch, das schäumt alles vor Blut.“ Dann biss Dieter beherzt in seine Wurststulle und steckte sich, noch während er kaute, eine Zigarette in den Mund.
Seine bildhafte Beschreibung eines Orka-Angriffs weckte Assoziationen und Bilder in meinem Kopf. Vor meinem geistigen Auge spannte sich automatisch eine trübe Leinwand, auf der sich die letztwöchigen Begegnungen mit unserer Orka projizierten und sich mit der geschilderten Attacke zu Wasser vermischten. All ihr Unvermögen, ihre Lügen und Unverschämtheiten fielen mir wieder ein. Es kam mir vor, als habe unsere Orka ihr zahnbereihtes Maul zu voll genommen. Sie hatte mit den Protzereien über ihre Fähigkeiten versucht, einen ausgewachsenen Pottwal anzugreifen, der ihr einfach über war. Die Fett gewordene Diana war zur Gejagten geworden und hatte die Flucht ergriffen.
Ich kehrte von meinen Gedanken zurück in den Raucherwagen und entdeckte erst jetzt, wie speckig und trauerrandig der Satz Baustellenkarten war. Dieter bemerkte meinen abschätzigen Blick: „Das war’n neue Karten. Die hab ich neu mitgebracht.“
Stefan lehnte seinen rechten Unterarm, an dessen Ende ein Tabakröllchen rauchte, auf den Tisch und beugte sich mit ernster Miene vor: „Ick hab neulich in de Zeitung jelesn“, so ernst wie es der Aufträger des Gesichtes von James Joyce eben konnte, „det sich in Bärlin eena totjemischt hat.“
Stefan lachte selbst am meisten über seinen „Witz“, Dieter lachte die typische Altherrenlache einer klassischen Skatrunde, und Jan bereitete sich tief konzentriert auf das nächste Spiel vor. Micha tat nur so, als ob er lachte, stoppte aber dann das Interludium und teilte aus.
Ich wunderte mich währenddessen über den vielen Qualm und darüber, dass Dieter gleichzeitig essen, rauchen und spielen konnte: „Reicht dir eigentlich nicht der Rauch von den andern? Hier ist doch so viel Rauch im Wagen, dass ihr total eingeräuchert seid.“
Stefan klinkte sich krächzend ein: „Na, dit is ja ooch jut so. Meen Opa hat immer jesacht, ’ne Bude, in die nich jeroocht wird, stinkt nach Pisse.“ Dann lachte er. „De hatte immer son Lungentorpedo int Maul jehappt.“
Micha warf die Karten einzeln vor jeden Spieler.
Ich dachte laut nach, „ich weiß nicht, mir wär das schon zu teuer.“ Die vier Spieler griffen sich nach und nach ihre Karten, dabei veranstaltete Jan ein Brimborium um jede Karte, die er erhielt.
„Das kommt ganz darauf an“, schmunzelte Jonas, „man kann auch Glück haben.“ Jan zog jede Karte einzeln über den Tisch und fluppte sie dann von der Tischkante mit katzenartiger Geschwindigkeit vor sein Gesicht. Micha stockte und unterbrach das Austeilen kurz, um dem Schweden zuzuhören. „Auf einer Grabung kamen wir mal morgens auf die Fläche. Da war alles kaputt. Der Bagger stand auf der Fläche, bei den Bauwagen waren die Dächer eingedrückt und die Wände eingerissen, und auf der Fläche lag ein kaputter Zigarettenautomat. Hähä.“ Micha ahnte die Geschichte und verteilte langsam weiter. Jan kämpfte noch immer darum, niemandem die Gelegenheit finden zu lassen, in seine Karten zu linsen. „Da haben irgendwelche Idioten im Dorf einen Automaten aus der Verankerung gerissen, den aber nicht aufgekriegt. Also sind die nachts auf unsere Grabung gefahren und haben den Bagger geknackt. Die waren aber erst zu doof, den Bagger zu bedienen, also haben die die ganzen Bauwagen auseinandergenommen. Irgendwann haben die es dann geschafft, mit der Schaufel den Automaten zu knacken, waren aber wieder zu doof, die haben nämlich nur das Geld mitgenommen“, Micha lachte jetzt beim Austeilen. Jan drückte inzwischen seinen Kopf so weit gegen die Wand des Bauwagens, dass sein Gesicht beinahe platt wurde. Der Schwede redete zu Ende, „und die Zigaretten in dem kaputten Automaten gelassen. Haha! Da hat das Grabungsteam erst mal alle Päckchen rausgenommen und gerecht geteilt. Erst danach haben wir die Bullen gerufen“, er schaute die Leute an, denen er gestern Abend von den Randalen erzählt hatte, um zu erklären: „wegen der Versicherung!“
Alle lachten – mit Ausnahme von Jan. Ich hatte bereits beim Austeilen bemerkt, dass ausgerechnet er hochkonzentriert immer wieder den Versuch unternahm, in Stefans Karten zu kiebitzen, der neben ihm saß. Dabei merkte Jan nicht einmal, dass sich alle Karten in Stefans dicken Brillengläsern spiegelten.
Stefan motzte: „Mannmannmann, wat haste mir denn da fürn Scheißblatt jejebn?“ Micha lachte jetzt aus Trotz. Dieter stimmte in das Geberbashing mit ein: „Das stimmt. Aus jedem Dorf ’n Köter. Geh mal raus, dir die Hände waschen, Micha!“
Jonas zündete sich eine Zigarette an, kramte seinen Taschenascher heraus, öffnete ihn und platzierte ihn vor sich. Er legte die Zigarette hinein, zog seine Snus-Dose aus einer anderen Tasche und knetete sich eine große Portion des schwedischen Tabakpulvers zu einem kleinen Kissen, das er sich unter die Oberlippe schob. Micha zog die oberste Karte vom Stapel, einen Herz Buben, und legte sie neben den Stapel. Stefan kommentierte: „Nu kiek ma an!“
„Dieter fängt an, was wünscht du dir?“
Dieter schaute kurz in sein Blatt: „Ich wünsch mir Kreuz, dann eröffne ich mal mit ’ner Dame.“
Jan warf stillschweigend eine Neun auf die Ablage, Stefan folgte ruhig mit einer Herz Neun. Micha legte ein Herz Ass drauf und Jan begann Streit: „Jetzt darfste doch noch eine spielen.“
„Nach ’nem Herz Ass?“ Michas Stirn runzelte sich zusammen. Stefan schnippte: „Von wegen!“ Dieter stimmte zu: „So ein Quatsch!“, und spielte ein Kreuz Ass.
„Ja natürlich nach einem Ass! Wie spielt ihr denn? Was sind das denn für Regeln? Kein Mensch spielt so.“
„Wir haben uns doch vorher drauf geeinigt. Solln wir die Regeln etwa aufschreiben?“ Alle schüttelten den Kopf.
Jan murmelte irgendetwas von „bei uns spielt man das richtig“ vor sich hin. Im Gesicht wurde er vor Wut rot, dann spielte er ein Karo Ass. Kein Wunder, dass nach dem Ass eine weitere Karte gespielt werden sollte.
„Ick kann nich“, plapperte Stefan und zog eine Karte.
„Deine Erfolge im Schlafzimmer interessieren hier nich“, amüsierte sich Micha und wieherte los. Dieter lachte ächzend mit. Dann spielte Micha eine Karo Sieben, und Dieter hörte mit dem Lachen auf. Er zog zwei Karten vom Stapel. Jans Wut verflog bei dieser Vorgabe, und er spielte feixend eine Herz Sieben. Stefan patzte ihn mit freundlicher Stimme von der Seite an: „Na, mit volln Hosen is jut stinkn“, und zog zwei Karten.
„Dann kommt jetzt meine Herz Dame!“, sagte Micha und patschte die Karte aus der Höhe auf die Ablage.
„Na, da kann se mit meiner Karierten ja Káffe trinken“, freute sich Dieter.
Jan warf eine Karo Neun hin, Stefan ließ Micha mit einer Acht aussetzen („Da biste baff, wa?“) und Dieter spielte eine Zehn.
„Ich wünsch mir Pik“, schrie Jan und spielte einen Buben dieser Farbe.
Stefan ließ Micha wieder aussetzen, dann verschlechterte Dieter Jans Laune mit einer Sieben, die der nicht weiterreichen konnte, und reizte den kleinen Jan dazu: „Wort mit X – war wohl nix!“
Jan saß mit langem Gesicht, vor das er sich weiterhin angestrengt die Karten klemmte. Er hatte die letzten beiden Karten des Stapels genommen, daher nahm Dieter inzwischen die gefüllte Ablage, legte die Sieben zur Seite und mischte die restlichen Karten neu. Dazu teilte er sie dreimal in zwei Stapel und ließ sie mit einem klingenden: Prrrrrrt! abwechselnd ineinanderflattern. Stefan spielte währenddessen stumm eine Neun. Aus den gewölbten Händen Dieters echote ein gekonntes: Flllllit!
„Ach du grüne Neune“, sagte Micha und warf eine Zehn auf den Stapel.
Dieter sammelte sich seine Handkarten wieder zusammen und rief: „Hier! Ein Ass!“
Jan parierte mit einer Dame, die Stefan mit einem Kreuz Buben deckte: „Herz!“
„Na super!“, jetzt motzte Micha und zog eine Karte.
„Echt spitze!“, schimpfte Dieter und zog eine Karte.
Jan brummelte erstaunlich leise „Eigentlich spielt man ja die Farbe vom Buben.“ Die Gesichter der anderen Spieler verdüsterte sich aber bereits, da zog er still eine Karte. Stefan verlängerte inzwischen das Elend mit einer Herz Acht. Dieter zog noch eine Karte, Jan auch. Mit einer Kreuz Acht überstrapazierte der Baggerfahrer jetzt sein Glück. Micha setzte bereits das zweite Mal in Folge aus.
Doch auch Jan musste leiden: „Hier! ’ne Kreuz Sieben“, rief Dieter fröhlich und ließ Jan zwei weitere Karten ziehen. Jetzt musste auch Stefan eine Karte vom verdeckten Stapel nehmen: „Ick kann wieda nich!“
Micha grinste still und warf einen Karo Buben auf den Stapel. „Karo!“
Sein Nachbar, der Seemann, war anscheinend bereits in leichten Mittagsschlaf verfallen und versuchte einen Pik Buben zu installieren, da ging ein Aufschrei durch die Bänke.
Stefan drohte: „Haste keene Oogn in Kopp?“, und Micha ermahnte streng: „Hey, das geht nicht! Bube auf Bube stinkt!“ Man merkte, dass er das nicht zum ersten Mal zu Dieter sagte. Dieter nahm verwirrt seinen Buben auf die Hand, stierte auf seine Karten und fragte sich selbst: „Ja, was mach ich denn dann? Dann muss ich eine ziehen.“
Der erbarmungslose Jan ließ Stefan mit einer Acht aussetzen. Micha warf einen König auf die Ablage und sprach süffisant: „Letzte Karte!“
In Jans Augen entstand nun Panik, dann fluppten eine verschwiegene Zehn, eine Neun und eine Kreuz Neun, die Micha gekonnt mit einem Herz Buben unterwarf: „Mau-Mau! Ich wünsch mir Herz.“
„Sag mal“, fragte ich Stefan, „was is’n das für Abzeichen an deinem Lederbändchen? Ein Totenschädel mit Flügeln?“ Dieter spielte inzwischen eine Herz Sieben und sorgte damit bei Jan für tiefgehende Unstimmung.
Stefan warf eine Herz Zehn ab. „Letzte Karte – wat? Ach so, du meinss mein Boulo-Tei? Meine Westannkrawatte?“, und hielt das dünne Bändchen mit dem Abzeichen vor seine Nase. „Dit is der Dess-hätt! Ick bin doch Ehrn-Hells Eyndschel!“
Dieter spielte jetzt ruhig seinen Buben: „Da! Jetz kommt aber mein Junge. Karo. Letzte Karte.“ Jan grummelte missmutig und spielte einen Karo König.
Zweifelnd betrachtete ich Stefan, das schmächtige Hemdchen, das ein Kopf kleiner war als ich: „Ehrenmitglied?“
Stefan beantwortete erst die gespielte Karte „Da, ’ne Karo Tante – Mau!“, und erklärte dann: „Ja, natürlich, ick jehör doch zum Kopp der Bick Rett Mäschien. Ick kann sofort die janze Prätorianerjaade antanzn lassn, wenn ick se brooch. Aber einklich brooch ick keene nischt, ick hab doch selba den janzen Keller voller Em-Jes und Knarren. Wenn ick nich uff Arbeet bin, denn ha’ck immer ’ne Wumme dabei.“
Dann beendete auch Dieter das Spiel: „Hier Jan: ’ne Sieben, zwei ziehen! Mau!“, und freute sich erkennbar. Ich betrachtete Stefan mit einem wahrscheinlich recht ungläubig aussehenden Blick: „Jonas erzählte gestern Abend, du hast mal in Brasilien gearbeitet?“
„Ja, natürlick!“ Stefan lehnte sich mit dem linken Ellbogen auf seinen Oberschenkel, während er mit der linken Hand die Zigarette hielt, „Da ha’ck doch ooch meene Zähne verlorn! Weeßte, ick bin doch einklich Sprengmeester. Vor zehn Jahrn bin ick russ aus Bärlin, ab nach Südamerika, nach Brasilljen. Da ha’ck denn ’n paar Jahre so Tunnels inne Berje jesprengt jehappt.“
„Aha. – Und wie hast du deine Zähne verloren?“, fragte ich, Jonas schmunzelte mit seiner ausgebeulten Oberlippe.
„Na, dit war bei eim Projekt, da jing dit dem Indscheniör nich schnell jenuch. Dit wa son Backpfeifenjesicht, dit wolltie Arbeet’n partu abkürzn. Deshalb sollt ick son jannnz jewagtet Sprengmanöver durchziehn. Damit er Zeit und Jeld sparn kann, der Fatzke.“ Er hob seine andere Hand und bildete ein schiefes Dach. „Det musste dir so vorstelln, dit dit uff son jannnz bestimmten Winkel ankommen tut. Un wenn der stumpfa wird“, das Dach seiner Hände wurde flacher, „wird det imm-mma jefährlicha. Ick hab jesacht, ja bitte, jut, kann ick machen, batt ei du itt on jur res-ponsillity.“ Da Stefan um die Englisch-Kenntisse Dieters, Jans und Michas wusste, drehte er sich jovial in die Runde und erklärte, „Also: nur uff den seine Verantwortung. Außerdem, sarick, such ick mir die fümf Arbeeta aus, die ick dafür brooch. Denn bin ick durche Reihn von die Arbeeta, fast allet nur so ausjehungerte Fijuren, so halbnackte Indianass“, er lachte, „weeßta, nur son Lendenschurz wie Tarzan um un son jammlijet Ti-Schört, und denn ha’ck mir die Leute ausjesucht, die keene Familie nich ham. Also: du, du, du, du und du.“ Stefan führte uns mit gestrecktem Finger vor, wie er die Arbeiter ausgewählt hatte. „Denn sinn wa in dem Berch und ham die Sprengladungen anjebracht – naja und wat soll ick saa’n. ’türlick is et schief jeloofn. De halbe Berch is zusammjebrochn. Ick wurd vaschüttet. De janze Felsen bricht zusamm, un ick mittenmang. Hätten ma lieba ne Herrenknecht genomm’. Nach zween Tagn hamse mir dann russjeholt. De Indianers warn alle tot jewesn. Un ick? Ick hatte alle Zähne kaputt, fast alle Knochen jebrochn jehappt, die Beene, die Rippn, allet. Ick hab ja n halbet Jahr in Brasilljen im Spitaal jelejn. Det kann ich euch saa’n, dit wa jar nich schön. Ewich diese Hitze. Det jloobt-a nich. Un der Jestank. – Bah!“ Seine Gesicht drehte sich mit geschlossenen Augen zum Fenster, als spucke er angewidert aus. „Weeßta, ick hab ma in Kaschmir, da wa ick mit meina Harley jewesn, da ha’ck son Lepra-Laga jesehn – det hat lang nich so jestunkn, wie det Spitaal da in Brasilljen. – Na, un seitdem bin ick Frührentna. Ick muss ja nischt arbeetn jehn. Ick hab ooch so mein Auskomm. Aba wenn ick noch son bissken nebenbei bagga, denn kann ick mir dit in die Tasche steckn, weeßte.“ Er machte mit der rechten Hand eine drehende Bewegung zur Hosentasche.
Die Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Spielkarten auf dem Tisch.
„Was haste noch auf der Hand?“, fragte der große Micha den kleinen Jan.
„Hier, fünf Bilder, macht fünfzig.“
Dieter mischte sich ein: „Nee, ich hab dir noch ’ne Sieben gespielt, du musst noch zwei ziehen!“
„Was?“ Jan wurde ungehalten, man merkte, er fühlte sich ertappt. Er hatte gehofft, Stefans Geschichte hätte uns vom Spielende abgelenkt.
„Natürlich, du musst doch Dieters Zug noch beenden“, pflichtete auch Micha bei, und Stefan nickte nachdrücklich, „Du musst noch ziehn!“ Micha zog die obersten Karten vom Stapel, es waren zwei Asse.
„WAS? Das ist doch Betrug! Erst krieg ich eben die ganzen Siebenen und muss ständig aussetzen und jetzt das! Wie spielt ihr denn? Ihr habt euch doch die Regeln ausgedacht, das spielt man nur bei uns richtig!“
„Wenn du meinst“, ließ Micha Jan schwatzen und rechnete ihm siebzig Punkte an.
„Das ist Betrug! Mit euch spiel ich nich mehr!“, schrie der kleine Mann, packte seine Sachen und stiefelte wutentbrannt aus dem Bauwagen. Als er draußen war, sagte Micha „Na, hoffentlich“, Stefan sekundierte noch: „Son kleena Stänkafritze – den ha’ck jefressn!“, und alle lachten gedämpft.
Ich blickte auf die Uhr: „Na, dann lasst uns mal weitermachen.“ Die Raucher räumten den Kram vom Tisch und standen auf. Jonas und ich machten Platz, damit die vier Spieler sich aus den Bänken drängeln konnten. Dann trotteten wir nach und nach aus dem Bauwagen.

Donnerstag, 19. März 2009

Kapitel 10.2

Der Arbeitstag verlief unwirklich. Als ich zur Grabung kam, hockten Sylvia und Hans in ihrem Auto, Stefan und Dieter rollten im Pick-up an, Wernher brachte Jan mit, und Jonas fuhr wie üblich mit einem Degenhardt-Lied auf die Baustelle („Weltkrieg Nummero Eins“). Orka aber fehlte, und das machte mich glücklich. Stefan schlich sich schnell aus seinem Pick-up zum Bagger und rollerte darin klackernd auf die Fläche.
Gewöhnlich parkte er den Bagger zum Feierabend so, dass die Schaufel vor der Tür des Werkzeugcontainers lag. Mit diesem einfachen Trick war die Tür nicht ganz so leicht zu knacken. Nachdem alle ihre Taschen in den beiden Bauwagen verteilt hatten, trottete das Team zum Container, um an die Arbeitsmaterialien zu gelangen. Ich hatte Jonas zu Beginn einen Zweitschlüssel für die zwei Schlösser gegeben, damit die Ausgabe der Werkzeuge nicht allein von mir abhing.
Als ich an diesem friedlichen Tag zu dem Container kam, sah ich den Schweden angestrengt mit dem Schlüssel in dem Schloss herumkritzeln. Immer wieder rammte er ihn in den sandverkrusteten Schlitz, versuchte ihn irgendwie zu drehen und zog ihn wieder heraus. Micha stand gebückt daneben und nahm ihm gerade mit einem „Lass mich mal!“ den Schlüssel aus der Hand.
Ich fragte: „Gibt’s Probleme?“
Jonas erhob sich und stemmte die Hände in die Hüfte: „Tja, sieht so aus, als ob jemand versucht hätte, in den Container einzubrechen.“
Ich erschrak kurz, nahm aber schnell wahr, dass jeder Versuch offenbar erfolglos gewesen sein musste. Die Türen waren zu, die Seitenwände waren nicht ausgebrochen und selbst die Schlösser waren noch verschlossen. Dagegen zeigten sich Schrammen auf den Türen und den Schlössern, vor dem Container war eine tiefe Baggerschaufelmulde im Boden. Micha prokelte und ruckelte an dem Schloss: „Nix zu machen! Das ist total verbogen. Dabei ist das doch son gehärtetes Stahlschloss?“
Stefan wartete auf der Fläche in seinem Bagger darauf, dass der Schaufelmann zu ihm kam. Da die wertvolleren Zeichenmaterialien wie die Maßbänder in meinem Wagen waren, hätte Sylvia zwar schon mit ihrer Arbeit anfangen können, sie stand jedoch mit uns am Container und schaute sich das Schauspiel an.
„Hat jemand irgendwie Werkzeug im Wagen?“, fragte ich.
Hans meldete sich und sagte, ohne dass ich ihm das Wort erteilen musste: „Also, ich hab ’ne Metallsäge im Auto.“
Wernher zweifelte: „Na, ob dit wat bringt?“
Ich wusch die Illusionen von dem gehärteten Schloss mit einer lässigen Handbewegung hinweg: „Dochdoch, ich hab son Schloss schon mal auf ’ner anderen Grabung knacken müssen.“
Dann machten wir uns an die Arbeit. Einer musste die ganze Zeit das Schloss halten, zwei sägten abwechselnd. Nach einer Weile hatten wir die Tür wenigstens so weit geöffnet, dass wir sie komplett aufbrechen konnten. Dieter und Hans hämmerten die Tür wieder zurecht, dann schnappte sich jeder Schaufel, Spaten und Kratzer, was er eben brauchte, und lief damit auf die Fläche. Sylvia blieb mit mir noch als letzte am Container stehen. Als die anderen schon auf der Fläche waren, sagte sie: „Das sieht mir aber gar nicht danach aus, als ob hier jemand einbrechen wollte.“
Ich schüttelte grinsend den Kopf: „Nee, das hab ich auch gesehen. Das war Stefan mit der Schaufel. Deswegen hatte er’s wohl auch so eilig, auf die Fläche zu kommen.“ Ich zuckte mit den Schultern, „aber das macht mir heute gar nix aus. Orka kommt heute nicht.“ Ich freute mich sichtlich.
„Du, ich wollt dich schon fragen, wo die bleibt?“, fragte Sylvia in einer Mischung aus Anteilnahme und einem kräftigen Schuss Neugierde.
„Hat heute Nacht in der LPG angerufen“, ich sprach das nächste Wort langsam und betonte es lächerlich, „Tennisarm“, dann stieß ich einen stumpfen Lacher aus. Sylvia schüttelte den Kopf.
„Naja, ich muss dann mal los, ’n neues Schloss besorgen. Arnold sagte mal, in Bratin gibt’s ’nen Baumarkt?“
„Ja, da fragste am besten das Hänschen, der kann dir den Weg beschreiben. Bringste mir zum Zeichnen noch ein bisschen Maurerschnur mit?“ Ich nickte, während ich bereits zu Hans lief, um mir von ihm den Weg erklären zu lassen.

Samstag, 14. März 2009

Kapitel 10.1

Etwas überraschend pendelte ich am nächsten Morgen als letzter in die Küche. Alle anderen saßen schon über ihrem Frühstück, das bei den meisten lediglich aus einer Tasse Instantkaffee bestand.
„Morgen!“, grüßte ich in die Runde und erhielt verschlafene Reaktionen von allen. „Na, wie lange habt ihr noch gemacht?“, fragte ich mit einem leicht höhnischen Ton.
„Nicht mehr so lange“, sprach Micha für den Rest, „die meisten sind nach dem Paperspiel in die Falle, nur Jan is noch raus, um sich ein Lagerfeuer aus dem Schrottholz von nebenan zu machen.“
„Ein Lagerfeu-?“
„Ja natürlich!“, stratzte Jan mir ins Wort, „das is doch urst gemütlich! Das könnt ich jeden Abend haben. Also, wenn ich ein Haus draußen vorm Ort hätte und keine nervenden Nachbarn mit soner kläffenden Töle, dann würd ich das immer machen!“, sprach er fest.
Micha führte das Gespräch zu wichtigeren Dingen: „Übrigens hat Orka noch angerufen. So kurz nach eins.“
Ich staunte: „Nach eins?“
„Ja“, Micha lachte, „Jonas hatte gerade gefragt, ob er flauschig bepelzt ist“, die anderen stimmten in das Lachen ein, selbst Wernher, der überhaupt nicht wusste, worum es ging, dann wurde Micha wieder ernster: „Nee, die is krank geschrieben. Hat ’nen Tennisarm. Das Attest reicht sie nach. Hörte sich übrigens quietschfidel an, genauso schnippisch wie immer.“
„Das überrascht mich nicht. Das ist doch sowieso gelogen. Woher soll die einen Tennisarm haben? Vom Rumsitzen? Naja, dann sind wir sie wenigstens erst mal los.“ Plötzlich musste ich lachen, denn mir fiel ein: „Dolores? Habt ihr als Studenten nicht Stundenverträge?“ Dolores nickte. „Dann kriegt sie ja nicht mal Krankengeld. Im Gegenteil wird ihr das Geld noch abgezogen!“ Ich nickte gewichtig mit dem Kopf: „Die wird sich noch wundern!“
Wernher versuchte zu beschwichtigen: „Na, nu lasst doch ma det arme Mädchen in Ruhe!“
„Tut mir leid“, lehnte ich ab, „das hab ich lang genug probiert!“, und alle blickten betreten.

Donnerstag, 12. März 2009

Kapitel 9.6

Ich lenkte das Gespräch von den Blutrünsteleien zurück auf die Grabung: „Na, eigentlich bin ich ganz froh, dass du mitbaggerst. Stefan ist fast so katastrophal wie Orka. Ich hab noch nie einen so miesen Baggerfahrer erlebt. Der reißt ja nur Löcher ins Planum.“
„Er sagt, das kommt von den Steinen.“
„Ich weiß, Jonas, aber das ist doch Schwachsinn. Der Boden ist weich wie Butter in der Sonne und die paar Klumpen hebst du doch auch problemlos aus dem Sand, obwohl du kaum über so viel Erfahrung verfügst wie er.“
Micha lachte: „Ja, der Stefan ist schon ein Schlawingel. Hat er dir mal von seinen Sprengversuchen in Brasilien erzählt?“ Ich verneinte. „Dann musst du ihn morgen mal fragen, der erzählt Geschichten, das glaubst du nicht.“
Im Hintergrund verabschiedete sich Dolores gerade mit sehr seltsamen Geräuschen von ihrem Gesprächspartner. Als sie wieder zum Tisch kam, schauten alle sie mit einem tief verwunderten Ausdruck an.
„Dass varren meine Katssen“, erklärte sie, „iss ’ab nok sswai Katssen in Espanja. Die muss iss immä grüßen, sonss sint die traurick.“ Um zu erklären, wie traurig ihre Haustiere sind, machte sie kurz ein trauriges Gesicht.
„Na, ich geh dann mal duschen“, verabschiedete Wieland sich. „Mach das“, rief Jan ihm nach, als ob Wieland es besonders nötig gehabt hätte.
Kaum war Wieland draußen, beschwerte sich Micha: „Der geht mir so auf den Senkel.“
„Man merkt’s.“
„Ach, dieser Idiot, der hat sich mal vor mir aufgebaut und mir ins Gesicht gesagt ,Alle Ossis sind faul. Du auch!' Der kann mich mal.“
„Na, Wieland ist zwar ein bisschen bekloppt, aber irgendwie hält man es doch mit ihm aus.“
„Ach, der kann Ossis wahrscheinlich deshalb nicht leiden, weil er bei seiner ersten Grabung hier so verarscht wurde. Ein paar von uns haben in der Pause so nebenbei vom großen Plan gesprochen. Da wurde er natürlich neugierig, hat nachgefragt und dann haben sie ihm weisgemacht, dass es einen großen Plan zur Übernahme der BRD gibt.“ Micha lachte trocken, Jan und Jonas amüsierten sich, während Dolores dem Gespräch nicht so recht folgen konnte. Sie hielt sich so lange plappernd an Arnold, der die Geschichte offenbar schon kannte.
„Nach dem Plan haben wir Honecker nur kurzzeitig weggeschickt und uns von eurer Wirtschaft übernehmen lassen, damit der Westen pleite geht. Danach kommt Honecker wieder und wir übernehmen glorreich den Westen.“ Er machte eine Pause, die Spannung erwecken sollte. „Und Wieland, der Idiot, hat jedes Wort geglaubt. Vor allem, als sie ihm am Ende sagten, dass sie eigentlich nicht darüber sprechen dürfen und er jetzt zu viel weiß. Der hat echt Muffensausen gekriegt.“
Wir lachten, dann blickte Jonas auf einen kleinen Haufen irgendwelcher Notizzettel. „Ihr macht immer so komische Zahlen“, fiel ihm auf.
„Was für komische Zahlen?“, fragte Jan, der sich wie üblich sofort angegriffen fühlte.
„Na, eure Zwei sieht in Deutschland immer ganz komisch aus. Immer mit so einem Kringel unten. Und die Eins sieht aus wie eine Sieben. Wir machen immer nur einen Strich.“
„Das ss-timmt“, schaltete Dolores sich ein, „und die Vier, die makt ihr immä aus sswei Vinkeln. Bei unss ssreibt man die Vier mit einem Ss-trich.“
Schnell entstand ein kleiner Wettkampf darum, wo man welche Zahlen wie schreibt. Fast jeder war davon überzeugt, die einzig richtige Schreibweise zu nutzen, bis auf Jan, der deutlich überzeugter als alle anderen war: „Was? So schreibt man aber nicht!“, wusste er bei jeder Variante, die nicht der seinen entsprach.
Irgendwann fing Jonas an, ein paar Runen zu kritzeln und Dolores war schwer erschrocken über die heidnischen Zauberzeichen: „Vasse makst du da? Villst du Lussifer rufen?“
„Nein, das sind Runen, die kennt in Sweden jedes Kind“, er schrieb ihren Namen auf ein Blatt Papier.

Dolores staunte mit großen Augen und faltete das Blatt geheimnisvoll, das sie später auch mit in ihr Zimmer nahm.
„Ich kann auch noch Geheimrunen“, vermeldete Jonas stolz und wischte auf das Papier zahlreiche X-e, an deren Ästchen er unterschiedlich viele Zweige packte. Als hätte er seine Zukunft damals schon gekannt, erklärte er: „Das ist für den Fall, dass ich mal ins Gefängnis muss, dann kann ich mir sicher sein, Kassiber noch ungelesen herausschmuggeln zu können.“
Eine dunkle Gestalt in einem kackbraunen Bademantel betrat die Küche und schrubbelte sich den Kopf mit einem Handtuch. Dolores erschrak sehr, ihr entfuhr ein spitzer Schrei. Dann atmete sie schwer, machte große Augen und wedelte mit ihrer flachen Hand abgeknickt vor der Brust, während sie sich mit einem Schluck Bier beruhigte: „Iss dakte eine Ssekund, da kommt der Vendigo!“
Alles lachte, Wieland zog sich das Handtuch vom Kopf: „Ich wollte nur gute Nacht sagen.“ Ein bisschen grinste er aber auch. „Dann werd ich mich mal auf meine selbstaufblasbare Matratze hauen.“ Der Chor antwortete im Kanon „Gute Nacht!“
„Oh, ich hab ’ne Idee, kennta dat Paperspiel?“, fragte Arnold.
„Pampersspiel?“, wunderte sich der mittlerweile deutlich angeheiterte Jan.
„Nee, Paper, mit Paper für selbstgedrehte Zigaretten. Jeda schreibt ’ne bekannte Person auf ein Paper und klebt sie dem Nachbarn auf die Stirn. Der muss dann erraten und erfragen, wer er is, und die Runde darf immer nur mit Ja oder Nein antworten.“
„Das klingt lustig“, ahnte Jan, „wer hat denn Paper dabei?“
Bestausgestatteter Tabakkonsument war grundsätzlich Jonas, der bereitwillig mehrere Paper zur Verfügung stellte. Ich hob ablehnend die Hände und stand auf: „Ich muss in die Federn. Aber ich möchte noch wissen, wer welchen Namen kriegt.“
Mit großem Vergnügen sah ich, wie die fünf neue Identitäten verpasst bekamen, die zum Teil gar nicht so neu waren. Arnold klebte Dolores ein Paper mit der Aufschrift „Elisabeth I.“ auf die Stirn, in schöner Anspielung auf das Ende der Armada. Dolores verabreichte Jan einen Zettel, auf dem in großen Buchstaben „Napoleon“ stand, und verursachte die ersten länger anhaltenden Lachanfälle. Es fiel leicht, sich Jan mit einer Hand in der Jacke und einem Zweispitz auf dem Kopf vorzustellen. Jan klebte Micha dafür „Yvonne Jensen“ auf die Stirn, das ist die hochtoupierte Rothaarige aus den Olsenbandefilmen, die Frau von Kjeld. Ich schmunzelte in mich hinein, offenbar hatte Micha nicht nur mir erzählt, dass seine Familie der Olsenbande entsprach. Auch Jonas bekam einen passenden Part. Micha klebte ihm „Karl Marx“ auf die Stirn und alle lachten. Jonas, ganz in seinem Element, adelte Arnold schlicht zu „Gott“ – sicherlich nicht die am leichtesten zu erratene Figur in dieser Runde.
Dann verließ ich den Raum und wünschte allen eine gute Nacht. Jonas, Jan und Micha ermahnte ich noch: „Denkt dran, wer abends saufen kann, kann morgens auch arbeiten.“
Micha lehnte sich zurück und rief mit künstlich ernstem Gesichtsausdruck und erhobenem Finger: „Im Gegenteil. Wer abends säuft, kann morgens nicht arbeiten!“ Dann lachte er wieder wie ein Pferd. Ich hörte noch die ersten Fragen und gelachte Antworten über den Gang hallen, dann schloss ich die Tür, legte mich hin und schlummerte selig ein.

Freitag, 6. März 2009

Kapitel 9.5

Dann versank der Freizeit- und Urlaubsautonome in Erinnerungen an die Räusche, die in ihrer Einfachheit seinen argumentativen Schlüssen so sehr zuwiderliefen. Profunde Kritik an „denen da oben“ wurde in seinen Schilderungen plötzlich ersetzt durch einfache Formeln eines „Weg mit dem – Scheißsystem“-Rufs, der rhythmisch durch die linken Massen bebt, übertönt von kreiselnd rasselnden Hubschraubern und mechanisch eingetönten Lautstimmen als Antwort auf die Sprechchöre. Wallend hallt die „letzte Aufforderung: Räumen Sie den Platz!“ über die lichtfressenden Kapuzen. Die körperliche Dichte wird schlagartig aufgelöst durch Stöße der Soldaten eines übergroßen Ameisenstaates, durch Tritte und das Grapschen dick verpackter Arme und grob profilierter Stiefel mit aufblitzenden Schraubenköpfen unter den Sohlen. Längst ist der Block aufgelöst. Raketen schreien fliegend. Grünwannige Ungetüme schießen heran und spritzen hart um sich. In tiefem Rausch schneiden harte Granitwürfel zischend-kantig durch die Lüfte auf die anonymen Gesichtsmasken, hinein in die uniformierten Truppen. Sirenen, blaues Lichtgeflacker. Kunststoffhüllen und Kalkgerüste knacken laut, Blut platzt, zurück sausen Knüppel nieder, schnellen auf die Körper. Tief spitze Rufe über „Deutsche Polizisten!“ untermalen blutig flackernd fliegende Müllfetzen.
„Gärtner! Und!“ Leuchtpatronen von Signalpistolen schnurren nach vorn.
„Floristen!“ Schon klirren Schaufenster zu diamantengleichem Strass, der auf dem Asphalt in Myriaden reflektiert.
„M ö r d e r!“ Nebenan federn Autos auf die Seite und aufs Dach.
„u n d!“ Molly Malones stinkende Großfamilie ist Feuer und Flamme auf einen Landausflug zu den Bullen und Schweinen.
„F A S C H I S T E N!“ Aus dem Qualm schießen schnelle Bewegungen in den Augenwinkeln, Hosenketten klirren in den Herdenläufen. Lärm, immer wieder klirr-rauschender Lärm. Zahllose Stiefel trappen wirr durch stinkende Nebelschwaden, die teuflisch in die Augen beißen. Zuletzt Rauch, der schwarz aus rot-goldenen Flammen brennt, blaudunkle Blechwracks und der ständige Wechsel zwischen Druck und nass zerstrahlter Auflösung bis hin zur Menschenhatz des Einzigen. Immer wieder dieser Wechsel aus Enge und Zerteilung, Laufen und Prellen, Schreien und Handeln.
Infolge der bunt und lebhaft geschilderten Impressionen, mit denen Jonas uns die Randale schilderte, liebte er sie ganz offensichtlich aus schlichteren Gründen als der Ablehnung des Schweinesystems. Später rächte sich dieses Hobby. Im Juni 2001 gehörte er in Göteborg nicht nur zu den wenigen, die von den Randalierern festgenommen wurden, sondern bekam die längste Strafe von allen „Tätern“ aufgebrummt, obwohl er nach allem, was mir später glaubhaft versichert wurde, ausgerechnet zu Hause äußerst zurückhaltend gewesen sein muss. Bei der Verhandlung wurde ihm aber zum Verhängnis, dass er in Schweden als Wiederholungstäter galt, der auf eine kriminell-terroristische Karriere im Ausland zurückblicken konnte. Die schwerkriminelle Karriere bestand aus einer im Suff geknackten Flensburger Parkuhr, einem bei den Chaostagen in Hannover abgebrochenen Mercedesstern und dem vorgeblichen Besitz einer größeren Menge weicher Drogen, die ihn noch während meiner Grabung in Bedrängnis bringen sollte.

Donnerstag, 5. März 2009

Kapitel 9.4

In der Küche hockten schon Jonas, Wieland und Dolores. Dolores Amiguél war eine spanische Archäologiestudentin, die auf der Grabung von Wieland arbeitete. Sie war noch kleiner als der ohnehin schon kurz geratene Jan. Dafür besaß sie im Gegensatz zu seinen sehr bündigen Haaren, eine dichte, fein gelockte Haarpracht, die ihrerseits beinahe ein Viertel der Gesamterscheinung der Spanierin ausmachte. Dolores lebte bereits ein Jahr in Deutschland zusammen mit einem deutschen Freund, der jedoch fatalerweise als Hispanist meist spanisch mit ihr redete. Daher war ihr Deutsch eher rudimentär ausgebildet, den größten Teil hat sie meiner Einschätzung nach erst auf Wielands Grabung und abends in der LPG gelernt.
Jonas hatte seine obligatorische Zigarette auf den aufgeklappten Taschenascher gelegt und ließ sie dort verglühen, während er in gedrängter Weise damit protzte, ein paar Monate auf Island in einem Supermarkt Gabelstapler gefahren zu sein. Ständig nippte er an einem großen Kanister billigster polnischer Limonade, die er von Zeit zu Zeit mit Wasser verdünnte, weil sie in purer Form einfach ungenießbar war.
„Wusstest du“, fragte er Dolores, „dass der Papageientaucher, dieser kleine dicke schwarzweiße Vogel mit dem bunten Schnabel und den Stummelflügeln, auf Isländisch genauso heißt wie Montag auf Französisch?“ Dazu knickte er die Arme am Körper und flatterte vielsagend mit den Händen.
Dolores wusste es nicht. Sie hatte aber schon die Frage nicht verstanden. Ich öffnete meine Dose Ravioli und ließ sie in einen Topf ploppen, um demnächst meinen Hunger zu stillen. Mit dem Rücken zu den beiden raunte ich „Lúndi“ in die Küche. Jonas sah mich verwundert an, er wusste noch nicht, dass ich auch schon auf Island gewesen war. Ich blieb vor dem Herd stehen und rührte von Zeit zu Zeit die Teigtaschen in der Tomatenpampe, während Wieland am Tisch einen Pappkarton voller Keramikscherben ausschüttete. Er war von seinem Abendessen bereits zum Doppelbock übergegangen.
Jonas wechselte Thema und Gesprächspartner: „Wie stellt sich Iris auf deiner Grabung in Krützin eigentlich an?“
Wieland, der damit begann, die Scherben nach Farbe und Form vorzusortieren, antwortete unabgelenkt: „Zeichnet gut, wieso?“
„Na, normalerweise arbeitet sie ja mit Sylvia zusammen.“
„Mit meiner Sylvia?“, fragte ich.
„Ja, genau, mit unserer Widder. Hihi. Sonst sind die immer ein Team: Widder und Bock. Sylvia Widder und Iris Bock.“ Jonas freute sich über seine Erkenntnis. „Die sind dann oft zusammen wie die zwei Terrier, die meine Mutter in Sweden hatte. Untereinander haben sie sich die meiste Zeit gestritten, aber wenn dann der große Hund vom Nachbarn kam, dann waren sie Swestern und haben zusammen gekämpft.“
„Aha, ne, mit Sylvia hab ich noch nie gearbeitet“, sagte Wieland. „Kennst du Iris denn auch schon mit Hörgerät?“
„Ja, und ab und zu“, Jonas freute sich, „muss sie zu ihrem Wagen, die Batterie tauschen.“
„Ssag mal, Chonas“, unterbrach Dolores, die mit der rauchigen Variante der mediterranen Frauenstimmen ausgestattet war, „varrum musst du immä, äh, Ssigarett anfang-gen ssu rauken, abä nisst rauken ssu Ende?“
Jonas, der seinen Tick selbst kannte und ihn auch gewissenhaft pflegte, erklärte: „Das ist ja nur Tabak. Wenn das Gras wäre, dann würde ich es auch rauchen. Außerdem haben so alle was davon. Das ist doch gerecht.“ Dann öffnete Jonas die erste von zwei Dosen Thunfisch und gabelte das Fleisch aus dem Blechgehäuse.
Wieland wechselte das Thema: „Habt ihr eigentlich mitgekriegt, dass Senff heute wieder unterwegs ist?“
„Ha, wer ist denn heute die Glückliche?“, lachte Jonas.
„Die Ramona von Arnolds Grabung“, verriet Wieland.
Jonas schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn: „Ach, natürlich die mit den dicken Titten. Der lässt das auch nie.“
In der kleinen Welt der Archäologie hatte es längst seine Runde gemacht, wie Dr. Senff mit den Frauen im Amt umging. Kurz nach der Annahme der Stelle fern vom heimischen Herd hatte er damit begonnen, das weibliche Personal nach seinem Brustumfang ein- und ihm per abendlicher Einladung trollüstig nachzustellen. Er hatte keine Skrupel, abends mit dicktittigen Angestellten um die Häuser zu ziehen, während seine bessere Hälfte zu Hause mit Kind und Dissertation schwanger ging. Dazu genoss er es viel zu sehr, Macht inne zu haben.
Ob es dabei jemals zu irgendwelchen weitergehenden Annäherungen gekommen ist, konnte keiner sagen. Den meisten fiel aber auf, dass einzelne Frauen nach bemerkenswert kurzen Arbeitsverträgen nie wieder im Amt gesehen wurden. Sie hatten keine Verlängerungsverträge mehr bekommen. Dieses einfache Mittel war für Maxim viel zu verlockend, um auf seine Verwendung zu verzichten. Schließlich musste er seine Personalpolitik niemandem gegenüber begründen, solange der Laden brummte. Und dafür, dass der Laden brummte, sorgte seine Terrorherrschaft des Tretens und Weitertretens.
Obwohl ich also im Bilde war, täuschte ich Unwissen vor: „Hat Senff hier ein paar Freundinnen?“
„Ja, immer die mit den dicksten Titten.“
„Erstaunlich, seine Frau ist doch mehr so'n Bügelbrett.“
„Das hat Wieland auch schon erzählt.“
Wir grinsten alle. Dolores sah sogar wie ein Honigkuchenpferd aus, obwohl ich nicht weiß, warum.
Inzwischen trollte Micha auf Duschlatschen in die Küche herein: „Nabend!“ In der Hand trug er ein Sixpack, das er klirrend auf den Tisch stellte, bevor er sich einen Stuhl heranzog.
„Hä!“, lachte er mich an, „du musst morgen mal in den Raucherwagen kommen. In der Pause is das 'ne richtige Spielhalle.“
„Ich kann ja mal reinschaun“, beschied ich ihn, dann fragte er: „Sacht mal, wo sind eigentlich Jan und Arnold?“
„Die sind eben zum Imbiss, die hatten die Schnauze voll vom Dosenfraß.“
„Na, ob das wirklich besser ist“, wunderte Micha sich.
„Wieso?“
„Warst du schon mal da unten im Imbiss?“
„Nee.“
„Eben.“
„Wieso fragst du, wolltest du was wissen?“
„Ja, Arnold ist doch Neolithiker. Und ich hab doch letztes Jahr bei mir so 'nen Flintdolch gefunden. Dreißig Zentimeter.“ Micha zeigte die Länge, wie ein Angler, der einen zwei Meter langen Hecht aus seinem Tümpel gezogen haben will, „aus Danflint“, und zog eine Augenbraue in die Höhe.
Wieland stutzte, zuckte leicht mit dem Kopf nach hinten, sortierte aber seine Scherben weiter. „Das glaub ich kaum.“
„Natürlich, da kannste drauf wetten!“, giftete Micha zurück.
„Also der längste Flintdolch, den ich mal gefunden habe, der war so seine, na siebenundzwanzig Zentimeter lang. Kannst du deinen am Wochenende mal mitbringen?“, bat Wieland, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.
„Nee, der liegt im Moment in Bratin in der Sparkasse aus. Die haben da so 'ne kleine Heimatausstellung. Aber du kannst ja mal nach Bratin fahrn!“
Ich rührte ruhig in meinen Ravioli, die jeden Moment fertig sein mussten, Dolores blickte lächelnd von Micha zu Wieland, sie erkannte, dass hier kein einmaliger Schwanzvergleich betrieben wurde, sondern dass die beiden sich grundsätzlich gegenseitig auf den Füßen standen.
Plötzlich war von draußen der Motor eines Wagens zu hören, Arnold und Jan kamen offenbar vom Imbiss zurück. Die Wagentüren schlugen zu, die LPG-Tür öffnete sich am Ende des Ganges laut quietschend und schloss sich lautstark, als die zwei mit raschelnden Tüten in Richtung Küche marschierten. Beide lachten. Das erste, was wir von ihnen verstehen konnten, war Arnold, der sich über die „Sitzknubbel in diesem Wichsfigurenkabinett“ amüsierte. „Hocken den ganzen Tach in 'ner verquarzten Bude und spieln am verkackten Automaten! Leck mich fett!“ Jan lachte. Sie kamen in die Küche, und wir sahen, dass Arnold zusätzlich zur Tüte ein 5-Liter-Bierfässchen unter seinem Arm trug. Er eröffnete uns: „Mensch, die Straßen sind wie leergefickt. Nur so'n paar faschissene Faschisten!“
„Nabend! Na seid ihr schon zum Gemütlichen übergegangen?“, erkundigte sich Jan.
„Nee, ich koch noch, die Ravioli sind aber gleich fertig.“
„Na, dann könn' wir ja zusamm' essen.“ Beide stellten ihre Tüten auf den Tisch, zogen sich Stühle heran und holten sich Besteck.
„Wass ssacktess du die S-trassen? Vie leer-?“
„Wie leergefickt. Tote Hose – äh, ich glaub, das kann man nich übersetzen.“
„Doch natürlich!“, wusste Jan mit bestimmter Miene, der sich im Laufe des Abends noch als größeres Sprachtalent erweisen sollte, „das heißt auf spanisch dett pántalons!“
Dolores blickte verwirrt, kniff die Augen zusammen und fragte weiter: „Isst das eigentlik oft sso, dass ihr Deutsse in eine Imbiss geht? In Barthelona makt man das nisst. Da gett man eher in eine, wie ssakt man auf deutss, Brasserei?“
Wieland motzte grundlos: „So ist Barzelona eben“, ohne sich von den Scherben aufzurichten. „Ist ja auch 'ne ziemlich verkackte Stadt.“ Aus irgendeinem unerfindlichen Grund konnte er die Stadt einfach nicht leiden. Leider konnte Dolores sich nicht wehren. Aber bevor jemand anderer etwas sagen konnte, fragte Micha: „Bist du schon mal da gewesen?“
„Nein.“ Wieland drehte sich um, angelte sich eine Flasche seiner selbstgemixten Tinktur und griff nach einem Karton mit Granulat und einigen hölzernen Wäscheklammern.
Micha ärgerte sich jetzt schwarz: „Wie kannst du das dann sagen?“ Er kniff sein Gesicht zusammen, hielt in der rechten Hand eine Flasche Bier, in der linken eine Zigarette und lehnte sich angriffslustig auf den Tisch. Wieland schwieg.
Arnold und Jan hatten inzwischen ihre Jacken ausgezogen und ihr Essen ausgepackt. „Sach ma Jan, was war das eigentlich für eine bekloppte Musik gerade?“
„Das war doch eine tolle Kassette, die hab ich mir am Wochenende geholt, da waren bei uns in der Stadt Indianer mit Federschmuck und Mokassins, die haben da so Musik gemacht und die Kassetten verkauft. Das waren bestimmt echte Indianer!“ Jan sah begeistert drein, als hätte Sitting Bull ihn gerade zum Medizinmann befördert.
Arnold schüttelte den Kopf, dann setzten sich beide vor ihre Plastikteller, auf denen irgendwie undefinierbare Dinge schwommen. Ich kippte inzwischen meine Ravioli auf einen Teller, von dem vermutlich schon mehrere Tausend Subotniks gegessen hatten und schleppte mich nun auch zum Tisch. Arnold pickte mit seiner Gabel in ein sohlenartiges rauhes Etwas, das offenbar ein Schnitzel darstellen sollte, und hob es hoch, vor sein Gesicht: „Na super! Dat Schnitzel is kalt, klamm, steif wie ein Brett und“, er schnüffelte mit gerümpfter Nase, „et riecht nich gut.“
Jan blickte verschmitzt lachend, „stimmt, der Geruch hat was von Kotze.“
„Na, dann kann Wieland ja einfach seinen selbstgebrauten Komponentenkleber aufmachen. Der übertönt alles“, sagte Jonas, der inzwischen die zweite Dose geöffnet hatte. „Hast du den Kleber vom Amt eigentlich wirklich komplett weggeschmissen?“
Wieland nickte und grummelte nahezu tonlos, begann aber tatsächlich, die vorsortierten Scherben mit seinem Kleber zusammenzusetzen und mit den Wäscheklammern zu fixieren.
Jan hatte zwei Bissen abgeschnitten und sich in den Mund gestopft, da sprang er wieder auf und stratzte nach draußen: „Bevor wir gleich Bier trinken, geh ich lieber vorher pissen, sonst muss ich gleich ständig.“
Kaum hatte er den Raum verlassen, da lachte Arnold: „Haha, is einer von euch schomma mit dem Kleinen Auto gefahren?“ Alle schüttelten den Kopf. „Habt ihr schomma gesehn, wie der blinkt?“ Wieder allgemeine Verneinung, Arnold hob seine linke Hand mit dem Handrücken zu uns, knickte alle Finger und zog den Arm ein Stückchen nach unten, dann erzählte er: „Ich hab ihn gefracht, warum er so bescheuert blinkt, da sacht der nur ganz cool: amerikanisch blinken. Haha! Hat man sowas schon gehört? So ein Depp.“ Der eine oder andere schaute leicht betreten, dann hörten wir, wie Jan wieder über den Flur zu uns kam. Arnold hatte gemerkt, dass zumindest seine Art nicht jedem gefiel und lenkte schnell ab, in dem er sich zu Jonas wandte: „So viel Thunfisch? Bildesse vorm Saufen erssma 'n verkackten Antidröhnbelag?“
„Ich kannte mal einen Archäologen“, hakte ich ein, „der hat sich nur von Dosenfisch ernährt. Der hat aber auch immer in der Bibliothek unter den Tischen geschlafen. Um Geld zu sparen. Hat ihm gar nicht gut getan. Heute sind die Nieren hinüber“, und löffelte weiter meine Ravioli, während Jan sich wieder setzte und weiter an seiner panierten Sohle herumsäbelte.
Jonas legte noch einen Trumpf drauf: „Ich kannte mal einen Archäologen in Sweden, der hat immer aus alten Scherben getrunken. Wenn Wieland sich beeilt, dann kann er das ja vielleicht auch noch nachher?“ Jonas wurde heiter.
Jetzt schossen sich alle auf Wieland ein, Arnold erzählte: „Dann mussa aba so schnell sein wie letztens auffe Grabung. Leck-o-mio! Ich hab von meiner Fläche aus gesehn, wie du neben Senff hergelaufen biss, als der schon losgefahren is. Du biss ja den ganzen Weg mitgelaufn!“
Wieland beugte sich weiterhin über seine Keramik, grummelte nur leicht: „Ich wollte gerne wissen, was es mit meiner Zweitgrabung auf sich hat.“
„Was für eine Zweitgrabung?“, fragte ich.
„Hasse das nich mitgekricht? Wieland darf zu seina Umgehung und den Löchann für die Windkraftanlagen getz au'noch 'n paar Kilometa Kabeltrasse beaufsichtigen.“ Arnold lachte. „Und dat Beste is, dat ihm dat keina gesacht hat. Die Tage kam sein Baggafahra plötzlich an und frachte, wo der Bagga nächste Woche hin soll.“
Ich mampfte meine letzten Ravioli: „Was ist das denn für ein Beschiss?“
„Das ist hier die gewöhnliche Informationspolitik“, wurde Wieland jetzt gedämpft wütend, „daran wirste dich schon gewöhnen.“
„Zumal in dem Fall ja au' noch die Chromzwiebeln von der Planschbeckenfirma mit den Piccoli Stronzi im Amt aufeinandatreffen. Die potenziern sich ja.“ Er machte mit seinen Händen eine weitauffächernde Bewegung.
„Stimmt, du hattest schon mal erzählt, dass die Firma ein bisschen seltsam ist“, fragte ich Arnold.
„'n bisschen seltsam?“ Arnold machte große Augen und ein übertrieben verdutztes Gesicht. „Erzähl doch mal“, forderte er Wieland auf, „wie dat mittem Bodenaustausch war.“ Dann drehte er sich wieder zu mir und erzählte selbst: „Weiße, die Wichsa baun für sich selba zwei Windmühlen und noch zwei für so 'ne Bauerngenossenschaft. Ihr eigna Driss soll natürch pünktlich stehn und ordentlich gebaut sein. Für die Bauern dagegen trümmern sie irrndein Mist zusammen. Auf eina Fläche hättense für die Mühle erssma 'n Bodenaustausch machen müssen. Aber da kann'se ja Geld sparn. Also hamse da ma kurzerhand drauf vazichtet. Is ja auch nich die eigne Mühle. Die muss ja au' nich lang genuch stehn, damit se sich rentiert. Kórwa.“
Wieland ergänzte: „Immerhin müssen wir dieses Jahr nicht in der Sturmsaison für die arbeiten“, und Arnold erinnerte sich: „Stimmt! Dat hamse auch schon geschafft. Damit se noch die Fördagelda für't Jahr kriegn. So'n Drecksva-ein! Aba Hauptsache, der Vorsitzende der AG hat 'n Bundesvadienstkreuz!“
Jan quakte dazwischen: „Ich mach jetze mal das Fass auf. Dolores? Gibst du mir mal die Becher rüber?“
Arnold sah die Gelegenheit, weit auszuholen: „Wissta, dat passt sehr gut zu meina Theorie der Weltgeschichte.“
„Welche Theorie?“, fragte ich, während Jan sieben Becher mit Bier füllte und sie über den Tisch verteilte. Wir stießen mit den Bechern an und tranken einen Schluck.
Arnold wischte sich den Schaum vom Mund und erwiderte: „Cazzo, hab ich dir die no' nich erzählt?“
„Nein.“
Jan jubelte dazwischen: „Sagt ma, aus dem Fass schmeckt das doch tausendmal besser als aus der Flasche, oder?“
Micha und Wieland nickten stumm, Arnold fuhr fort: „Ah, skidegodt! Et gibt doch Theorien von sich wiederholenda Weltgeschichte. Marx zum Beispiel sachte, Geschichte ereignet sich zweimal. Und nach Hegel läuft sie eima als Tragödie ab und dann noch ma als Farce.“
„Genau.“
„Und das is beschissena Quatsch! Et gibt keine Wiederholungen, sondern alles dreht sich um einen verkackten Punkt.“ Er drehte die Gabel um einen imaginären Punkt in der Luft und erklärte: „Die Konstante.“
„Welche Konstante?“
„Die Konstante der Weltgeschichte, Stronzo!“ Er trank einen Schluck.
„Mir kam es immer eher vor, als würde sich die Geschichte pendelförmig bewegen. Mal schlägt es eher zu der einen Seite aus, mal zu der anderen.“ Ich ließ meine Hand hin und her fallen.
„Hm-ja, das is nich ganz falsch. Aber dat dämliche Pendel bewecht sich eben nich von links nach rechts, sondann kreisförmich.“ Jetzt imitierte Arnold ein kreisendes Pendel.
„Kreisförmig? Aber dann würde es sich doch durch den nachlassenden Schwung eher spiralförmig bewegen?“
„Auf die Konstante zu.“ Er schnipste einmal in die Luft. „Genau! Und weil die spiralförmigen Bewegungen sich manchma annähann, sieht dat wie Wiedaholungen aus.“
„Und was ist die Konstante?“
„Blödheit! Einfach – extreme – Blödheit! Die ganze fakackte Menschheitsgeschichte wird davon bestimmt, dat alle Menschen zu allen Zeiten imma total bescheuat warn. Dat siehsse doch jedn Tach! Kuck dich nur um. Alle spinnen herum, drehn durch. Und dann kuck dir den Mist an, den'e beim Buddeln findess: alles Ausdruck des ewigen Irrsinns. Einfach jeda beschissene Dreck!“
„Das kommt mir bekannt vor – hat nicht auch mal einer aus 'nem Kellerloch geschrieben, die Weltgeschichte sei alles außer vernünftig?“
„Ja, Dostojewskij.“
„Hm. Denkst du denn, die spiralförmige Bewegung läuft auf die Konstante zu, wie bei dem Pendel, dessen Schwung nachlässt? Oder schwingt die Geschichte vom Zentrum der Blödheit nach außen?“
„Da bin ich mir noch nich ganz klar. Wenn ich mir aba die ganzen Beklopptn und Irren ankucke, denk ich eher, dat wir uns auf die Dämlichkeit zubewegen.“
„Und was passiert, wenn wir da angekommen sind?“
Er zuckte die Schultern: „Keine Ahnung. Geistiga Urknall vielleicht?“ Arnold musste stumpf lachen: „Hä, so wie bei Matthias.“
„Der Spasst?“, fragte ich nach.
„Genau diese Bratzkopf. Der ist doch in der Hauptsache für die Scheißinformationspolitik zuständig. Dat Käsehirn wird zwar von oben, von Senff gedrückt, aba er gibt et au' noch verstärkt weita.“ Dann säuselte Arnold: „Dabei issa so ein lieba Christenmensch“, und sein Blick drehte sich durch die ganze Runde, „Kackepissearsch! Dieses beschissene christenverseuchte Amt. Hat Wieland dir schon von den Berichten erzählt?“
Ich verneinte.
„Na, das Theata wirsse dann noch kennlernen. Normalaweise kricht man die Scheiße hier drei, viermal wieder zurück. Mit Korrekturwünschen. Weil Herr Doktor Senff der Meinung is, er is 'n bessara Wissenschaftla, korrigiert er in unsann Berichten rum. Dabei weiß der Trottel nich mal ein Komma zu setzn. Ich hab zum Glück noch 'ne andere Quelle, deshalb hab ich au' schon Berichte gesehn, die nich mehr zurückgegangn sind. Da hatte 'ne Archologin statt vor Christus immer“, er nutzt wieder seinen christlichen Säuselton und wackelte mit dem Kopf, „vor unsara Zeitrechnung geschrieben.“ Dann motzte er wieder normal weiter: „Da hat irrndein Spack, und dreima darfsse raten, wer, jedesma groß in rot“, jetzt schrie er laut, dass Dolores sich erschreckte, „ATHEIST!“, und beendete den Satz wieder normal: „geschrieben.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Na, an die Korrekturen wirsse dich schon gewöhnen. Besonders schlau sind die, bei denen der Trottel seine eigenen Korrekturen wieder anstreicht und die Formulierungen wünscht, die de vorher selbs geschrieben hattess. Aber gut, so christlich wie unser Popenbengel Senff nu ma is, passt natürlich au' so'n Versager wie Matthias perfekt in die Struktur. Weiße“, Arnold beugte sich zu mir und zeigte mit dem Finger in meine Richtung, „nach welchen Kriterien hier Aufträge vergeben werden?“ Ich schüttelte natürlich den Kopf. „Dat Arschloch Matthias is unta annerm dafür zuständig, an welchen Tanken wir unsere Dienstwagen auftanken. 'n paar Jahre schon ham wir imma bei Möllers getankt – dat is hier so 'ne kleine Kette. Irrndwann, ganz plötzlich ohne Vorwarnung, wurde die plötzlich gewechselt. Weil, der liebe Christ Matthias hat in seim Bibelkreis 'ne andere Tankstellenpächtarin kennengelernt, und plötzlich hatte die die Aufträge. So'n Zufall, nich wahr?“
Ich lachte stumm aber tief verächtlich.
„Ja, so sind se, die Christen. Und ich geb dir ma no'n kostenlosen Tipp: Fahr niemals im Wagen dieser Sacknase Matthias mit! Der Arsch hört sich den ganzen Tach nur irrndwelchen Christenpop an und versucht ständig, die ganzen DDR-Arbeita zu missionieren. Wahrscheinlich“, höhnte Arnold tief, „arbeitet der nur deswegen hier. Damit er bekehrn kann und innen Himmel kommt!“ Arnold lachte. „Dann doch lieber Musik von echten Indianann!“ Er grinste zu Jan, der grinste ehrlich zurück.
Jetzt schaltete sich der immer noch über seine verklebten Scherben hängende Wieland ein: „Ahnung hat er jedenfalls nicht. Der soll doch auch Geographie studiert haben.“ Jonas nickte. „Dann muss er aber verdammt miserabel sein. In den Plänen, die er mir jetzt hat zukommen lassen, sind die Kabeltrassen jedenfalls zwei Kilometer lang und nicht zweihundert Meter, wie er mir gesagt hat. Aber wahrscheinlich reichte es wirklich, dass er bekennender Christ ist.“ Wieland drehte sich jetzt mir zu: „Wusstest du eigentlich, dass schon unser ganzes Institut mit Christen durchsetzt ist?“ Ich verneinte wortlos, jetzt blickte er von seiner Beschäftigung hoch: „Das ganze Institut an der Uni ist seit dreißig, vierzig Jahren in der Hand von Kirchengängern, meist Katholen. Jede Abteilung.“
Ich nickte erleuchtet, schlagartig besaß die Gleichung, nach der am Institut die Stellen besetzt wurden, für mich eine Unbekannte weniger. Zahlreiche offensichtliche Fehlbesetzungen machten nun einen Sinn. Dazu gehörte natürlich auch Senff.
„Na, und dieser stockbleiche Esel, bleich ist er, weil er ja nie seinen Schreibtisch verlässt oder die Wohnung, die er gerade renoviert“, Jonas lachte in den Wurmsatz hinein, den Wieland fortsetzte, „dieser Esel ist genau über diese Kanäle an die Stelle gekommen. Nach oben buckelt er, nach unten tritt er, scheißt alle Mitarbeiter an und betrügt sie. Und die Informationen leitet er mit Absicht und absolut zielgerichtet an die falsche Person, das wirst du auch schon merken.“
Jan unterbrach mit einem laut vernehmlichen Furz.
„Mensch Jan, wenne einen fliegen lassn willss, dann musse dat auch beim Tower anmelden, Ty Chuju!“
„Te – was?“
Dolores, die gerade einen Schluck Bier getrunken hatte, prustete los. „Arnold, immä makest du Vitsse. Lass miss dok mal slucken!“
Arnold winkte ab und konzentrierte sich darauf, sein restliches Essen zu vertilgen. Jonas knetete sich inzwischen eine ausführliche Portion Snus zwischen den Fingern und stopfte sie sich hinter die Oberlippe. Sein Gesicht verzog sich in genießerischer Mimik.
Dolores begann zu plaudern: „Auf die Esskava-thion es var 'eute, vie ssakt man in Deutss? Auf Katalun ssakt man pladscha.“
„Strand, du meinst Strand“, sagte Wieland.
„Ah, genau vie an S-trand. Sso fill Ssand und Ssonne. Das isst fast vie in Es-panja. Der 'erbst in Deutssland, dass var ssrecklich. Dass var immä dung-kel. Die gansse Tack nur Volken, keine Lisst. Dass var nisst ssön.“ Sie schüttelte den Kopf.
Wir hörten ein Auto heranfahren. Da wir niemanden mehr erwarteten, ging Jonas ans Fenster, um auf den Parkplatz zu schauen, wer da kommt. „Nanu? Wer ist das denn?“
Micha stand auch auf und schaute suchend und fragend auf den Parkplatz: „So'n Bauarbeiter-Pick-up. Da steigt so ein kleiner Dicker aus. Mit Schnurrbart. Und einen Arm.“
„Ssnurrbart? Isst das niss eine Mustasch?“ Dolores blickte in die Runde. Mehrere nickten und ihr Gesicht nahm ängstliche Züge an.
Nur Wieland schaute vertraut, der Rest blickte fragend zu Dolores und zu Wieland. „Scheibenkleister! Das ist so'n Idiot von der Baufirma. Also der Bauleiter. So'n einarmiger Spinner, der ist hinter Dolores her.“
Kaum hatte er das gesagt, da brüllte es von draußen schon leiernd: „DOLORES!“
„Mustasch soll nisst 'ereinkommen!“ Dolores fürchtete sich wirklich. „Der 'at miss die gaaansse Sseit 'eute gekwatsst. Der vill mir ein Kassett mit Merenge aufnemmen. Merenge! Dass 'ört meine O-pa! Päh!“ Sie unterstrich ihr verächtliches Geräusch mit der entsprechenden Geste der Südländerin.
„Ist der noch ganz klar?“, fragte ich Wieland, „Der kommt hierher? Zur LPG?“
„Heute hat er gefragt, ob er nicht mal hierhin zum Grillen kommen darf. Ich hab ihm natürlich gesagt, dass er sich bloß fernhalten soll.“
Micha und ich wandten uns zur Tür, Arnold kam mit: „Wir sagen dem Arsch ma, dat der sich verpissen soll.“ Dolores war offensichtlich sehr froh, nicht allein in der LPG zu sein.
Vor der Tür fingen wir dann den stark angetrunkenen Bauleiter ab.
„DOLORES! ICH WILL ZU DOLORES!“
„Hier gibt es keine Dolores und jetzt mach dich vom Acker, sonst gibt es Zores!“, spielte sich Micha auf, der im Vergleich mit dem kurzgewachsenen Bauleiter mehr als hühnenhaft erschien.
„Aber ich muss sie sprechen, ich muss Dolores sehen“, Moustache hielt in seiner Hand eine Musikkassette: „ICH HAB DIR EINE KASSETTE AUFGENOMMEN! DOLORES! HÖRST DU MICH?“
„Sie hört dich nich, weil se nich hier is. Merda, du Suffkopp, verpiss dich getz!“
Erst versuchte er noch, an uns vorbeizukommen, dann schnitten wir ihm aber den Weg ab und schoben den Besoffenen sachte in Richtung zu seinem Auto.
„Ich will ihr doch nur die Kassette geben und einen-“, versuchte Moustache zu sagen, da überdrehte Arnold. Er überraschte Micha und mich nicht weniger als den Bauleiter, der nicht mit Widerstand gerechnet hatte: „Zieh Leine, du Arsch, sonst stech ich dich ab und verprügel dir die ungewaschene Fresse!“ Micha und ich schauten Arnold mit großen Augen an. Wir mutmaßten zwar angesichts seiner üblichen Sprache, dass er auch in diesem Moment nur blufft, blieben aber stumm.
Moustache schien einzusehen, dass er schlechte Karten für ein Techtelmechtel hatte, dennoch schrie er weiter: „DOLORES! ICH WILL DICH SEHN! ICH LIEBE DICH! ICH MUSS DICH SPRECHEN!“
„Da gibt’s nix zu sprechen und getz pack dich!“
Endlich hatten wir ihn in seinen Wagen gedrängt und ihn davon überzeugt, dass er besser losfahren sollte und nicht mehr wiederzukommen brauchte.
Als er den Motor angelassen hatte, fragte Micha den dritten in unseren Bunde: „War das nicht ein wenig übertrieben?“
„Paska! Mit der Arschkröte musse doch Tacheles reden, sonss wär der nie gefahrn!“, antwortete Arnold und verschränkte die Arme.
Dann kicherte Micha: „Solln wir den Grünen Bescheid sagen, dass hier 'n Besoffener unterwegs ist?“, und Arnold sagte kopfschüttelnd: „Wozu? Wenn Dolores Glück hat, fährt dat zugeknallte Arschloch von einem Wichser vorn Baum.“
Moustache war kaum vom Hof gefahren, da trudelten wir wieder in den Gang und stolzierten wie Helden in die Küche.
„Er ist weg“, rapportierte Micha stolz.
Dolores war dennoch einen Moment lang geknickt: „Iss vusste es, als iss 'eute die Toddesföggel ge-ssenn 'ab.“
„Was für Todesvögel?“, fragte Jonas.
„Ach, da waren ein paar Krähen auf dem Acker. So'n paar fette Braten.“
„Odins Vögel?“ Jonas Augen glänzten, „Das sind doch keine Todesvögel, Dolores! Das sind Hugin und Munin!“
Dann tranken alle auf den Schreck einen Schluck Bier. Arnold bewunderte bei dieser Gelegenheit an Jonas andere Talente als seine skandinavische Bildung: „Cazzo, du hass aba auch 'ne verteufelt gute Schlachzahl beim Saufen!“
„Na man sagt doch, Bier macht schön?“, fragte Jonas verschmitzt und Jan freute sich lachend: „Tatsächlich? Dann muss ich ja wunderschön sein.“ Er nippte an seinem Becher, und seinem Mund entfuhr ein zufriedenes „Aaaah!“
Jonas erzählte: „Ich kenn einen dänischen Trinkerspruch, das heißt, eigentlich ist es ein Lied, das ist sehr lustig.“ Er sang: „Så svin-ger vi po-ka-ler-ne i-gén! Skål!“, und schunkelte dazu seinen Becher.
Jans Augen glänzten: „Das ist toll! Das machen wir zusammen!“ Alle wedelten mit ihrem Becher und sangen:






Jonas, Dolores, Arnold, Micha, Wieland, ich:

„Ssoo sving-ger wi po-key-ler-nä i-genn –
skoll“



Jan:

„So schwing-ga ipo-ka-ner-le i-tenn – skoll“



Dann nahmen wir einen Schluck. Jonas schüttelte den Kopf, die meisten grinsten, selbst der angetrunkene Jan: „Neineinein, Jan. Es heißt: Ssoo sv-ing-ger wi po-key-ler-nä i-genn.“
„Na, das hab ich doch gesagt! – Nochmal!“ Wieder vollführten die tanzenden Becher zum dänischen Gesang Bögen in der Luft.






Jonas, Dolores, Arnold, Micha, Wieland, ich:

„Ssoo sving-ger wi po-key-ler-nä i-genn –
skoll“



Jan:

„Sosch wing-vi po-la-ker-ne ä-gänn – skoll“



Jonas schüttelte grinsend den Kopf: „Nein, Jan!“ Dann sprach er immer vor und Jan wiederholte: „Sso“ – „sso“ – „svinger“ – „schwinga“ – „wi“ – „wi“ – „pokeylerne“ – „Pokale“ – „igenn“ – „ägänn.“ Jonas' Gesicht zeigte deutlich, dass bei Jan der akustische Hopfen und das fremdsprachliche Malz verloren waren. Jan ertrug die Schmach standhaft, und ab sofort hieß es nur noch ohne jeden Gesang Skål, Nazdrowie, Salut, Cheers, Santé, Kippis, Nachaim, Sláinte, mehrfach sogar Tram van tram, niemals aber Prost.
Plötzlich klingelte das Telefon und Arnold beschwerte sich: „Wat is dat denn für'n beschränktet Arschloch, dat getz noch hier anruft?“
„Das isst bes-timmt für miss“, Dolores sprang auf, „meine Mutter in Barthelona vill 'eute nok anruffen.“ Sie stürmte zum Telefon, an dem sich ihre Laune augenblicklich hob. Überschwenglich begrüßte sie ihre Mutter und plauderte angeregt wie ein spanisches Maschinengewehr in den Hörer. Jonas zündete sich wieder einmal eine Zigarette an, die er dann im Aschenbecher ausglühen ließ. Er nahm sich eher unbewusst ein paar Wandscherben, die in sehr schlechtem Zustand waren und aufgrund ihrer Farbe eindeutig nicht zu Wielands Gefäß gehörten. Dann begann er, nebenbei mit ihnen zu jonglieren und merkte erst im Nachhinein, womit er sich beschäftigte. Konzentriert schaute er auf die über seinem Kopf fliegenden Tonstücke. Wieland blickte streng von seinen Klebeversuchen auf, sagte aber nichts.
„Das hab ich für Demos gelernt. Immer schön mit Pflastersteinen jongliert und eine Mütze vor die Füße gelegt. Wenn dann die Bullen kommen, hab ich immer gesagt, ich jongliere ja nur.“ Er verzog sein Gesicht zu einem frechen Lächeln, dann begann er die Melodie von Hänschen-Klein zu summen. Bald sang er sogar: „Pflasterstein, flog allein, in die Deutsche Bank hinein-“
„Bist du etwa so ein Krawalltourist?“, fragte Wieland ehrlich erbost.
„Hast du das noch nicht gemerkt? Warum, glaubst du, fahr ich jeden ersten Mai nach Berlin?“
Ich grinste ahnend.
Er legte nach: „Warum, glaubst du, übe ich Baggerfahren?“
Ich hörte auf zu grinsen und er fuhr fort: „Ich kenn in Kreuzberg ein paar Schrauber, die haben Zugang zu einem Bagger. Den wolln wir nächstes Jahr mit einem Gitter um das Fahrerhaus versehen, dann setz ich mich da rein und bin sicher vor den Bullen. Und dann bau ich die schönsten Barrikaden, die man sich vorstellen kann!“ Jonas freute sich selbstbewusst.
„Ich kann ja verstehn, wenn einem diese Idioten mit ihrem Liberalismus auf den Keks gehen, aber die Randalen hab ich nie verstanden“, warf ich ein.
Jonas' Augen begannen zu glühen: „Naja, du stampfst in dieser schwitzigen Enge, bist umgeben von scharzen Ärmeln und Sonnenbrillen, von rechts kreischt Trillergepfeife ...“

Sonntag, 1. März 2009

Kapitel 9.3

Die Phase, die nötig war, damit sich ein halbes Dutzend Leute in einem notdürftig eingerichteten Bad waschen konnte, nahm jeden Abend viel Zeit in Anspruch. Bevor man gemeinsam irgendetwas essen und zwei, drei leckere Bierchen verschnabulieren konnte, bot es sich also an, diese Ruhe zu nutzen, um den restlichen Papierkram abzuarbeiten.
Irgendwann trudelte einer nach dem anderen in den Gemeinschaftsraum vor der Küche mit Ausnahme von Wernher. Er war der Einzige in dem LPG-Gebäude, der sozusagen zu dem älteren Eisen gehörte, und hatte wenig Interesse daran, mit uns zusammen zu sitzen. Vielleicht lag es an seiner früheren Nebentätigkeit als Grabungsspitzel, denn auch die älteren Mitarbeiter auf der Grabung unterhielten sich mit ihm anders, als sie es untereinander taten. Ich weiß es nicht, fand es aber schade, weil es mir kaum schien, dass er eine größere Macke hatte als wir anderen. Im Gegenteil war er immer fleißig und sehr an der Arbeit interessiert, die er im Gegensatz zu Orka auch gewissenhaft leistete. Ich streunte daher ab und zu in sein Zimmer, bevor ich in die Küche ging, um mir eine Dose Ravioli oder ähnlichen Simpelfraß, zu dem man auf Grabungen quasi verurteilt ist, aufzuwärmen.
Ich klopfte zweimal an seine Tür, er bat mich leise „herein“. Er saß an einem Schreibtisch, blätterte in einem bunt bebilderten Katalog und mampfte gemütlich an dem Rest seines Abendessens, eine Scheibe Schwarzbrot mit Leberwurst.
„Wir sind gleich wieder in der Küche. Hast du keine Lust, auf ein Bierchen dazuzukommen?“
Wernher freute sich ehrlich, dass ich ihn fragte: „Nee, lass ma. Aber danke, det du mich frachst. Ick blätter nur noch ’n paar Minuten in meim Katalooch hier, denn hau ick mir uff’t Ohr.“
„Ich staun ja immer noch, was du dir alles in deinem Wagen mitgebracht hast. Das ist ja ein halber Hausstand hier“, bewunderte ich seine Einrichtung.
„No, man will et ja ooch jemitlich ham und det is ja schon eklich jenuch hier. Weeßte, als ick vorhin rinjekomm bin, da seh ick doch, wie uff meem Bett son kleenet Silberfischchen looft.“ Mit reibenden Fingern imitierte er ein kleines Tier, er schauderte sich merklich. „Da ha’ck denn die Decke ausjeschlagn und det Viech erst ma jesucht und totjemacht.“
„Stimmt, hier ist wirklich viel Ungeziefer. Ich hab ja zum Glück nur Spinnen, aber hast du schon mitgekriegt, was Wieland für Haustierchen hat?“
„Nee.“
„Der hat vorgestern festgestellt, dass unter der Auslegware in der Ecke an der Tür ein Ameisenstaat eingezogen ist.“
„Spinnen, Ameesen, dit is ja allet schön und jut. Det lass ick mir ja noch jefalln – aba Silberfischchen!“ Wernher schüttelte sich und verzog angewidert das Gesicht. „Nee, det muss ick wirklich nich ham.“
„Was liest du denn da Schönes?“, lenkte ich erfolgreich ab.
„Det? Och, det is ’n Katalog für meine LKW-Sammlung. Weeßte, ick sammel doch die kleenen Lasta hier.“ Er blühte auf, „Wenn ick schon nich mehr selber fahr, denn doch wenichstens sone kleene Erinnerung. Außerdem sind det allet jute Wertanlagen. Kiek ma hier uff die Seite, da den Hasseröder-Schlepper, den habbick!“ Mit der linken Hand hielt er mir den zusammengefalteten Katalog vor die Nase, mit der rechten tippte er sich auf die Brust. „Der is unter Sammlern schon seine vierzich West-Maak wert!“
Ich sagte nichts dazu, denn ich wollte ihm nicht die Illusion rauben, die diese lächerlichen Kataloge bei all denen erzeugen, die viel Geld für solche Büchlein auf die Theke legen, um schwarz auf weiß bestätigt zu bekommen, dass theoretisch (!) irgendwo auf der Welt ein (!!) Sammler (!!!) hockt, der erfundene Mondpreise für tausendfach hergestellten Plastikmüll bezahlt.
Inzwischen knurrte mein Magen laut und vernehmlich, daher konnte ich mich einfach in die Küche verabschieden, ohne weiter auf diesen Sammlerirrsinn eingehen zu müssen.