Donnerstag, 30. April 2009

Kapitel 11.6

Der Weg zu Wielands Grabung führte von einem Feldweg durch eine etwa einen Kilometer lange und sehr enge Schneise, die der Bauer im Rapsfeld freigelassen hatte, damit die Fundstelle erreichbar blieb. Noch bevor wir bei den Bauwagen ankamen, sahen wir, dass Senffs Wagen bereits an den Bauwagen stand.
„Da hätte Wieland nur noch einen Moment warten müssen“, sagte ich wie beiläufig und Wernher bemerkte „Kiek ma an! Der Plankenreiter is ooch da!“ Ich parkte den vom Raps gelb gepuderten Dienstwagen, dann stiegen wir alle aus. Meine Arbeiter begrüßten das Team von Wieland, das bei unserer Ankunft auf der Grabung verteilt herumstand. Sie waren sichtlich nicht beschäftigt, schienen aber nicht bei Senff stehen zu wollen. Als ich zu Senff ging, kamen mir erst Wernher, Dieter und Jan nach, dahinter folgten uns Wielands Arbeiter.
Auf mehrere Meter Entfernung sah ich Senff und Plankenreiter an einem Ende eines großen L-förmigen Schnittes knieen, wo sie andächtig im Dreck mit Kellen herumwühlten.
„Hallo Maxim!“, sagte ich, und: „Hallo Robert!“ Beide schauten kurz auf und erwiderten einen stummen Gruß, dann bastelten sie an dem Grab wieder mit einem Gesichtsausdruck herum, wie ihn dreijährige Kinder haben, wenn sie im Sandkasten Matschkuchen backen oder Sandburgen bauen.
„Wieland war eben bei mir“, erklärte ich, „der hat schon auf dich gewartet. Jetzt ist er wahrscheinlich in der LPG, um dich im Amt anzurufen.“
„Jaja. Jetzt bin ich ja hier.“
Ich kam näher und sah, dass sie dabei waren, einzelne Funde mit den Kellen im Dreck zu fixieren. Maxim wurstelte an den Resten von Eisenringen eines Holzeimers herum, die in Kränzen um den Totenschädel lagen. Robert steckte die verrosteten Reste eines Saxes zwischen den Rippen des Toten fest.
Vorsichtig fragte ich: „Äh, habt ihr das so gefunden?“
„Jaja“, sprang Adlatus Robert sofort ein, „das war nur gerade ein wenig umgekippt.“
„Der Eimer war über dem Kopf?“
„Ja, da wollte jemand seinen Kopf malträtieren.“
„Und der Sax?“, fragte ich noch vorsichtiger mit einem zweifelnden Unterton.
„Der ist damit wie gepfählt worden. Zwischen die Rippen. Genau ins Herz. Wahrscheinlich haben sie ihn für einen Vampir gehalten.“ Ich bin mir sicher, dass mein Gesicht in diesem Moment einen überaus erstaunten Ausdruck angenommen haben muss.
Inzwischen bildeten meine und Wielands Arbeiter mit mir einen Halbkreis um die beiden. Keiner sagte ein Wort. Ich schaute mit großen Augen zu Dolores und den anderen, die ich seit den letzten Wochen zumindest vom Sehen kannte, aber alle blickten mit dem selben fragenden Ausdruck zurück. Die Stimmung war äußerst gedrückt und in der sirrenden Sonne hörte man nur das Kratzen der Kellen und das Klopfen der Hände von Senff und Plankenreiter. Die eigentlich naheliegende Landstraße lag dagegen in auffallender Stille. Am äußersten Rand des Halbkreises stand Wielands Baggerfahrer Frank. Leise fing er an, einen Arbeiter Wielands anzuflüstern: „Wo war ich stehengeblieben? Achja, bei der Western Train. Ja, das ist ein richtiges Wohnmobil, nicht nur son Bulli mit Auflieger. Drinnen habe ich Flugzeugteppich ausgelegt. Top, kann ich nur sagen. Da kannste verschütten, waste willst, da kriste keine Flecken rein!“
Unwillkürlich sah ich in seine Richtung. Obwohl ich es gar nicht beabsichtigt hatte, schien er zu denken, dass es mir lieber wäre, wenn er still bliebe. Schlagartig hielt er inne, schaute mich staunend an und schwieg. Kurz darauf steckte er seine Hände in die Hosentaschen seines Blaumanns und stiefelte langsam zu seinem Bagger, an dem er dann herumbastelte.
Senff und Plankenreiter arbeiteten weiter. Ich kann mich noch erinnern, wie erstaunt ich war, die beiden so hochkonzentriert an den Knochen und Funden herumspachteln zu sehen. Maxim hatte glänzende Augen, er muss auf der Stelle erkannt haben, dass das Grab ein Geschenk war. Es war wie ein großer Lottogewinn vor allem deshalb, weil Wieland nicht da war, um auch nur einen Anteil des Gewinnes einzustreichen. Wielands erfolgloses Warten und seine panische Reaktion, zu mir und dann zur LPG zu fahren, war Senffs Zusatzzahl.
„Können wir euch helfen?“, fragte ich.
„Ihr könnt schon mal die Fotoleiter holen und die Fotosachen bereit machen.“
Senff wollte uns merklich loswerden. Dolores ging mit einem Mitarbeiter zum Container und in den Bauwagen, um die Fotosachen und die Leiter zu holen.
Ab und zu, wenn Senff sich anders hinhockte oder wenn die schnelle Bewegung seines Armes es zuließ, konnte ich mehr von dem Grab sehen. Es war auf den ersten Blick ein erstaunlich gut konserviertes Körpergrab. Dass in diesem kalkarmen Boden Knochen so gut erhalten waren, war extrem ungewöhnlich. Auf Höhe des Beckens konnte man eine Gürtelschnalle erkennen. Auf den zusammengefallenen Rippen zeichnete sich eine schwarzsilbrige Fibel ab, die kaum vom umgebenden Boden zu unterscheiden war. Das Haupt des Toten ruhte leicht erhöht, daneben stand ein kleiner kumpfförmiger Topf. Obwohl der Topf nur sehr grob mit einem Pinsel gereinigt war, konnte man Rosetten und eingeritzte waagerechte Linien auf seiner Oberfläche gut erkennen. Auf der anderen Seite des Kopfes waren mehrere kleine stark rostige Dreiecke erkennbar. Jan merkte, dass sie mir aufgefallen waren, und drängelte sich zu mir. Vorsichtig stupste er mich an und flüsterte ausgesprochen leise: „Hier gibt es Pfeilspitzen. Ich hätte so gerne Pfeilspitzen gefunden, warum konnte ich nicht hier graben?“
Ich blickte ihn kurz an und zuckte mit den Schultern. Offenbar meinte er es ernst. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und ließ ihn wortlos stehen. Inzwischen hörten wir leise, wie sich ein Wagen durch die Schneise im Rapsfeld arbeitete. Wieland kam zurück.
Er fuhr seinen verbeulten Bulli vorsichtig über den Weg auf dem Acker und gelangte zu der Fläche, die für die Wagen der Mitarbeiter und die Bauwagen freigelassen war. Er musste längst gesehen haben, dass Senff bereits auf der Grabung war, obwohl es für ihn kaum erkennbar gewesen sein konnte, womit sich der Leiter der Sonderprojekte gerade beschäftigte. Dennoch stieg Wieland ungewöhnlich ruhig aus seinem Wagen. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, dass er sich gemächlich über den Fahrersitz beugte und einen Moment im Fußraum des Beifahrers kramte. Dann schloss er lahm die Tür und kam gemessenen Schrittes zu uns hinüber. Ich war überrascht, dass er jetzt, wo Senff seinen Befund im Wortsinne bearbeitete, plötzlich so gelassen war. Dabei kannte er Senff einfach nur besser als ich. Ihm muss längst bewusst gewesen sein, dass er das Grab nicht retten konnte, wenn Maxim die Gelegenheit dazu gegeben wurde, es allein „auszugraben“. Er wirkte nicht einmal mehr überrascht, dass Plankenreiter mitgekommen war. Dabei verließ Senffs Adlatus das Amt damals nur selten. Ausgerechnet an diesem Tag war er mitgekommen, als Wieland die wichtigste Entdeckung seines Lebens gemacht hatte.
Wieland wirkte lethargisch. Ich ahnte es nur, er muss bereits gewusst haben, dass nichts mehr zu verhindern war. Hätte er sich in diesem Moment beklagt, wäre er nicht allein den Befund, sondern darüber hinaus auch die Stelle los gewesen. Für die Restzeit seines Vertrages wäre er wahrscheinlich per Dienstbefehl zu einem Änderungsvertrag gezwungen worden und hätte damit in der hinterletzten Ecke besonders unbefriedigende Arbeiten ausführen dürfen. Aber er hätte keine Verlängerung mehr bekommen.
Als Wieland bei uns ankam, blieb auch er im Halbkreis stehen. Er verschränkte die Arme und lehnte sich schweigend vor, um ab und an einen Blick auf das Grab zu erhaschen. Er wagte es selbst kaum, an Senff heranzutreten. Heute glaube ich, dass sich sein ängstlicher Respekt Senff gegenüber mit purer Resignation vermischte. Plötzlich ergriff er kurz das Wort.
„Ich hab schon auf dich gewartet“, funkte er Senff an. „Ich war in der LPG, um im Amt anzurufen.“
Senff schwieg und kritzte in vorgebeugter Stellung weiter mit den Maurerwerkzeugen in den sterblichen Überresten herum.
Wieland traute sich zu fragen: „Willst du es heute noch rausholen? Sollen wir uns nicht lieber um eine Bewachung kümmern und es nächste Woche in Ruhe bergen?“
Senff richtete sich auf, sah Wieland in einer Mischung aus Überlegenheit und Zorn an und sagte: „Nein! Das ist nicht drin, das wird heute geborgen.“
Ich weiß nicht, ob Wieland sich noch ernsthafte Hoffnungen gemacht hatte, als er Maxim gefragt hatte, aber er hatte es immerhin geschafft, ihn dazu zu bringen, die Sicht auf das Grab freizugeben. Jetzt konnte er seinen Befund begutachten, und als Maxim sprach, starrte Wieland auch nur auf das Grab. Mit einem Blick hatte der eigentliche Grabungsleiter gesehen, was da vor ihm passierte. Maxim riss das Grab nicht einfach an sich, nein, er zerstörte und verfälschte es. Er manipulierte es, um es noch sensationeller zu machen, bevor er damit im Amt und in der Öffentlichkeit auftrat.
Hinter uns hockte Dolores und knibbelte einzelne Ziffern aus der Fototafel, um im Anschluss die korrekten Daten aufzustecken. Wieland drehte sich von uns und ging zu Dolores. Nur aus den Augenwinkeln sah ich zu, wie beide miteinander still plauderten. Immer wieder zeigte einer der beiden zu dem Grab. Mehrfach wies Dolores auch schulterzuckend auf den Wagen von Senff. Leise atmete ich einmal tief durch und ging dann zu den beiden. Ich wollte wissen, was hier gespielt wurde.
„Kannst du mir mal sagen“, fragte ich Wieland gedämpft, als ich bei beiden hockte, „was hier passiert?“
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Wieland, „ich weiß nur, dass das Grab nicht so aussah, als ich losgefahren bin. Dolores hat mir gerade gesagt, dass Senff ausgeflippt ist, als er kam. Der war wohl keine Minute hier, nachdem ich zu dir losgefahren bin. Als er das Grab gesehen hat, hat er alle Leute weggeschickt. Sie sollten dies holen, sie sollten jenes holen. Von einem wollte er einen Eimer Sand, der andere musste die Gloria an dem Bach da hinten füllen. Der wollte alle loswerden, damit er alleine hier wirken kann. Alleine mit Plankenreiter.“
„Sowas ähnliches hab ich mir schon gedacht. Aber das ist doch nicht nur Manipulation, das ist doch sogar Schwachsinn, was der da macht. Schwert zwischen den Rippen. Eimer auf dem Kopf!“ Ich schüttelte den Kopf.
„Natürlich. Wir hatten das Grab zwar noch nicht frei geputzt, aber man konnte sehen, wo die Sachen lagen. Das Schwert war ganz normal an der Seite. Die Eimerreste zeichnete sich neben dem Skelett ab, ganz normal.“
Meine Befürchtung hatte sich also bewahrheitet: „Der spinnt doch. Der macht nicht nur den Befund kaputt und fälscht ihn, der übertreibt auch noch so, dass ihm das keiner abnehmen wird.“
„Ich weiß nichts mehr“, schüttelte Wieland verzweifelt den Kopf, „wahrscheinlich kommt er sogar damit durch.“

Montag, 27. April 2009

Kapitel 11.5

Auf der Grabung packten wir die Sachen aus und wollten direkt den Grill zusammenbauen, mussten aber feststellen, dass dafür Werkzeug erforderlich war. Glücklicherweise hatte Hans auch diesmal seinen Werkzeugkasten dabei, daher verzögerte sich der Aufbau kaum.
Zwischenzeitlich stolperte Jan von der Grabungsfläche zu uns: „Seid ihr bald fertig? Ist ja schon dreiviertel zwölf! Das Grillen dauert gleich ja schließlich auch noch.“
Unwillkürlich blickte ich auf die Uhr, die abgekürzte Zeitansage erschloss sich mir damals noch nicht. Ich sagte: „Viertel vor, stimmt“, und Jan erwiderte: „Viertel vor was? Was ist das denn für ein Quatsch? Dreiviertel heißt das. Wenn du einen Kuchen fast aufgegessen hast, sagst du ja auch nicht, der Kuchen ist viertel vor.“ Jan ging weg. Er schüttelte den Kopf, ich auch. Micha schwieg und schraubte weiter an der Edelstahlsäule. Irgendwann war es dann so weit, Grillrost und Windschutz waren installiert. Der stolze Grillbesitzer erklärte sich feierlich zum Koch und schüttete die Kohle in seinen neuesten Schatz. Mit leeren Fundzetteln entfachte er auf ihnen ein Feuer, das die schwarz gemeilerten Hölzer zum Glühen bringen sollte. Weißlicher Rauch züngelte am Werkzeugcontainer vorbei in den blauen Himmel. Bald fächerwedelte Micha mit einem steif-bogigen Pappteller und versorgte die noch kleine Glut mit frischer Luft.
Schon begannen wir, die ersten Würstchen auf das jungfräuliche Gitter zu legen, als Sylvia sich aus dem Bauwagen zu uns gesellte.
„Na, habt ihr alles gekriegt?“
„Denke schon“, beschied ich kurz.
„Ja, heute kriegt man ja alles“, erwiderte sie nachdenklich, „früher war das viel einfacher. Da gab es zwar fast nüscht, aber man wusste wenigstens, was man kaufen kann. Heute stehe ich bei Liddel immer vor den Regalen und hab keine Ahnung, was ich mitnehmen soll.“ Stumm schaute ich sie an und sie schilderte weiter, „da ist ja alles immer so bunt und es gibt von allem hundert Sorten. Und man weiß nie, kauf ich jetzt das richtige oder ist das doch nicht gut?“
Ich erinnerte mich an die Wendezeit-Beschwerden, die mir ein Bekannter von seinen Kindern erzählt hatte. Ohne jedes Verständnis für die historischen Dimension des Unterganges des vorgeblichen Arbeiter-und-Bauern-Regimes mokierten sie sich allein darüber, dass plötzlich die Regale ihres westdeutschen Wohlstandssupermarktes leer und ausgeräumt waren. Sie bekamen ihren gewohnten Zucker-Schoko-Frühstücksmüll nicht mehr vorgesetzt, weil nun ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern eine Zeit lang vorrangig versorgt wurden. Die Konzerne hatten eben ein paar Monate Gefallen daran gefunden, Westkonsumenten vorzuführen, wie es jahrzehntelang in Ostgeschäften abgelaufen war, indem sie ganze Produktchargen direkt über die Grenze karrten. Das war echte Solidarität. Oder Kapitalismus, wenn man schlicht den damaligen Grad der Nachfrage beiderseits der Grenze miteinander vergleicht.
Dann grinste Sylvia plötzlich und lächelte über Michas Baseballmütze: „Weißte Micha, wenn du nivellierst, drehst du die Kappe auch immer nach hinten.“ Mit ihren Händen zeigte sie kurz an ihrer Kappe, was sie meinte, ohne sie richtig zu drehen, weil ihr Zopf hinten heraushing. Micha sah sie an und nickte in die Sonne. „Wenn du dann am Nivellier stehst, denn siehste immer aus, als ob du einen Film drehst.“ Jetzt machte sie kurbelnde Bewegungen in der Luft, „weißte, so wie früher, die Kameramänner.“
Micha machte ein hocherfreute Gesicht: „Soll ich dir mal einen von meinen Filmen vorführen?“, aber Sylvia winkte grinsend ab. Inzwischen hatten wir auch einen Teil des Fleisches auf den Grill gelegt. Micha öffnete das erste Bier, das er zunächst natürlich nicht zu trinken gedachte, sondern auf dem Grill zur geschmacklichen Unterstützung verwendete. Bald kam Jan mit den anderen an und fragte: „Mein Filet habt ihr auch schon draufgelegt?“ Eine Beantwortung erübrigte sich jedoch, weil er im Fragen gesehen hatte, dass es brutzelte.
Wernher ermahnte den kleinen noch einmal: „Da musste aba scheen uffpassen, dit dit nich trockn wird!“
Sylvia holte aus dem Kofferraum von Hans’ Wagen noch ein paar Grillsaucen, die sie mitgebracht hatte und ein Paket Toast. Stefan ging währenddessen zu seinem Pick-up und wurstelte sich aus einer Kühltasche eine bereits ausgenommene Forelle, mit der er dann zu uns kam.
„Hier, ha’ck selba jeanglt. Jrad jestern erss!“, verkündete er stolz und quetschte seine Forelle auf den Rost.
Hans staunte: „Ihr trinkt ja schon das erste Bier?“ Aber Micha winkte ab: „Nee, das ist doch nur das Grillbier!“
„Was für’n Bier habt ihr uns denn mitgebracht?“, wollte Dieter nun wissen und auch Stefan wurde neugierig: „Radeberjer? Hättet-ta ma lieba ’n anständijet Westpils jeholt!“
Das erboste Hans: „Dabei schmeckt Radeberger doch schon längst wie’n Westpils, früher, ja, da war das gut, da haben se sich vorm Jahresende vorm HO noch ums Bier geprügelt.“
„Daran kann ick mir ooch noch erinnern“, träumte Wernher, „und damals hat et ja ooch noch jeschmeckt, nich wahr, Hans?“
Längst hatten sich alle in einem Kreis um den Grill verteilt mit gebührendem Abstand zu den Bierdampfschwaden, die Micha regelmäßig durch das Nachmarinieren erzeugte. Im Gesicht des einen oder anderen sah man zuweilen prüfende Blicke, ob sich nicht vielleicht der Wind drehte. Inzwischen hatten sich alle Biertrinker eine Patrone genommen und geöffnet. Ab und zu saugten sie an dem runden Blech.
„Kuckt mal, ein Storch“, Sylvia lenkte alle Blicke zum Himmel, „so was gibt’s im Westen gar nicht mehr.“ Ich setzte ein sehr verdutztes Gesicht auf, da erklärte sie schon, „na im Westen ist doch nur Industrie und alles voller Straßen. So was wie Natur gibt’s da doch gar nicht mehr.“
Ich bemerkte lapidar: „Mal davon abgesehen, dass im Westen gerade alte Industriegebiete in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sehr grün geworden sind, möchte ich dezent an Bitterfeld erinnern.“
„Das ist ja nur ein Extrembeispiel. Dafür haben wir nicht so viele Autobahnen, sondern viel mehr Natur. Und Störche oder Frösche, das gibt’s bei euch doch gar nicht mehr.“
„Natürlich, ich hab ja als Kind immer Frösche und Molche gefangen.“
„Ja, du weißt doch, wie ich das meine“, beschwichtigte sie, „Anwesende sind schließlich ausgenommen, du bist ja sowieso nicht wie die anderen Wessis.“
„Bist du denn schon mal dagewesen?“, fragte ich Sylvia, „Also im Westen?“
Sie schüttelte den Kopf, Hans erhob aber für sie den Zeigefinger und meinte: „Ich bin schon mal in Braunschweig gewesen, da habe ich Sperrmüll verkauft. Und was ich da vom Westen gesehen habe, reicht mir, das brauch ich nicht noch mal.“
„Naja, Braunschweig dürfte kaum typisch für den ganzen Westen sein“, merkte ich an und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Stefan, der Dieter inzwischen mit Anglerlatein unterhielt.
„... sooo jroß war der, son richtijen Kawennsmann“, Stefan riss seine Arme so weit auseinander, wie er es nur vermochte, „aba denn war da uff eenmal son komischet Jeräusch.“ Der Baggerfahrer stimmte ein sehr dumpfes Huu-Huu an, „det wa in de Büsche drinn. Da ham wa uns so erschreckt! Mein Kumpel hat sojar seine Angel da liejn lassn“, er lachte, „weil er dachte, det da wer erdosselt wird, oda sojar schon tot is. Ick hab mir mehr Sorjen jemacht, det det die Aufsicht is, un wa hattn doch keene Papiere nischt, also sinn wa losjefarn.“
Auch Jan hörte aufmerksam zu und vermutete hinter dem Geräusch: „Das war doch bestimmt ’ne Kuh, die in den See gefallen ist, oder?“
Aber der kopfschüttelnde Dieter wusste mehr: „Du hast gesagt, das war hier am Pleuner See?“, Stefan nickte, „Dann war das ’ne Rohrdommel.“
„’ne Rohrdommel?“ Der Baggerfahrer staunte, „Det Jeräusch soll ’n Vojel jewesn sein?“
„Ja natürlich!“, beharrte Dieter mit seiner kindlichen Überzeugung, „Die Rohrdommel nennt man deswegen doch auch Moorochse. Oder – na, wie noch – genau: Wasserochse. Außerdem kenne ich den See, da fahr ich immer mit meiner Frau hin.“ Die Augen des Seemanns nahmen wieder ihre fröhliche Faltenstellung ein, „die schimpft dann immer. Wenn wir da hinfahren“, imitierte er die Stimme seiner besseren Hälfte, „denn will ich mich auch in die Sonne legen. Du gehst doch immer nur am Ufer spazieren und sammelst Flint.“
„Ist da ein Fundplatz?“, fragte ich.
„Ja, natürlich. Mesolithikum. Ich sammel da schon seit Jahren. Weißt du, ich merk das schon beim Drüberlaufen“, mit seinen Händen versuchte er mir bildhaft die Bewegung seiner Füße nachzuahmen, „wenn ich auf geschlagenen Flint trete. Der hört sich anders an, als irgendwelche Rohlinge oder natürlicher Bruch. Das ist ein viel helleres Geräusch, wenn der geschlagen ist.“ Er hielt die Hand ans Ohr, als ob er dem Klang eines imaginären Flintfundes lauschen wollte.
Micha nahm inzwischen die ersten Sachen vom Grill und verteilte sie an die Leute. Stefans Fisch musste noch länger brutzeln und Jan bestand darauf, dass sein Filet durchgebraten wird. Rind müsse gut durch, wusste er uns zu belehren. Nachdem die meisten zuvor noch gestanden und sich bestenfalls an Container und Bauwagen angelehnt hatten, suchte sich spätestens jetzt zum Essen jeder irgendein Plätzchen, auf das er sich setzen konnte. Drei Leute nutzten die Anhängergabel, andere nutzten stabile Eimer, ich machte es mir in einer hochgekippten Schubkarre bequem. Sylvia lachte darüber, aber ich erklärte fröhlich: „Das ist besser als der Sessel, den ich zuhause habe.“
Micha fragte den Baggerfahrer: „Willst du nicht doch ’ne Wurst?“
Doch Stefan verweigerte: „Mit Semf? Ick ess doch keene Wurst, die keene Körriwurst nich is! Wenn dann ess ick nur ’ne Bärlina Körriwurst.“ Er grinste.
„Ja, die Berliner Variante. Einer der beiden Currywurstpole.“
„Wat heißt’enn eena? De Körriwurst kommt aus Bärlin! Die hat die Heuwa nachm Kriech am Stutti erfundn!“
„Dann bist du also ein Vertreter der Theorie einer Berliner Currywurst-Genese?“ Der Hell’s Angel blickte mich rätselnd an. Er hatte gehört, was ich gesagt habe, aber kein Wort verstanden. Micha knabberte inzwischen an seinem Steak-Lutscher herum und betrachtete unser Wurstduell. „Ich weiß, dass es in Gelsenkirchen schon genauso lange Currywürste gibt, deshalb denk ich, dass die etwa gleichzeitig an mehreren Orten entstanden ist. Angeblich gibt’s ja sogar Hamburger, die die Erfindung für sich reklamieren.“
Da war Stefan mit mir einer Meinung: „In Hamburg? Ja, det is nu totala Quatsch!“ Er wischte die Idee beiseite und lobte anerkennend: „Nee, eure Ruhrpottwurst is zwar janz anndas, aba wenichstens is det ’ne Körriwurst!“ Wir grinsten uns entspannt an.
Während der Toast reihum durchgereicht wurde, lachte Wernher plötzlich verschmitzt auf: „Ha’ck euch eijentlich schon ma vom dem Jrabungsleiter erzählt, der ’ne Kuh nich vom Pferd unterscheiden konnte?“
Gleichzeitig folgte das Senfglas dem Toast und wieder bediente sich jeder der Reihe nach. Auf Wernhers Frage schüttelten alle den Kopf, die ersten begannen zu kauen.
„Na, det war so. Wir hattn son Befund ausjejrabn, da war son Tierschädel drin. Denn kam die Presse und der Jrabungsleiter erzählte denen wat vom Pferd. Aba im Wortsinne.“ Wernher griente. „Als die Presse weg war – vorher ha’ck natürlich det Maul jehaltn, wollt den ja nich blamiern! –, da ha’ck den zur Seite jenomm un ihm jesacht, Mensch, pass ma uff, det kann doch keen Pferd nich sein. Kiek ma, det hat doch Hörner! – Da schüttelt der den Kopp, neinnein, das ist ein Pferd. – Un ick wieda, ja denn kiek doch hin, hier, siehste die Hörner nich? Aber der wollt det partu nich wahrham. Der hat det nich zujejebn.“ Wernhers Gesicht glich wieder dem eines satten Katers, der gut gelaunt auf seiner Veranda liegt.
Sylvia staunte: „Aber der muss doch auch studiert haben?“
„Das muss gar nichts heißen“, wusste ich einzuwerfen, „was meinst du, wie viele Leute an der Uni erst so richtig verblöden?“ Mit einem Gedanken an Senff ergänzte ich, „und wie viele kommen schon total blöde an!“
Schließlich richtete sich die Besetzung von Ämtern noch nie in der Menschheitsgeschichte nach den Fähigkeiten und Talenten des ausgewählten Kandidaten. Unwichtige Faktoren gaben wesentlich häufiger den Ausschlag, als sich so mancher träumen lässt. Wahrscheinlich sind hierin die Gründe dafür zu finden, warum der Anteil der Hohlköpfe und Begriffsstutzigen ausgerechnet bei Wissenschaftlern am höchsten ist, obwohl sie stets von sich glauben, überlegenes Wissen angehäuft zu haben. Entsprechend hoch ist besonders an Universitäten die Wahrscheinlichkeit, solche Leute zu treffen und kennenzulernen. Sie selbst sehen sich natürlich als Verdauungsorgan der geistigen Nahrung. In Wirklichkeit sind sie nicht mehr als ein offenes Magengeschwür. Und genau an dieser Fehleinschätzung wird die Demokratie dieser Pseudo-Eliten eines Tages zugrunde gehen.
Ich weiß nicht, wie Micha es merken konnte, aber er ahnte, dass ich an Senff dachte. Vielleicht habe ich einfach zu lange auf das Senfglas gestarrt.
„Du meinst unsern Maxim? Hm?“ Ich nickte wortlos und biss mit zusammengenkniffenen Augen in meine Bratwurst.
Micha begann verbittert zu plaudern: „Na, was das Fach angeht, ist er auf jeden Fall ein Idiot und menschlich sowieso. Das wissen wir ja alle. Aber es gelingt ihm zumindest, aus Verhandlungen das Beste herauszuholen. Wusstest du“, er zeigte mit der besenften Wurst auf mich, „dass der hier in der Nähe ein Ferienhaus hat?“ Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nur son Altbau, günstig gekauft, wahrscheinlich für zehn Riesen oder so. Sieht aber inzwischen aus wie aus dem Ei gepellt.“ Die anderen schwiegen betreten, es schien, dass der Baggerfahrer und ich die einzigen waren, die die folgende Geschichte nicht kannten. „Und weißt du, wann das renoviert wurde? Und von wem?“ Wieder musste ich gestisch verneinen. „Kurz nachdem zwei Grabungen an Autobahnbrücken eingestellt wurden, die nach Voruntersuchungen beste Ergebnisse gebracht hatten und bei denen die meisten von uns bereits angefangen hatten zu arbeiten. Und sein Häuschen wurde nach Abbruch der Grabungen ganz zufällig von derselben Firma renoviert, die die Brücken gebaut hat. Immer am Wochenende.“ Sogar Wernher blieb ruhig, wie ich verwundert feststellte. Wenn er noch Senffs Büttel war, konnte es nicht lange dauern, und der Abteilungsleiter der Sonderprojekte würde erfahren, was über ihn geredet wurde. Inzwischen muss ich davon ausgehen, dass Wernher bereits während meiner Grabung längst nicht mehr in dieser Hinsicht für Senff arbeitete.
Ein Wartburg fuhr auf das Grabungsgelände. Langsam röhrte er an den Container und die Bauwagen heran, alle schauten mampfend in seine Richtung. Aus dem Auto stieg ein typischer Bauer mit einer gefütterten Cordweste und einem fleckigen Manchesterhut. Er kam zu uns und ich sah, dass er in den Händen ein kleines Etwas trug.
„Mahlzeit! Sacht ma, wer is denn der Chef hier?“
Dieter wies auf mich und ergänzte grinsend, „Der hier. Mit der komischen Brille.“
Der Bauer wunderte sich überhaupt nicht darüber, dass wir grillten, und stiefelte bedächtig zu mir. Ich erhob mich aus meiner Schubkarre.
„Mir gehört ja der Hof da hinten“, zeigte er und sprach langsam, „da hab ich jeden Tach gesehn, dass ihr hier arbeitet. Da hat meine Frau gesacht, geh doch ma zu den Geologen da hin und zeich den’ unsern Stein. Der is ma bei der LPG auf’m Acker runtergekomm. Da hab ich den gefunden. Die solln sich den ma ankuckn, sacht’se. Nich dass das hier von so Außerirdischen is. Oder so radiotisch. Hier. Kuck dir das man an.“ Er hielt mir einen grauen Klops unter die Nase. „Is das ’n Meteorit?“
Ich hatte meine Steak gegessen und legte den leeren Pappteller zur Seite, um die Hände frei zu haben. Dann nahm ich ihm den kleinen kugeligen Stein ab und sah auf dem ersten Blick, um was es sich handelte.
„Nee, das ist kein Meteorit. Das ist ein versteinerter Seeigel. Hier schauen Sie mal“, zeigte ich mit dem Zeigefinger, „hier sehen Sie die Stachelansätze.“
„Also nich aus dem All?“, fragte der Bauer zweifelnd.
„Ganz bestimmt nicht“, versicherte ich.
„Na, hoffentlich glaubt’se mir das“, er zögerte einen Moment, die anderen blieben stumm, waren aber merklich erheitert, dann entschied er sich wieder zu gehen, „ja, dann Mahlzeit, ich muss jetzt auch zum Essen.“
Er saß kaum in seinem Auto, da blödelte Micha schon herum, „Hättest ihm für seine Alte ja wenigstens mal ein schriftliches Gutachten ausstellen können“, und alle lachten, während der Wartburg des Bauers rückwärts vom Acker sprotzte.
„Jaja, die Bauern“, meinte Wernher, „die leiden hier ooch richtich unter den Jrabungen.“
„Na, wie man’s nimmt“, erwiderte ich, als ich mich wieder in die Schubkarre setzte, „normalerweise kassieren die doch doppelt und dreifach.“
Wernher blickte mich fragend an und ich erklärte: „Die kriegen doch nicht nur die Entschädigung, die mehr beträgt, als sie mit der Ernte je verdient hätten, sondern holen auch dann noch das Letzte raus. Ich hab mal auf ’nem Kartoffelacker gegraben, da kam der Bauer regelmäßig mit der ganzen Familie an und hat die ganzen Kartoffeln, die wir ausgebaggert haben, eingesammelt und an der Straße verkauft, obwohl die noch die fette Entschädigung kassiert haben.“
„Man darf de Lebensmittel aber doch ooch nich verkomm’ lassn“, ermahnte Wernher.
„Natürlich nicht – aber wenn sie Teile der Ernte noch retten, sollen sie auch keine übertriebene Entschädigung verlangen. Die zahlen wir schließlich alle über Steuern.“
„So jesehen haste recht“, stimmte Wernher mir zu und Hans pampte: „Den Bauern ging es doch immer gut. Die haben doch auch nach dem Krieg das ganze Silberbesteck von meiner Mutter und meinen Großeltern kassiert, nur damit wir was zu beißen hatten!“
„Meene Forelle muss doch bald fertig sein“, meinte Stefan und nahm sich seine Forelle vom Grill.
„Na, und mein Filet ist bestimmt auch langsam fertig.“ Jan schritt zum Grill und warf sich das braungebrannte Fleischstück auf seinen Pappteller. Er stolzierte zu seinem Platz zurück wie ein junger Hund mit seinem Lieblingsspielzeug und operierte und meißelte sich durch die Muskelfasern.
„Das ist ja total hart!“, beschwerte er sich nach dem ersten Probestück, „was habt ihr denn damit auf dem Grill gemacht?“
Wernher schmunzelte nur „Ha’ck dir det nich jesacht?“
Jan reagierte nicht darauf, sondern sprach mit sich selbst: „Ich muss erst mal was trinken, das ist mir zu trocken.“
Plötzlich rumpelte Wielands verbeulter Dienstwagen über der Landstraße. Er setzte sehr mutig auf unserem Acker auf und federte bis zu unserer Gruppe. Als Wieland ausstieg, begrüßte Micha ihn: „Ho-ho, immer ruhig mit den jungen Pferden! Möchtest du ’ne Wurst?“
Wieland sah gehetzt aus, „Was? Nein, danke!“, und lief auf mich zu. „War Senff schon bei euch?“, fragte er dann.
„Nein – wieso?“
„Der sollte doch heute kommen, wir haben gerade ein Körpergrab entdeckt, ein Fürstengrab mit Schwert und gut erhaltenen Holzeimerresten. Warum passiert so was eigentlich immer Freitags mittags?“
Ich erschrak, weil ich sofort wusste, was das bedeutete. Herausragende Funde und Befunde kann man niemals über ein Wochenende unbeobachtet liegen lassen. Es gibt nur drei Möglichkeiten, wie man mit solchen Funden an Wochenenden umgehen kann. Entweder muss man sie wieder zuschütten und sehr gut tarnen, bis man die Untersuchung in der Folgewoche mit der richtigen Muße und dem nötigen Equipement durchführen kann. Leider ist es keinem Befund besonders zuträglich, wenn man ihn erneut unter Erdmassen begräbt und ein zweites Mal freilegt. Eine andere Möglichkeit wäre, den Befund auf der Stelle auszugraben, was je nach Qualität oft genug überstundenlanges Gekratze und Gepinsel im strömenden Regen unter der Scheinwerferbeleuchtung des amtlichen Wagenparks bedeutete. Die letzte zu nennende Lösung kann ein Wachdienst sein, der in professioneller Form allerdings in den seltensten Fällen finanzierbar ist. Also werden hin und wieder die eigenen Mitarbeiter zu solch unschönen Tätigkeiten genötigt. Ein Bekannter von mir hat beispielsweise einmal eine regendurchnässte Nacht in einem Sommerschlafsack auf einer Kuhwiese neben einer Moorleiche verbracht. Damit die gefräßigen und vor Neugier strotzenden Rinder weder die Mumie noch seinen Schlafsack anknabbern, war er gegen Mitternacht dazu gezwungen gewesen, einen Stacheldrahtzaun zu organisieren und um die provisorische Schlafstätte zu ziehen.
Angesichts der bisherigen Abläufe in diesem Amt war klar, dass wie so oft auch hier Zeit und Geld nicht gepaart auftraten. Und Intelligenz fehlte auf höherer Ebene schließlich sowieso. Daher war ich davon überzeugt, dass Senff alles darangäbe, den Befund in kürzester Zeit zu dokumentieren und auszunehmen.
Wieland blickte panisch, ich versuchte ihn erst einmal zu beruhigen: „Fahr doch mal zur LPG und ruf im Amt an, vielleicht erwischst du ihn noch?“
„Ja, ja, du hast recht, das sollte ich machen“, stammelte er nervös und mit herumirrenden Blick.
„Ich kann ja mal mit ein paar Leuten zu deiner Grabung rüberfahren“, half ich weiter, „wenn das heute noch raus soll, wirst du sowieso noch Verstärkung brauchen.“
„Ja, stimmt“, er drehte sich um, lief zu seinem Wagen, „ich fahr dann schnell zur LPG“, und war wieder genauso schnell vom Acker, wie er gekommen war.
„Jan, Wernher, Dieter? Ihr kommt mit. Micha, du kannst mit Sylvia und Hans erst mal einräumen, wenn ihr die Sachen verstaut habt, könnt ihr nachkommen.“
Die drei Arbeiter nahmen sich aus dem Werkzeugcontainer ein paar Kellen und zwei, drei Eimer mit, stellten sie in den Kofferraum meines Wagens und stiegen ein. Ich kramte währenddessen meine Unterlagen in eine Tasche zusammen und warf sie dazu. Wir waren alle schon sehr gespannt auf das Grab, mussten aber wie üblich an der Bahnschranke halten, bevor wir nach Krützin fahren konnten.

Mittwoch, 22. April 2009

Kapitel 11.4

Ich weiß nicht, warum es so ist, aber deutsche Supermärkte sind auf eine ganz eigentümliche Art überfüllt, wie ich es in einem Supermarché oder einem Tesco nie beobachten konnte. Mit Gehwagen bewaffnete Rentner, Väter, die für ihre Familie das erste Mal in ihrem Leben überhaupt einkaufen, und Mütter, die ihre zweiunddreißig Kinder in alle Gänge gleichzeitig ausschwärmen lassen, verstopfen ganze Läden. Diese deutsche Auffälligkeit ist völlig unabhängig von der Uhrzeit, von den Jahreszeiten oder sogar von Schulferien, und man wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch gängeblockierende Einkaufswagen und supersonderangebotplündernde Rentner antreffen, wenn man in diesem Land morgens um zwei Uhr einkaufen gehen können wird.
Micha wusste, dass der Markt einen Säulengrill im Angebot hatte. Zielstrebig schob er den Einkaufswagen Model Wanzl zu den im hinteren Mittelbereich aufgebauten Zusatzangeboten.
„Schau mal den hier“, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf einen Karton, der fast größer war als Jan, „das ist ein Edelstahlsäulengrill.“ Flüsternd las er: „Chrombeschichteter Grillrost, hm, mit Windschutz, das ist gut, bei uns im Garten zieht’s fast immer.“ Jetzt war er sich sicher, „den nehm ich!“, und packte den Karton in den Wagen, der damit fast gefüllt war.
„Ich nehm hier gleich mal einen Sack Holzkohle“, ergänzte ich und warf einen schwarz gefüllten Papiersack dazu, dann stratzten wir zur Kühltheke. Wortlos warf ich auch ein kleines Paket mit Plastikbesteck in den Einkaufswagen, Papierteller hatten wir zum Glück noch auf der Ausgrabung. Da sollten sie eigentlich zur besseren Kennzeichnung von Pfostengruben dienen, falls wir einen Hausbefund entdeckt und fotografiert hätten. Ein Haus hatten wir aber nicht gefunden und so wurden die Teller doch noch sinnvoll verwendet.
„So, was sollten wir mitbringen“, brabbelte ich, während ich die Einkaufsliste aus meiner Jackentasche kramte, „das sind Würstchen, da können wir die hier nehmen – Wernher und Dieter wollten marinierte Koteletts, wo haben sie die denn hier?“
„Hier drüben“, sagte Micha, „hier gibt’s auch Schweinenackensteaks für Hans.“
„Da kannste mir auch mal eins einpacken.“
„Das sind sowieso immer zwei – schau mal hier! Steak-Lutscher!“ Micha wieherte durch den ganzen Markt, „Kuh am Stiel, das ist gut, das nehm ich!“
„War es das? Ich glaub, dann können wir zur Getränkeabteilung.“
Micha, jetzt ganz Lord Jim, führte das mit einem kartonierten Edelstahl-Schornstein versehene Ladenschiff durch die verwinkelten Arme des bunten Einkaufsdschungels, der die für mich so seltenen „Kauf Ost!“-Blüten trieb. Wir gelangten an die Versorgungsstation, die Hopfen- und Zuckerprodukte bereithielt. Micha packte ein normales Sixpack ein, irgendein ostdeutsches Bier. Ich griff dazu mehrere Flaschen eines alkoholfreien Bieres für Wernher und mich. Jan nahmen wir eine Cola mit. Dann suchte ich noch ein Glas Ostsenf und wir trollten uns zur Kasse.
Vor uns stand eine der obligatorischen Rentnerinnen aus dem Deutschen Pfennigsammelklub, die ihre wertvolle Sammlung spazieren führte. Als sie die beiden Doppelkornflaschen, die sie zu erstehen wünschte, aus ihren Buntmetallvorräten bezahlte, merkte ich aus dem Augenwinkel, dass Micha mit durchdringendem Blick einen jungen Mann fixierte, der vor der Rentnerin seine Sachen einpackte. Der Mann hatte sehr kurze Haare, allerdings keine Glatze, und lief bald mit einer gefüllten Plastiktüte los, die er mit beiden Armen vor der Brust umklammerte. Vorher war er mir bei den Überraschungseiern aufgefallen, wo er mit einem offensichtlichen Kennergehör hochkonzentriert zahlreiche Schokoladengehäuse durchgeschüttelt hatte, um gefragte Figuren herauszuhören. Als er nun den Supermarkt verließ, lachte Micha einmal verächtlich auf.
Ich fragte: „Kennst du den?“
„Kennen? Das kann man wohl sagen“, er verdrehte die Augen und sagte in meine Richtung, „erzähl ich dir aber gleich draußen.“
Die Kuh von einer Kassiererin bewunderte derweil die Münzsammlung der Oma und betüddelte jedes einzelne Geldstück auf ihrer Handfläche wie eine Hexe, die gerade die Warzen in jemandes Hand bespricht. Endlich war der Doppelkorn verhandelt, so dass uns die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Grundausstattung Grillen zu erwerben.
„Eyschendlisch is schön Lodnschlüss“, mokierte die Kassiererin sich breit, „oba do will isch mo gulánt seyn.“ Micha und ich sahen uns kurz an, vermieden es, eine Grimasse zu schneiden und schwiegen beredt.
Sie rechnete den Grill ab und schob die kleineren Produkte über das Band, während sie die Preise in die Kasse tippte. Ich räumte die Sachen ein, denn Micha sollte wegen des Grills insgesamt in Vorlage gehen und Grillgut und Getränke später von mir bezahlt bekommen.
Als wir aus dem Laden wollten, war eine andere Kassiererin bereits damit beschäftigt, die Ladentüren zu schließen und ein Gitterrollo herunterzulassen, ließ uns jedoch mit einem gurgelnd geschnauzten „Nu oba fix!“ aus dem Laden.
Draußen sah ich, dass der Kurzhaarige gerade den Kofferraum seines eindeutig übertunten Wagens schloss und zur Fahrertür taperte. Wieder fragte ich: „Wer ist das denn da hinten jetzt?“
„Hähä, das war mal der Obernazi im Nachbarkreis. Hat sich da aber bis auf die Knochen blamiert. Die Mutter von einem Schulfreund von mir arbeitet da in einer Videothek. Und in der Pornoabteilung sind da ständig die Hüllen geklaut worden.“
Ich glaubte zu verstehen, „ach, und das war er?“ Inzwischen packten wir die Sachen in unseren Wagen.
„Nee, nee“, verneinte Micha und lachte erstaunlich leise, „die haben den Täter nie erwischt, das kommt noch besser! Weil sie da nie einen ertappen konnten, haben sie heimlich eine Kamera installiert. Na, und da haben sie dann eines Tages aufgenommen, wie sich der Arsch da drüben vor den Regalen einen runterholt.“
Ich schaute verdutzt, Micha wurde ernst und versicherte, „Ja, wirklich! Mein Freund hat das Video von seiner Mutter bekommen, ein paar Kopien davon gemacht und im ganzen Landkreis verteilt. Der Idiot war so lächerlich gemacht worden, dass der da glatt wegziehen musste.“ Er lachte, jetzt wieder laut.
„Und jetzt ist er hier angekommen“, ergänzte ich, während wir in den Wagen einstiegen.
„Genau. Und die Glatzen hier sind schon doof genug. Einer von denen“, jetzt kam er in Tratsch- und Palaverlaune, „wohnt eine Querstraße weiter von mir, der wollte sich selber auf die Stirn ,S K I N S' tätowieren. Leider“, jetzt ähnelte Michas Zwischenlachen wieder dem Wiehern eines Pferdes, „hat er das vor einem Spiegel gemacht und nicht dran gedacht, dass er das verkehrtrum machen muss! Der läuft jetzt den Rest seines Lebens als ,SNIKS' herum!“

Bildhaft stellte ich mir die Stirn des Idioten vor und wunderte mich über die Untiefen ostdeutschen Landlebens. Dann fuhren wir los. An der Ausfahrt des Supermarktparkplatzes gewährte Micha mir mit einem „rechts ist grün“ freie Fahrt und wir gelangten bald über die Kreuzung zum Bahnübergang, der wie üblich geschlossen war.

Donnerstag, 9. April 2009

Kapitel 11.3

Wir fuhren von der Grabungsfläche zum Bahnübergang und mussten natürlich wie üblich halten. Vor uns stand ein gelbes LPG-Ungetüm und Michas Augen glänzten.
„Ein Kasi!“, seufzte er versonnen.
Ich wunderte mich „Hm?“ und blickte umher, nicht wissend, wonach ich Ausschau halten sollte.
„Na, da vor uns“, mit beiden nach oben geöffneten Händen und hochgezogenen Schultern wies er auf das agrartechnische Ostblockwunder, das uns die Sicht versperrte, „ein K-Siebenhundert, ein Kirovets. Der hieß bei uns nur Kasi. Ein herrliches Gerät. Unkaputtbar. Damit kannst du alles machen.“
Ich schwieg. Dann lenkte ich ab: „Praktisch, dass du den Grill stiftest.“
„Ja, ich wollte mir diese Jahr sowieso einen neuen holen. Mein alter steht nur noch auf zwei Beinen.“ Sein winkender Unterarm imitierte einen umfallenden Grill.
„Blöd ist natürlich nur“, merkte ich an, „dass der direkt so eingesaut wird.“
„Ach, das macht nichts“, schob er beiseite, „ich sag immer, das fällt unter Revolutionssteuer.“
Meinen fragenden Blick beantwortete er mit einem lachenden: „Ja, so nennen wir das bei uns immer, wenn jemand was der Allgemeinheit spendet. Wenn irgendwann die Revolution ausbricht, gehört doch sowieso allen alles.“
„Du scheinst da ja sehr optimistisch zu sein?“, zwinkerte ich.
„Ja, wir tun ja auch alles dafür, dass der Staat zusammenbricht.“
Die Schranke war inzwischen wieder hochgegangen, der K-700 losgefahren. Ich startete den Dienstwagen, „nämlich?“
„Na, ein Freund von mir macht sich den Spaß, Strafzettel zu sammeln. Also nur so die kleinen, immer über ein paar Mark. Und wenn er dann die Zahlungsaufforderung bekommt, überweist er immer so fünf Mark mehr. Wir wissen nämlich von einer Bekannten“, lachte er, „dass der Amtsaufwand für die Rücküberweisung in der Verkehrsbehörde mindestens das Dreifache beträgt.“
Ich schüttelte grinsend den Kopf.
„Wir kriegen den Staat auch noch kaputt“, war Micha sich sicher und freute sich.
Wir rollten inzwischen auf den Parkplatz des Supermarktes. Nebenan war ein Metzger. Da ich davon ausging, dass wir außer dem Rinderfilet alles in der Kühlabteilung des Supermarktes bekommen würden, gingen wir erst zum Schlachter, um das von Jan gewünschte Filetstück zu besorgen. In der Metzgerei staunte ich über einen Fernseher, der am Rand der Theke aufgebaut war und mit einem großen Schild als „Hackfleisch-TV“ gekennzeichnet war. Glücklicherweise liefen keine blutigen Splatter-Filme, sondern es wurden nur gut gelaunte Rinder seltener Rassen gezeigt, die auffallend glücklich auf irgendwelchen französischen Hochwiesen flanierten und nur wenig mit den hier eng eingestallten Holstein-Frisian gemein hatten.
Die Bedienung hinter der Theke stellte sich unerwartet blöde an (nein, ich war an der Reihe, ja, Sie können mir helfen, ich möchte von dem Filet da, nein, von dem da, nein, kein Steak, sondern Filet, genau, ja, ungefähr so viel, nein, ich möchte keine halbe Kuh, ich möchte so viel, nein, das ist zu wenig, nein, ich möchte nichts mehr, danke, Sie mich auch), so dass wir unerwartet viel Zeit in dem gelb gekachelten Bau verbrachten. Anschließend brachte ich das Filet zum Auto, während Micha einen Einkaufswagen holte. Direkt neben dem Supermarkteingang stand eine überdimensionale Erdbeere, in die ein breites Verkaufsfenster und zwei seitlichen Türen eingeschnitten waren. Die Auslage war überfüllt mit zahllosen Schalen voller kleiner Sammelnussfrüchte. Micha wartete vor der großen Erdbeere, lehnte sich mit überkreuzten Armen auf den Einkaufswagen und lachte wiehernd. Als ich bei ihm ankam und mich wunderte, wies er nur auf die Schilder, die an dem Verkaufsstand aufgestellt waren.
„Ärd-bä-ren!“, amüsierte er sich, „Hat man so was schon gesehen?“ Ich grinste und verneinte wortlos.
Die Verkäufern, offenbar direkt vom Feld hierhin abgestellt, wusste sofort, worum es ging, „iest das von Tschef. Hat das Tschef geschribbän“, und freute sich nicht weniger als der lachende Hüne.
Micha erwiderte prustend: „Ja, aber dann sollte er auch so konsequent sein und Ärd-bä-rään schreiben“, mit Betonung auf der letzten Silbe des fraglichen Wortes.
Lachend schoben wir ab, hinein in die kapitalistische Ausgeburt der Vorhölle des Konsums, hinein in den Supermarkt.

Samstag, 4. April 2009

Kapitel 11.2

Die Grabung schleppte sich derweil von Quadrant zu Quadrant und von Befund zu Befund. Bald war ein Ende abzusehen und ich kam den Arbeitern in ihrem Wunsch entgegen, am vorletzten Freitag mittags zu grillen. Die Stunden hatten wir uns freigearbeitet, so dass wir allesamt nach dem Grillen direkt in den wochenendlichen Feierabend übergehen konnten.
Direkt morgens wurde ich von einem lachenden Dieter mit der Frage begrüßt, ob ich den Willen zum Grillen in mir verspürte. Ich bejahte und schmunzelte über den eher lauen Witz. Irgendwann kurz vor Mittag wollte ich dann zusammen mit Micha zum Supermarkt im Ort fahren, um den Grill, die Kohle und für alle zusammen Würstchen, Fleisch und Getränke einzukaufen. Zuvor schaufelten, putzten und zeichneten die Arbeiter und Micha auf dem Grabungsfeld. Baggerfahrer Stefan schob Abraum zur Seite und half beim Ausnehmen größerer Siedlungsgruben mit dem Anlegen von Arbeitsgruben. Sylvia war derweil im Bauwagen damit beschäftigt, ihre letzten Zeichnungen in den Übersichtsplan kleineren Maßstabs umzuzeichnen, den ich für die spätere Bearbeitung zur Hand haben wollte. Ich saß ihr dabei gegenüber und füllte auf dem grundsiffigen Tisch die letzten Formulare aus, die in dieser Woche noch unbearbeitet geblieben waren.
Kurz vor Mittag stand ich auf, um mich zu strecken, und blickte aus dem Fenster des Bauwagens.
„Irgendwie ist das sehr surreal, von hier betrachtet.“
„Was meinst du?“
Mit einer zweifelnden Überlegung schüttelte ich zweimal den Kopf: „Na, es wirkt wie eine Mannschaftssportart, was die draußen veranstalten. – Herzlich willkommen“, imitierte ich aus dem Stegreif einen fiktiven Radioreporter, „zum zweiten Viertel unserer heutigen Grabungsübertragung, mein Name ist Paul Eggers und ich darf Sie herzlich begrüßen zu diesem außerordentlich spannenden Spiel.“ Sylvia grinste merklich, zeichnete aber konzentriert weiter. Ich steigerte mich: „Wir sind heute auf dem Feld von Totenow in der Maxim-Senff-Gedächtnis-Arena, und es ist ein Heimspiel der Totenower Sandteufel. Für die Sandteufel sind angetreten: Als Kapitän Benny Frandsen, auch bekannt unter seinem Spitznamen Flintdolch-Micha, in der Verteidigung an der Schaufel Dieter ,Popeye' Räumer und an der Schubkarre Hans Gros, der Rasenmähermann.“ Sylvia lachte. „Gäste sind die Wossi-All Stars, eine gemischte Ost-West-Auswahlmannschaft, die heute mit Jan ,Robin Hood' Retzlaff als Kapitän spielen, Wernher Senger, die ,märkische Schaufel', verteidigt, und der ,Höllenengel' Stefan sitzt im Bagger. Die Begegnung wird übrigens gesponsort von Attila Furioso, der stärksten Motorsäge der Welt, ja und ich sehe gerade, die Mannschaften laufen wieder auf das Feld. Als Schiedsrichter pfeift übrigens ein Grabungsleiter, der bereits einige größere Grabungen gepfiffen hat, ich denke da beispielsweise an die Finals von Groß Plüggenthun und Lügwitz, das den meisten von uns sicherlich noch als Schlammschlacht und spannende Partie zugleich in Erinnerung geblieben sind. Ich fasse vielleicht kurz den Stand aus dem ersten Viertel zusammen: Die Sandteufel haben die Auslosung verloren und mussten sich mit den Befunden in den Quadranten C18 bis 20 zufrieden geben. Hier zeigten sich zwar mehr Störungen in Form von Drainagen, aber dafür waren hier auch deutlich weniger Befunde, die es zu bearbeiten galt. Trotz besserer Ausgangsbedingungen haben die Wossis dennoch im gesamten ersten Viertel abgesehen von ein paar lumpigen Abschlägen, die immerhin schon jungsteinzeitlich sein könnten, und einem einzigen kalzinierten Flint noch keinen Fund machen können. Da sieht die krumpelige Krümelkeramik, die die Sandteufel geborgen haben und die wir hier im Stadion gerade an der Videowand in einer Nahaufnahme bewundern können, doch wesentlich besser aus. Ja, das dürfte hinterher Punkte in der B-Note geben. Kein Zweifel. Allerdings hatten die Wossis natürlich auch einen ordentlichen Zeitverlust, als ,Robin Hood'-Retzlaff mit dem Schiedsrichter Witze machte und im Anschluss mit seiner gesamten Mannschaft eine Strafrunde auf dem Abraum schieben musste. Gerade höre ich, dass das Spiel wieder angepfiffen wird. Die Mannschaften versammeln sich vor den Quadranten, nehmen die Geräte in die Hand und“, ich rief laut: „JETZT ERTÖNT DER ANPFIFF!“
Sylvia erschreckte sich und lachte gleichzeitig, ich plapperte in einer tonlosen Schnellsprache weiter: „,Flintdolch'-Micha schwingt die Schaufel, das wird hart für ,Robin Hood'-Retzlaff, und da kommt ,Popeye' Räumer, er schaufelt, als sei der Teufel hinter ihm her, mit einem Bauchkippdreher holt er das Letzte aus seinem Sportgerät, dabei war er noch vor zwei Monaten mit einer komplizierten Sehnenscheidenentzündung in Behandlung, hoffentlich hat er da keinen Tierbau erwischt“, meine Stimme hetzte immer schneller, Sylvia blickte nun nach draußen, ganz so, als schaue sie Fernsehen, während ich selbst erstaunt war, wie schnell ich reden konnte, „gleichzeitig legt Senger, die ,märkische Schaufel', ein extrem gerades Profil an – das gibt Punkte! – aber was ist das? EIN FOUL! Hans Gros, der Rasenmähermann, fährt nur mit einer halbvollen Schubkarre zum Abraum, sieht denn das der Schiedsrichter nicht?“ Sylvia lachte wieder laut. „Dafür müsste der ,Höllenengel' mit seinem Bagger eine Freischaufel bekommen, um hinter einem Befund eine Arbeitsgrube anzulegen. Hans Gros, meine Damen und Herren, ist heute übrigens mit einem französischen Boliden angetreten, zu dem er mir in der Pause verraten hat, dass er ab-so-lut untauglich ist! Bei der nächsten Grabung möchte er unbedingt wieder eine Karre aus deutscher Produktion fahren, weil die Achse der französischen Konkurrenz auf Sandboden einfach keine Leistung bringt! Jetzt zieht der Höllenengel mit seinem Bagger inzwischen neuen Abraum zur Seite, oooh, da wird der Unparteiische wohl nivellieren müssen ...“
Die Zeichnerin schüttelte langsam grinsend ihren Kopf, hatte sich aber merklich amüsiert. Ich musste erst mal Luft holen, sah aber dann, dass Flintdolch-Micha zum Bauwagen kam. Unwillkürlich blickte ich auf die Uhr: „Oh, Micha und ich sollten gleich mal losfahren, den Grill und die Sachen holen.“
„Zum HO in Totenow?“, erkundigte Sylvia sich.
„Genau“, sagte ich, als Micha beidhändig in den Bauwagen kletterte: „Sacht mal, was lacht ihr denn hier so? Das hört man auf dem ganzen Planum. Trinkt ihr heimlich schon die erste Kanne Bier?“ Sein Mund schnitt ein breites Grinsen ins Gesicht. Sylvia schüttelte den Kopf, dabei blickte sie immer noch sehr belustigt und gleichzeitig ein wenig pikiert, dass der zweite Zeichner ihr Alkohol am Arbeitsplatz unterstellte. „Ich? Ich trink doch nicht, wenn ich zeichne! Du vielleicht?“, neckte sie Micha, der immer noch auf dem Absatz des Einstiegs kippelte und sich mit beiden Händen am Türrahmen festhielt. Der konterte nur knapp, „kein Bier vor Vier“, und drehte sich dann zu mir. „Soll’n wir eigentlich nich bald losfahren?“
„Ja, können wir machen. Hast du die anderen schon gefragt, was wir so alles holen sollen?“
Sylvia meldete an: „Für mich braucht ihr nur zwei Würstchen zu holen, mehr esse ich nicht.“
Micha notierte geistig: „Zwei Würstchen? Können wir machen.“ Dann wandte er sich wieder mir zu: „Nee, ich dachte, wir sammeln eben schnell die Bestellungen.“
„Ja, gut“, sagte ich mit angehobener Stimme, kramte mir einen leeren Fundzettelblock und einen Bleistift und stieg hinter Micha aus dem Bauwagen, der sich zuvor bereits aus dem Eingang gedreht hatte.
„Wir fahren jetzt runter zum Supermarkt“, rief Micha.
Alle Arbeiter kamen zusammen, Wernher ging in Richtung Bagger, um Stefan durch Zeichen zu verstehen zu geben, den Bagger abzustellen.
In der Zwischenzeit fragte Hans: „Stimmt das eigentlich mit Arnold? Wernher erzählte, der hat sich das Bein gebrochen?“
„Ja“, erwiderte ich, „der ist gestern von der Fotoleiter gefallen.“ Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Wenn das stimmt, was seine Leute erzählt haben, muss er wie ein Rohrspatz gemotzt haben.“ Ohne den Wortlaut selbst gehört zu haben, versuchte ich mit erhöhter Stimme zu imitieren: „Welche Hackfresse hatt’enn diese Leita konstruiert, los ihr Blödsenkel, holt ’en Krankenwagen.“ Alle lächelten, taten dies jedoch nicht aus Schadenfreude, sondern ob der befremdlichen Situation, die sich in unseren Köpfen abspielte.
Stefan hatte inzwischen seinen Bagger ausgemacht und Wernher rief ihm von unten zu: „Die zwee-e fahrn jetz zum Konn-summ. Solln die dir wat zum Verschnabuliern mitbringn?“
Stefan lehnte sich in seinem Bagger nach vorn, die Arme über Kreuz und antwortete: „Nee, ick hab mir doch Fisch mitjebracht.“
Dieter bestellte inzwischen bei uns: „Also, ich hätte gerne Würstchen. Und ein Kotelett“, wusste er mit erhobenem Zeigefinger.
„Ja“, freute sich Wernher, „son Kotelett is wat feinet“, er strahlte erst übers ganze Gesicht und ermahnte uns dann „aber holt bloß son mariniertet, nich son trockenen Plunda.“ Dann drehte er sich zu Hans: „Willste nich ooch ’n Kotelett?“
Hans lehnte ab, „Nein, ich nehme lieber ein kleines Schweinenackensteak, wenn die sowas haben. Ein oder zwei Würstchen aber auch.“
Jan wunderte sich: „Ihr esst ja alle nur Schwein? Ich will ein richtiges Tier. Bringt mir mal ein schönes Stück Rinderfilet.“ Mit seinen Händen und einem „Etwa so groß“ zeichnete er uns die korrekte Größe vor.
„Rinderfilet?“, wunderte sich Wernher, „dit wird ja janz trockn uff’m Jrill!“, und schüttelte den Kopf.
Mir entrutschte nur ein „suum cuique“, das ich zwar mehr für mich brummelte, von Jan aber trotzdem gehört wurde.
„Das Schwein quiekte?“, fragte er, „Ich hab doch gesagt, ich will Rind?!“, sprach er verwirrt.
Ich erklärte: „Das heißt: Jedem das seine“, und lenkte ab mit: „Was wollt ihr denn trinken?“ Dieter und Stefan fragten nach Bier, dazu wollten sie sich mit Micha ein Sixpack teilen. Der ehemalige Spediteur Wernher bestand dagegen auf alkoholfreiem Bier, was ich nachvollziehen konnte, weil ich denselben Gedanken gehabt hatte. Jan fragte nach Cola, nach Bier war ihm tagsüber überhaupt nicht. Hans winkte ab, er hatte ja seine polnische Limo, und in der Halbliterflasche war „sowieso viel zu viel!“
Als ich mit Micha zum Wagen ging, hörten wir noch im Hintergrund den Anfang der Geschichte, die Jan stets zum Besten gab, wenn das Stichwort Limonade fiel, und die jeder auf der Grabung schon mehrfach gehört hatte. Er erzählte dann in allen Einzelheiten, wie er einmal als Kind einen Finger in eine Limonadenflasche gesteckt, die Flasche geschüttelt und den Finger plötzlich herausgezogen hatte. Angeblich war dann der gesamte Inhalt der Flasche an die Decke der heimischen Küche gespritzt. Der Zeichner und ich waren froh, die Geschichte nicht ein weiteres Mal erzählt zu bekommen.