Sonntag, 24. Mai 2009

Kapitel 13.1

Die Hochzeitsgesellschaft war inzwischen unter fröhlichen Rufen und Gelächter vom Schloss abgezogen. Maxim hatte sich einen überaus gemütlichen Tag vorgenommen. Er hatte abgesehen von einem Bewerbungsgespräch an diesem Tag keinerlei Termine. Gut, es standen noch ein paar Texte aus, die er möglichst vor seinem weiteren Aufstieg beenden wollte, aber die drängten alle noch nicht. So wollte er für einen Ausstellungstext beweisen, dass die Nibelungensage in Wirklichkeit in Westfalen spielt.
Maxim stand von seinem Bürostuhl auf und stolzierte vor die Bücherwand. Dort ließ er seine Augen auf den Titeln herumspazieren. Erst an einem seiner Werke machte sie Rast. Es war seine Habilitationsschrift.
Senff hatte ein paar Jahre als Assistent und als stellvertretender Direktor gebraucht, dann kam es, wie es kommen musste. Das dritte Jahrtausend war noch jung, da sollte er die Venia legendi, die Lehrbefugnis erhalten. Dabei stand seine Habilitation auf zwei sehr brüchigen Säulen. Die Seminare, die er gehalten hatte, waren peinlich läppisch und die Texte, die er kumulativ einreichte, waren supermiserabel. Genaugenommen waren es sogar nur drei kurze Texte, die er während seiner Assistenzzeit je ein halbes Dutzend Mal geringfügig abgewandelt und in der Folge zahllosen kleinen Zeitschriften andrehen konnte, die man so gerade noch als wissenschaftlich bezeichnen konnte.
Dass die Sammlung angenommen wurde, lag daran, dass Professor Pickenpack sie mit geschlossenen Augen durchwinkte und höchstpersönlich dafür sorgte, dass die Gutachterkommission den Blödsinn absegnete.
Maxim war bei der Antrittsvorlesung zwar stolz gewesen, sah diese akademische Würdigung aber letztlich nur als angemessene Würdigung der ihm innewohnenden Fähigkeiten, die er schließlich als herausragend ansah. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich selbst als den uninspirierten und gedankenlosen Geisteszwerg zu sehen, der er in Wirklichkeit immer war.
Maxim streckte die Hand nach der Habilitationsschrift aus und zog sie aus dem Regal. Gierig blätterte er in ihr herum. Er war davon überzeugt, dass es das beste Buch überhaupt sei, nicht nur in seiner Bibliothek. Er setzte sich mit dem Buch wieder an den Schreibtisch und flatterte durch die Seiten. Er blätterte gerne in den Texten, die unter seinem Namen gedruckt waren. Er schwelgte darin und flog über die Zeilen. Maxim bekam Lust auf einen Kaffee. Er stand nicht auf, um seine Sekretärin darum zu bitten. Nein, er beugte sich lediglich vor, nahm das Telefon, wählte sich durch die Wand und bat die dahinter sitzende Frau Scheckow um das Getränk. Die bedankte sich für seinen Wunsch und klopfte nach kurzer Zeit mit einer Tasse in der Hand an Maxims Tür. Er gewährte ihr heiser „Herein!“ und empfing die schwarze Amtsbrühe.
Geräuschlos stellte Frau Scheckow die Tasse auf den Schreibtisch und verschwand wieder aus dem Büro. Maxim beobachtete sie dabei. Die Tasse nahm er erst in die Hand, als sie draußen war. Er schlürfte aus der Kaffeetasse und bekleckerte sich leicht, ohne es zu bemerken. Er stellte die Tasse leise klimpernd auf die Untertasse und nahm von ihr den gewölbten Keks in die Hand. Ohne den Blick von den Zeilen seines Buches zu lösen, tunkte er den Keks zweimal in den Kaffee und führte das schwarz tropfende Gebäck in seinen wulstigen Mund. Erst jetzt hob er die Augen und visierte mit einem leise knisternden Kauen einzelne Ecken der Wandvertäfelung an. Die hatte er noch von seinem Vorgänger übernommen. Maxims Gedanken verloren sich.

Freitag, 22. Mai 2009

Kapitel 12.3

„Nee, Mittow ist durch, ich bin sogar den Bericht schon los. War keine schöne Sache“, sagte ich zu Wieland, „war mehr ’ne politische Grabung.“
„So was hab ich schon gehört“, erwiderte er und wiederholte sich leise pustend, „hab ich schon gehört“, dann nippte er einen Schluck aus seinem Glas.
Nicht weit von uns begann bereits die Reihe der Wartenden, die zum Buffet führte. Irgendjemand in der Reihe erzählte lautstark einen platten Anstehwitz: „Kennt ihr den Unterschied zwischen einer Schlange auf der Autobahn und einer echten Schlange?“ Die Umstehenden blickten groß, dann verriet er: „Bei der Schlange ist das Arschloch hinten!“, und keuchte mit einer furchtbaren Amtslache. Seine dumpfe Umgebung röchelte verzweifelt mit, dann wandten sich alle wieder dem ersehnten Buffet zu.
Ich fragte mich selbst, was ich auf dieser Weihnachtsfeier überhaupt machte. Nach Mittow war mir klar gewesen, nicht mehr für dieses Amt arbeiten zu wollen. Längst hatte ich auch von einer anderen Stelle ein Angebot bekommen. Trotzdem hatte ich noch eine persönlich von Senff unterzeichnete Einladung erhalten und sie angenommen.
Ich mache mir nicht viel aus Stollen, erst recht nicht, wenn er mit Schinken belegt ist, daher nickte ich Wieland verabschiedend zu und ließ mich langsam durch die bellende Menge trudeln. Gesprächsfetzen drangen auf mich ein.
„– hatte heut ’nen freien Tag und hab fünf Stunden lang Holz gehackt, so lang arbeit ich hier sonst nie“, erklärte einer hinter mir.
Senff stand bei einem Studenten, der an derselben Uni studierte, wie Maxim, Robert, Wieland und ich. Ich kannte den Studenten kaum, wusste nur seinen einprägsam Nachnamen: Dante. Er hielt sich an einem Gläschen Sekt fest, Senff mauschelte mit ihm irgendetwas mit unkontrollierter Handgestik.
„– hätt’ nen Anzug anziehn solln“, flüsterte es an meiner Seite.
Dante schaute zu mir, während Senff noch auf ihn einredete, ich blickte zurück. In dem Moment war Senff offenbar fertig mit seinem Traktat, grinste Dante noch einmal diebisch an, erhob sein Glas und drehte sich dann weg, andere zu belästigen. Ich spazierte zu Dante hinüber.
„Grüß dich, du auch hier?“
„Ja, ich suche gerade ein Thema für die Abschlussarbeit“, erklärte er mir.
„Hat Senff dir eins angeboten?“, erkundigte ich mich.
Dante druckste herum: „Ja. – Du kennst doch den Thomas?“
Ich nickte: „Der sitzt hier an seiner Arbeit, stimmt’s? Irgendwas über die Eisenzeit, glaub ich.“
„Genau“, sagte er, „Senff hat mir gerade gesagt, dass der nie fertig wird. Er rechnet wohl damit, dass der bald abspringt, dann soll ich das Thema kriegen.“
Ich staunte und machte große Augen. Abschlussarbeiten entstehen in Ämtern meist nach dem Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“. Studenten arbeiten für die Ämter gratis irgendwelche liegengebliebenen Sachen auf, bekommen dafür mehr oder weniger tolle Themen und manchmal auch einen Platz zum Arbeiten gestellt. Jemandem, der bereits eine gehörige Portion Zeit in die für das Amt kostenlose Bearbeitung eines Themas investiert hatte, hinterherzureden, er würde nie fertig werden, ist schon unfein genug. Dessen Thema aber noch während der Bearbeitung weiterzureichen, erschien mir selbst für Senff übermäßig unverschämt. Zumal ich von Thomas wusste, dass er wiederholt Besprechungstermine mit Senff ausgemacht hatte, die der nie einhielt.
Ich kann Unmut selten verbergen, daher schüttelte ich schwach den Kopf, erhob stumm grüßend mein Glas und murmelte: „Wir sehen uns.“
Dante nickte. Ich wusste, er hatte nicht gelogen. Das war mir trotz aller Überraschung klar. Ich hatte ihn ja eben mit Senff reden sehen. Außerdem denkt sich kein Student eine solche Geschichte aus.
Eine Frau vor mir kreischte: „– jaja, die Zimmerlinde vom Baudenkmal wollte mal was von der Welt sehen.“
Dann sah ich Wernher. Er unterhielt sich gerade fröhlich und mit weit ausholenden Bewegungen mit einem anderen Ehrenamtlichen. Ohne eigentlichen Plan ließ ich mich zu den beiden treiben, wahrscheinlich zog mich ihre entspannte Art an, die in dem Raum voll böser Zungen am ehrlichsten wirkte.
„Der hat sich Sachen jekooft, noch un nöcher, konnt det aber allet nich bezahln.“
„Nabend Wernher“, sagte ich.
„Mönsch, der Chef hier? Ick hab dich jar nich jesehn, na, det is ja fein. Kennste den Klaus?“
Ich schüttelte den Kopf, Wernher stellte uns kurz vor.
„Wo wa ick stehnjebliebn? Ick erzähl jrad von meim Nachban. Jut, also einet Tages kricht der son Schreibn aus’m Ausland. Damit kommta denn zu mir rüber und zeicht mir det. Hier kuck ma, Wernher, wat kann det denn sein? fracht er mich. Ick kuck ma den Brief an und seh sofort: Minsk. Da sarick: Pass ma uff, der is aus Weißrussland, sei da bloooß vorsichtich, du weest doch, von da kommt die Mafia her. Det sarick noch im Scherz, da kricht der richtich Muffensausen, öffnet aber den Umschlach janz vorsichtich und fischt mit zwee Fingern den Brief raus.“
Wernher hielt in der einen Hand ein Sektglas und in der anderen eine mit Schinken belegte Scheibe Stollen. Mit einer gewissenhaften Pantomime gelang es ihm, an der Schinkenscheibe das Brieföffnen vorzuführen.
„Denn faltet der det Briefchen auseinander und sieht: Hier – Inkasso-Unternehmen Sowieso aus Minsk, bitte zahln Sie Ihre Schulden bei dem und dem bis dann und dann. – Da wurd mein Nachba janz bleich und sachte nur: Ick muss ma wat erledijen und verschwand.“ Wernher lachte. „Der hat die Schuldn natürlich sofort bezahlt, weil der Muffensausen hatte. Aber später“, jetzt lachte er richtig, „hör ick, det det son Inkasso-Unternehmen aus Vorpommern is, det in Minsk nur ’ne Sekretärin beschäftigt, die nix andres macht, als die Briefe einzutüten und nach Deutschland zu schicken. Die meisten Leute fallen druff rein und sind so schissich, det die jleich die janze Penunse komplett uff den Tisch packen.“
Klaus und ich lachten, nach einer Pause fragte Wernher mich: „Haste einklich den Plankenreiter schonn jesehn?“
Ich dachte, zum Glück nicht, schüttelte dabei den Kopf und sagte: „Nein, aber der hat doch zu der halben Stelle jetzt ein Stipendium, um seine Diss endlich fertig zu schreiben.“
Plötzlich drehte sich jemand neben uns, den ich nicht kannte, in unsere Gruppe und meinte: „Der Robert hat Urlaub. Der ist in der Türkei und nimmt da an irgendwelchen internationalen Drachenwettkämpfen teil.“
„Drachenwettkämpfe?“, horchte ich auf und fragte noch: „Sollte der nicht lieber an seiner Diss sitzen?“, obwohl ich bereits wusste, dass Plankenreiter schon seit Jahren an der Diss hockte, ohne voranzukommen. Jeder ahnte, dass er nie fertig würde und viele ärgerten sich, dass ein weiteres Mal ein Stipendium an so jemanden gegangen war.
Ich wandte mich wieder Wernher zu: „Wieso suchste den denn?“
„Ach, ick arbeete doch jrad im Magazin“, erklärte er.
Ich hatte schon gehört, dass Wernher einer der Glücklichen war, die regelmäßig auch im Winter im Amt angestellt wurden. Gerüchtehalber soll das an dem Wertesystem Senffs gelegen haben, da Wernher den Vorteil hatte, Fan des „richtigen“ Fußballvereins zu sein. Jedem Außenstehenden wird die Verbindung dieser Komponenten völlig zusammenhanglos erscheinen. Für die von Senff eingestellten Beschäftigten hatten sie damals jedoch handfeste Konsequenzen.
In stärkerem Maße als Baumaßnahmen sind archäologische Ausgrabungen nämlich grundsätzlich von möglichst gutem Wetter und dem Jahresrhythmus der Landwirtschaft abhängig. Dadurch ergibt sich, dass auf Ausgrabungen in Mitteleuropa im Spätsommer sehr viele Leute benötigt werden, die im späten Winter nicht mehr bezahlt werden können. Spätestens ab August/September kommen also viele Arbeiter unter, die im Januar und Februar nicht mehr zu finanzieren sind. Dabei bleiben nach dem Ankauf erforderlicher Werkzeuge zumeist Restgelder von den Drittmitteln übrig, die im Anschluss an die eigentliche Untersuchung für die Nachbearbeitung der Funde genutzt werden. Diese Arbeit hinter den Kulissen wird natürlich so gut wie nie öffentlich wahrgenommen, so dass den unfreiwilligen Finanziers gewöhnlich die Einsicht zu deren Notwendigkeit fehlt. Daher sind die Mittel zumindest so knapp bemessen, dass sie selten reichen, um alle wünschenswerten Arbeiten durchzuführen oder auch nur die Mehrheit der im Sommer angestellten Arbeiter auch den Winter hindurch für das Waschen, Sortieren und Zeichnen der Funde zu entlohnen. Im Gegenteil kann sogar oft nur eine sehr kleine Anzahl von Leuten weiter beschäftigt werden, der Rest muss nach Hause gehen. Dabei vergammelt in Fundmagazinen genügend Fundmaterial, um alle Arbeitslose Deutschlands ein paar Jahre zu beschäftigen.
Bei den Arbeitern begann daher zum Ende der Grabungssaison stets das große Zittern, wer von Maxim noch über den Winter angestellt würde. Er machte es sich leicht, er entschied einfach danach, welchen Fußballverein der Einzelne präferierte. Kein Mensch weiß, wie er darauf gekommen ist, aber er quetschte die Angestellten von Anfang an nach ihrer Vorliebe in diesem Sport aus. Die richtige Antwort verschaffte Pluspunkte und einen relativ sicheren Vertrag über den gesamten Winter hinweg, die falsche Antwort sorgte dagegen für einen unbezahlten Extraurlaub. Nur ausgewiesene und bekennende Atheisten waren bei dem Popenbengel noch geringer angesehen als die Freunde des „falschen“ Vereins.
Wernher erklärte mir nun, warum er Robert suchte: „Weeßte, det Magazin untersteht zwa dem Herrn Dokta Senff“, seit der Beförderung nannte er ihn nur noch Herr Doktor, „aber Plankenreiter mänätscht det doch eijentlich. Un nu wollt ick den wat fraagn.“
„Wie läuft das denn so im Magazin?“, erkundigte ich mich neugierig und Wernher machte ein Gesicht, als jongliere er mit heißen Kartoffeln. Dazu wackelte er mit dem Oberkörper.
„Ma so, ma so“, er wurde so leise, dass das nachbarliche Geplapper seine Stimme so weit übertönte, dass die Umstehenden es schon nicht mehr verstehen konnten. Ich beugte mich zu ihm und hörte: „Det bricht allet zusamm. Ick hab ja letztet Jahr schon im Magazin jearbeit’t, aber nu is det det reinste Chaos. Du kennss doch diese Schienenrejale?“ Ich nickte. „Da fällt ständich wat runter, und keener kricht Zeit, da ma uffzuräum. Überall liecht da der Leichenbrand rum und verteilt sich immer weiter. Der Klaus hier hat mir jestern ’ne Ecke jezeicht, da schimmeln Steinbeile, det war letztet Jahr noch nich.“
„Steinbeile?“, fragte ich nach, und nicht einmal besonders leise. Deshalb versuchte Wernher mit beiden Händen meine Stimme zu dämpfen. Klaus stand wie unbeteiligt neben uns, in seinem Blick mischte sich nervöse Skepsis mit leichter Angst.
„Ja, op de det jlobst oder nich, da schimmeln Steinbeile. So Dinger aus Porfür. Un det sin Form’, die hat noch keen Mensch nich jesehn.“
Mit großen Augen schüttelte ich den Kopf.
„Und andere Form’ ham wa hochpoliert da liegn, da könnste ein’ mit totschlagn. Der ganze Schrott, von dem keener den Fundort nich kennt. Die müssten wa einklich in den Burggrabn kippn, so viel ham wa davon.“
Ich grinste über die Idee, warnte aber gleich: „Da musst du aber aufpassen. Ein Techniker hat mir mal von einem Steinbeildepot erzählt, das sich nach Gesprächen mit den Grundstücksbesitzern als Müllgrube erwies, in die die Erben Opas Sammlung entsorgt haben.“
„Ick weeß“, lächelte jetzt auch Wernher, „ick weeß. Bei mir im Ort is doch son Jutshof. Da ham die Russen fümmenvierzich die Sammlung vom Junker jeplündert und uff dem Feld verteilt. Die Bauern von der LPGe sind jedet Jahr zum Denkmalpfleger und ham die Beile vorbeijebracht. Der frachte nur noch, haste det da und da her? Ja, nickten die, denn wusste der schonn, det det zu der Sammlung jehörte.“
Ich lachte, Klaus auch. Neben uns zog eine Frau erstaunlich laut über die Weihnachtsfeierkluft einer entfernt stehenden Sekretärin her: „Das rosa Ensemble ist ja auch unglaublich.“
Die Pointe in Wernhers Geschichte erinnerte mich an einen sehr bekannten Experimentalarchäologen, der in der Nähe des Instituts arbeitete, an dem ich studiert hatte. Regelmäßig suchte er eine bestimmte Stelle auf, an denen er seine Steingeräte schlug, um die dann andernorts vorzuführen. Spaziergänger, die an dem Werkplatz vorbeikamen, sammelten aber genauso regelmäßig die Reste auf, die beim Schlagen eben anfallen und immer liegen bleiben. Daher war im zuständigen Bodendenkmalpflegeamt stets ein großes Hallo, wenn wieder jemand die Mitarbeiter mit einem Haufen modernem Steinschrott belästigte. Selbstverständlich waren sie gezwungen, das Material erst einmal anzunehmen, denn wie sollte dem Laien verständlich gemacht werden, was diese Funde von alten Abschlägen unterscheidet? Im eigentlichen Sinne sind die modernen Exemplare ja genauso echt wie alte Fundstücke, sie sind nur nicht so alt.
Bevor ich diese Geschichte erzählen konnte, machten Wernher und Klaus jedoch auffallend freundliche Augen und starrten an mir vorbei. Während ich in Gedanken an den Experimentalarchäologen versunken war, hatte sich jemand hinter mir aufgebaut, der offenbar mit mir reden wollte. Ich ahnte, wer da hinter mir stand und drehte mich vorsichtig um. Klaus und Wernher grüßten ihn unterwürfig: „Juten Abend, Herr Dokta.“
„Guten Abend“, flötete Maxim die beiden sanft an. Er wandte sich mir zu und zog mich aus dem Gesprächstrio heraus.
„Ich freu mich, dass du gekommen bist.“
„Ja, warum nicht?“, fragte ich, als ich mein Glas grüßend in die Luft hob. Den Bruchteil eines Augenblicks erwartete ich, dass er Mittow anspräche, wischte den Gedanken aber schnell weg, weil es Senffs angeborenen Scheinfreundlichkeit zuwidergelaufen wäre, Probleme direkt anzusprechen.
Seine matten Augen funkelnden blass, dann fragte er: „Was machst du zurzeit?“
„Och, dies und das“, druckste ich herum, „demnächst habe ich aber wohl ein längeres Projekt von Markus in Aussicht.“
Das war ein gezielter Schlag unter Maxims Gürtellinie. Ich wusste, dass Markus und er nach einem früheren Disput Todfeinde waren, die mit mir in denselben fachlichen Fanggründen fischten. Deswegen hatte Markus mir das Projekt auch angeboten. Und ich war so gehässig, Senff diese Verbindung auf die Nase zu reiben. Ich bin nun einmal nachtragend.
Senff mochte kalt sein, aber er war nicht abgebrüht genug, bei der Erwähnung dieses Namens nicht große Augen machen zu müssen: „Bei Markus?“, fragte er, „Ich glaube, da kann ich dir etwas Besseres besorgen. Nächste Woche muss ich zu Pickenpack ins Institut, der sagte neulich etwas von einem DFG-Projekt. Soll ich ihn mal fragen?“
Ich nickte stumm, obwohl ich bereits ahnte, dass es nichts werden würde. Dafür waren die Beziehung des Kümmerlings nicht ausreichend genug. Ich sollte übrigens recht behalten.
Von der Seite quakte jemand Senff an: „Wie geht’s eigentlich dem Doktor Abel?“
Senff fixierte mich noch für einen Moment und drehte sein Gesicht erst im Laufe der Antwort zu dem mir unbekannten Fragesteller: „Doktor Abel ist tot, der ist vor einem Monat gestorben. Hirnschlag.“
„Tot?“, fragte der Gegenüber, „Mein Gott, das lässt einen ja grübeln. Die Einschläge kommen immer näher.“
Senff kehrte sich nun vollends zu diesem neuen Gesprächspartner und unterhielt sich mit ihm, meine Audienz beim stellvertretenden Direktor war beendet.

Samstag, 16. Mai 2009

Kapitel 12.2

Das Schweine-KZ in Mittow hatte die letzten Illusionen zerstört, die ich mir von dem Amt gemacht hatte. Von Mittow habe ich an demselben Tag erfahren, an dem der Vampir geborgen wurde. Es war schon dunkel geworden an dem Freitag. Ich wollte gerade losfahren, da sprang Plankenreiter noch zu mir und erzählte von einer Grabung, die ich unbedingt machen müsse. Es war ein direkter Folgeauftrag, der im Anschluss an meine Grabung in Totenow beginnen sollte. Er erklärte mir nur kurz, es handele sich um mehrere Grabhügel, die im Rahmen von Bauarbeiten gesichert werden sollten. Bis dahin hatte ich noch nie einen Grabhügel ausgegraben. Abgesehen von dem Trio Senff, Plankenreiter und Spasst hatte ich jedoch mit den Archäologen des Amtes auch kaum Probleme gehabt. Vor allem vor Ort lief gewöhnlich alles relativ friedlich ab, zumindest in Totenow. Daher sagte ich dieses Mal noch zu.
Die Abläufe in Mittow waren allerdings leider wesentlich unangenehmer. Erst spät, nämlich am selben Tag, an dem die Untersuchung begann, erfuhr ich, dass ich gar nicht direkt der Abteilung Sonderprojekte unterstellt war, sondern dem örtlichen Referatsleiter. Das bedeutete, dass ich keinen Dienstwagen zur Verfügung gestellt bekam, sondern mit eigenem PKW bis in die Pampa weltzureisen hatte. Plankenreiter, der zu diesem Zeitpunkt bereits kommissarisch die Leitung der Sonderprojekte von Senff übernommen hatte, beschwichtigte mich aber sogleich. Dafür bekäme ich zu den regulären Unterkunftskosten auch Benzingeld erstattet, log er.
Die Zuständigkeiten wurden immer verworrener, denn es stellte sich heraus, dass der Referatsleiter auf mir unverständlichen Amtswegen in diesem Fall Senff persönlich untergeordnet war. Vermutlich hing das schon direkt mit dessen Aufstieg zusammen. Denn nur wenig später wurde bekannt, dass Senff von der Stelle des Leiters der Sonderprojekte zum stellvertretenden Amtsleiter befördert würde.
Die Entscheidungskette allein wäre allerdings womöglich noch unerheblich gewesen, wenn nicht der Referatsleiter ein völlig spinnerter Irrer gewesen wäre, der in jedem Stein ein vorgeschichtliches Artefakt witterte. Er war so fest von seinen Fähigkeiten überzeugt, dass er auch noch damit angab. Ja, er betonte sogar ausdrücklich, jeden Grabhügel erkennen zu können. Und schließlich stellte sich heraus, dass unter anderem in dieser Pseudo-Erkenntnisfähigkeit ein Grund für die Ausgrabung lag.
Die Untersuchung wurde dadurch angeleiert, dass ein niederländischer Schweinezüchter die gute Idee hatte, an den exorbitanten Fördergeldern beteiligt zu werden, die er einstreichen könnte, wenn er in Ostdeutschland eine Schweinefarm errichten ließe. Zugleich wäre eine dort stationierte Farm gut an den osteuropäischen Markt angeschlossen. Dazu suchte er sich das Dörfchen Mittow aus. Dessen Einwohner waren zwar nicht besonders erpicht darauf, täglich mit den Dämpfen von sechstausend zwangseingepferchten Schweinen benebelt zu werden. Doch der bauernschlaue Bürgermeister hatte vor allem mit dem dreisilbigen Totschlagargument „Stellen! Jobs!“ alle Gegner kleingeredet und sogar sämtliche Baugenehmigungen über Beziehungen durchwinken lassen, ohne sie solchen Ämtern vorzulegen, die sie möglicherweise blockieren könnten.
Eines späten Tages erfuhr nun der Referatsleiter von der laufenden Bautätigkeit und röchelte mit seinem Dienstwagen bei der Baustelle vorbei. Die Gruben, die für die Betonfundamente aufzubaggern waren, zeigten mehrere ungeordnete Steinkonzentrationen. Hätte es sich in der Tat um vorgeschichtliche Fundstellen gehandelt, wäre bereits viel zu viel zerstört gewesen. Eine richtige Ausgrabung, das wäre jedem Fachmann klar gewesen, konnte nicht mehr stattfinden.
Im Denkmalrecht gibt es Lösungen für solche Fälle, es sieht die Zahlung eines Bußgeldes vor. Unglücklicherweise richtet sich die Höhe des Bußgeldes jedoch nicht nach den Wünschen der Denkmalpfleger, sondern nach Ministerien, die in erster Linie dem Primat der Wirtschaftspolitik unterworfen sind. Das Denkmalamt kann das System aber unterlaufen, wenn in dem zuständigen Bundesland das sogenannte Verursacherprinzip installiert ist. Dieses Prinzip zwingt Bauherren dazu, sich bei notwendigen archäologischen Arbeiten angemessen an den anfallenden Kosten zu beteiligen. Dieses Modell war in den 90ern fast ausschließlich in den ostdeutschen Bundesländern eingerichtet. Hier waren die Landespolitiker nämlich nach der Wende schlau genug, die entsprechenden Gesetze einzuführen, so dass es ihnen in mancherlei Hinsicht besser erging als den meisten westdeutschen Ämtern. Letzteren wurde das Verursacherprinzip pikanterweise lange Zeit mit derselben Begründung verweigert, die im Osten für dessen Einführung herangezogen worden war: die Armut des jeweiligen Bundeslandes.
Selbstverständlich fällt eine Ausgrabung immer teurer aus, als es jedes Bußgeld sein könnte, so gesehen stellt sie die eigentliche Strafe dar. Gleichzeitig gelingt es in den allermeisten Fällen, Teile der Finanzierung auf andere Bereiche des Amtes zu übertragen.
Ich räume ein, dass ich diese Schlawinerei aus der persönlichen Sicht des Archäologen noch verstehen kann, wenn tatsächlich ein Denkmal mutwillig zerstört wurde. Es wird aber ein sehr unschöner politischer Akt daraus, wenn der Ablauf von einem Irren mit prähistorischen Halluzinationen eingeleitet wird.
Als ich in Mittow einen Tag vor Grabungsbeginn ankam, fuhr ich sofort bei der Baustelle vorbei. Die Bauarbeiter wuselten hektisch von Ecke zu Ecke, durften sie doch in weiten Bereichen vorläufig gar nicht tätig werden, obwohl ihre Termine natürlich bestehen blieben. Ich ließ mir die Steine zeigen, schüttelte den Kopf und wusste auf der Stelle, dass die Grabung blödsinnig war. Tags darauf erklärte mir der Referatsleiter seine Vorstellungen von den vorliegenden Fundstellen, und ich war äußerst überrascht, dass ein Mann der Wissenschaft so bescheuert sein kann. Eigentlich hätte ich die Gunst der kurzen Verträge nutzen und mich schnellstmöglich aus dem Staube machen sollen, zumal sich plötzlich herausstellte, dass von Benzingeld überhaupt keine Rede sein konnte. Als ich Plankenreiter diese Trickserei später vorwarf, verteidigte er sich mit der flauen Begründung, ich hätte doch sonst die Grabung nicht angenommen. Er gab die Lüge also auch noch offen zu. Fatalerweise hatte ich sie nicht nur angenommen, sondern bin auch noch geblieben, als es nur noch schrecklich war. Ich weiß gar nicht genau, warum ich mir das Generve antat, womöglich ermangelte es einer echten Alternative, vermutlich lag es aber auch an einer guten Portion Neugierde, wie das Spielchen noch enden würde.
Ich bekam eine Horde ABMler zur Seite gestellt, alles freundliche, höfliche Menschen aus Mittow, die glücklich waren, wenigstens sechs Wochen lang Geld verdienen zu dürfen, zumal die Arbeit alles andere als mühselig war. Doch je weiter wir in der Untersuchung der Steinhaufen voranschritten, desto offensichtlicher wurde deren Befundcharakter. Zwischen den Steinen zeigte sich wiederholt Müll aus der Zeit der LPG, der schlicht deutlich machte, dass hier in den letzten Jahrzehnten Steine vom Acker entsorgt worden waren. Soweit erkennbar stammten die Steine nicht einmal von einem zerstörten prähistorischen Befund. Sie waren unbearbeitet, an ihnen waren beim besten Willen keinerlei Spuren früherer Verwendung zu entdecken.
Ich sprach mit dem Referatsleiter, der natürlich standfest bei seiner Meinung blieb. Ich telefonierte mit Senff, der sich von der Meinung des Referatsleiters überzeugt gab – oder zumindest mir gegenüber nicht zugeben wollte, was hier für eine Posse gespielt werden sollte. Gleichwohl machte Senff keinerlei Anstalten, die Steinhaufen in natura zu betrachten, um sich womöglich ein eigenes Urteil zu bilden.
Irgendwann waren die Gruben ausgegraben und die letzten Steine herausgezogen. Auf einer fußballplatzgroßen Fläche zeigte sich abgesehen von den wenigen eindeutig modernen Funden lediglich eine einzige Keramikscherbe in Fingernagelgröße, die vorgeschichtlich gewesen sein könnte. Nun mag der Laie sagen: Siehste, da war ja doch was. Dem gebe ich aber zu bedenken: Es gibt in Mitteleuropa kaum einen Acker, auf dem man nicht wenigstens mit mehreren Dutzend Scherben aus den letzten 500 Jahren herunterspaziert kommt, wenn man sie absammelt. Insofern war der Mittower Acker schon etwas besonderes, er war ungewöhnlich fundleer, praktisch archäologiefrei, als sei er zuvor von einem Fachmann penibel gereinigt worden.
Archäologisch blieb in Mittow nicht wirklich viel zu tun, gleichwohl war die Arbeit keine leichte Tätigkeit. Gegenüber dem cholerischen Polier mit sehr ausgeprägtem Kleiner-Mann-Syndrom mussten wir jeden Tag aufs Neue beweisen, dass wir nicht unnötig vor Ort waren. Ständig waren wir gefordert, das kleine bisschen Arbeit aufzublasen, das angesichts der Aufgabenstellung möglich war, um sechs Wochen Finanzierung zu rechtfertigen. Aber auch als die Grabung längst beendet war, quälte mich das Projekt noch. Denn nach jeder Ausgrabung ist es notwendig, einen Abschlussbericht über die geleistete Arbeit zu verfassen. An dieser Stelle kommen wieder Wirtschaft und Politik ins Spiel. Schließlich lässt es sich bei privaten Finanziers kaum verhindern, dass die hinterher wissen wollen, was sie finanziert haben. Da ist es natürlich dumm, wenn das Amt die Hose herunterlassen muss und nichts darunter trägt.
Ich war dreist. Der cholerische Polier war zwar aus meinem Leben verschwunden, aber ich sah nicht ein, mich mehr als unbedingt nötig zu verbiegen. Ich schrieb einen ehrlichen Bericht, in dem ziemlich deutlich stand, was untersucht wurde: nichts von denkmalpflegerischem Interesse.
Natürlich ging der Bericht direkt an Senff. Ich weiß nicht, wie er im ersten Moment darauf reagiert hat, aber er teilte mir bald mit, dass er Änderungen verlange. Ich sollte irgendein Buch aus dem 18. Jahrhundert finden, in dem etwas zur Steinentsorgung auf Äckern stand, und von dem er auf irgendeinem Kongress mal etwas gehört hatte. Mit dieser detaillierten Literaturangabe zog ich für mehrere Tage in die nächste Universitätsbibliothek und wurde in einem Haufen Microfiches tatsächlich fündig. Also blies ich meinen Bericht mit diesen wenigen Informationen auf, sträubte mich aber weiterhin, die Steingruben aus der LPG-Zeit als frühneuzeitliches Denkmal zu interpretieren. Diese Version bekam ich nicht zurück, ich bin mir aber sicher, dass Senff sie vor der Weiterleitung und Archivierung noch frisiert hat.
Seitdem machte ich mir von Denkmalpflegeämtern keine Illusionen mehr. Die waren restlos zerstört. Interessant, dachte ich damals bei mir, das weiß ich noch, je mehr Illusionen man verliert, je klarer man die Realität sieht, desto weiter distanziert man sich von der Realität. Desto weniger möchte man mit ihr zu tun haben.

Samstag, 9. Mai 2009

Kapitel 12.1

„Sehr geehrter Herr Direktor, geehrte Damen und Herren, liebe Mitarbeiter und ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger. Ich möchte Sie alle heute zu dieser kleinen Weihnachtsfeier begrüßen, zu der wir in der ehemaligen Kapelle unseres Amtsgebäudes zusammengekommen sind. Wie alle wissen, war es ein aufregendes Jahr. Es war ein aufregendes Jahr vor allem für mich, nachdem ich den Vampir von Krützin entdeckt und ausgegraben habe. Selbstverständlich – und das wissen alle – war es nicht nur mein Verdienst, diesen Jahrhundertfund ausfindig gemacht zu haben. Daher möchte ich diese Gelegenheit nutzen, mich für die durchaus kompetente Assistenz von Herrn Kellerman bedanken, der mir die Arbeitskraft seines Grabungsteams auf Wunsch zur Verfügung stellte. Die Presse, die der Bodendenkmalpflege oft nicht wohlgesinnt ist, wie jeder hier weiß, hat die Entdeckung, die ich für dieses Haus gemacht habe, entsprechend zu würdigen gewusst. Und das geschah nicht zur Unzeit. Es ist wohl niemand hier in der Kapelle, der nicht weiß, wie problematisch die Finanzlage des Landes ist. Und alle haben auf die eine oder andere Weise spüren müssen, dass auch dieses Amt seinen Anteil zur Konsolidierung des maroden Haushaltes beitragen muss, den uns die SED hinterlassen hat. Zum Beispiel war es nicht zu verhindern, einige Abteilungen zusammenzulegen. Deshalb konnten wir natürlich auch nicht alle Bezirksarchäologen und ihre Referate weiter unterhalten. Doch dank meiner Entdeckung des Vampirs war es dem hochverehrten Herrn Direktor zumindest möglich, das Kultusministerium davon zu überzeugen, im Haus mehrere Referatsstellen durch eine neue Generation Archäologen zu besetzen, die – wie der Zufall so spielt – alle dieselbe Alma Mater haben wie ich. Die meisten werden die vier schon kennengelernt haben, Herr Plankenreiter zum Beispiel steht da hinten. Robert, zeig dich mal! Mit diesen neuen Mitarbeitern ist es uns in einer Vielzahl von Fällen wiederholt gelungen, das Beste aus den beschränkten Mitteln herauszuholen, die uns zur Verfügung standen. Schließlich wissen wir alle, dass die Pflege der Denkmäler, die sinnstiftend für Regionen und Länder sind, unbedingt notwendig ist. Da archäologische Denkmäler der Öffentlichkeit deutlich weniger ins Auge fallen als zum Beispiel Bau- oder Kunstdenkmäler, ist es für mich, und ich glaube, ich spreche auch damit dem werten Herrn Direktor aus der Seele, eine Selbstverständlichkeit, dass die Wertigkeit von Bodendenkmälern höher einzuschätzen ist. Nun habe ich aber genug der Worte gewechselt. Ich möchte kurz erwähnen, dass die Aufgabe, die Weihnachtsstollen zu schneiden, mit Butter zu beschmieren und mit Thüringer Schinken zu belegen, auch dieses Jahr wieder Frau Hinkemeier von der Abteilung Kunst übernommen hat. Hiermit ist das Buffet eröffnet.“
Das Jahr, in dem ich das erste und das letzte Mal für dieses Amt gearbeitet hatte, das Senff mittlerweile als stellvertretender Direktor mit leitete, war schnell umgegangen. Die Zuhörer, die sich in der kleinen, ehemaligen Kapelle des Amtsschlösschens drängten, wuselten jetzt in zwei Teilen entweder zu dem Buffet oder zu den Getränken. Ein unglaubliches Sprechwirrwarr setzte ein. Die kirchliche Akustik war nur wenig für Unterhaltungen geeignet, was aber aus irgendeinem Grunde kaum jemanden störte.
Senff hatte es in diesem Jahr geschafft. Nach seinen früheren Trickserein hatte er sich nun in die Forschungsgeschichte geschrieben. Es wussten eben die wenigsten, dass er sich den „Vampir“ nicht nur auf die eigene Fahne geschrieben hatte, sondern ihn erst erschaffen hatte. Und denen, die es wussten, wäre kein Glauben geschenkt worden. Senff hatte aus der Manipulierung des Befundes und seiner Vermarktung den größtmöglichen Gewinn gezogen. Mehrere Wochen lang war in der örtlichen Presse und selbst bei den größeren Landkreiszeitungen täglich irgendetwas über das Grab zu lesen gewesen. Konnte Senff sonst nur wenig, so wusste er doch zumindest auf der Klaviatur der Journalisten zu spielen. Die dafür nötige Gabe hatte er inzwischen bis zur Perfektion entwickelt. Immer gab er nur kleinste Häppchen an Informationen heraus, gerade so viel, dass es interessant genug war, um eine kleine Sensationsmeldung zu drucken. Niemals verriet er aber mehr als unbedingt nötig war, so dass er stets noch weitere Informationen aus der Restaurierung oder der Literatur in der Hinterhand hatte, die er am nächsten Tag oder in der Folgewoche ausspielen konnte. Nur selten musste auch einmal größeres Geschütz aufgefahren werden, dann schafften es „seine“ Funde aber auch schon bis in die bundesweiten Presseagenturen.
Neben mir hörte ich ein „Die hat ’nen ganz komplizierten Bruch, acht Wochen im Krankenhaus, sag ich dir!“ Dann sah ich Wieland. Er stand an eine der niedrigen eckigen Säulen gelehnt und hielt gelangweilt ein Sektglas in der Hand. Er trank an diesem Abend nur Orangensaft, weil er noch fahren musste. Stier und niedergeschlagen blickte er vor sich. Als hätte der Ablauf des Überfalls im Sommer nicht gereicht, musste er sich an diesem Abend ein weiteres Mal von Senff demütigen lassen. Ich ging zu ihm und begrüßte ihn. Seit Krützin hatte ich ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen, meist nur kurz auf dem Parkplatz des Amtes, wo wir nie die Zeit gefunden hatten, uns zu unterhalten.
„Nabend Wieland“, sagte ich.
„Schönen Abend“, blies er bemüht.
Um uns herum plapperte es. Aus Richtung des Buffets war zu hören: „Immerhin haben wir uns schon bis zur Säule vorgearbeitet, da ist es nicht mehr weit zum Stollen!“ Es folgte vereinzeltes Lachen.
Durch den umgebenden Lärm fühlte ich mich mutig und sprach leise: „Was für eine miese Rede. Und dann ist der Esel nicht mal in der Lage, frei zu sprechen.“
„Ja, ich weiß“, antwortete Wieland, als führte er ein anderes Gespräch.
„Stimmt es, dass du die Hafenanlagen bei – äh?“
„Ja, stimmt, den ganzen Tag in der Matsche stehen. Und es gibt nur zermatschte Hölzer. Das reicht nicht mal für ’ne Dendroprobe.“
Senff steuerte auf uns zu und an uns vorbei. Zum Glück verzog er sein hinterhältiges Gesicht lediglich zu einem dreist verlogenen Grinsegruß, wir mussten ihm nicht einmal die Hand geben, weil er auf den Direktor zusteuerte, mit dem er anstoßen wollte. Wir bleckten ebenfalls nur kurz die Zähne, sprachen nicht mal einen richtiges Gruß aus, sondern eher ein müde gehauchtes „Jaja“ und ließen ihn vorbeidrängeln.
Als er an uns vorbei war, fragte Wieland: „Und du? Bist du noch in Mittow?“
„Bei dem Bau für das Schweine-KZ?“, fragte ich. „Nee, das ist zum Glück durch!“