Donnerstag, 23. Juli 2009

Kapitel 13.6

Senff verzog sein Gesicht zu seiner pseudofreundlichen Fratze und nahm mehrere Umschläge unterschiedlichen Formats entgegen. Dann stolperte er in sein Büro und schloss die Tür mit einer rückwärtigen Armbewegung, ohne seinen Blick von der Post zu lösen. Er schlurfte zu seinem Schreibtisch, ließ sich plumpsend auf den Sessel fallen und warf die Post rücksichtslos auf die Arbeitsfläche. Voller Zufriedenheit sah er, dass die Scheckow ihm eine neue Tasse Kaffee eingeschenkt hatte. Neben dem Füllfederhalter lag ein Brieföffner, der sich für einen Landesarchäologen geziemte. Es war eine Miniatur eines urnenfelderzeitlichen Schwertes aus Messing. Maxim schnitt damit einen Brief nach dem anderen an der kurzen Seite auf und fingerte umständlich die Post heraus. Diese Technik wandte er sowohl bei großen Umschlägen an als auch bei kleinen Kuverts.
Der Inhalt der Post war bunt durcheinandergewürfelt. Ein Fachverlag schickte ihm das aktuelle Archäologieprogramm. Senff blätterte nur kurz durch, ob der Sammelband, an dem er lediglich als untätiger Herausgeber beteiligt war, bereits aufgeführt würde. Als er den Band entdeckt hatte, schnippste er das Programm befriedigt zu Seite. Er griff nach der Untertasse und zog sich das Coffeinensemble heran.
Aus einem anderen Umschlag zog er die Einladung zu einer Tagung, die ihn zwar überhaupt nicht interessierte, wo er aber immerhin ein wichtiges Gesicht machen könnte. Er betrachtete das geplante Grundprogramm und überlegte gelangweilt. Er würde keine Zeit mehr dazu haben, dachte er, bis dahin würde er sicherlich bereits im Kultusministerium residieren.
Dann griff Maxim aus dem ungeordneten Haufen einen großen Umschlag, bei dem er sich sicher war, dass es sich um eine Bewerbung für eines der ausgeschriebenen Volontariate handeln musste. In anderen Ämtern landete solche Post gewöhnlich in der Personalabteilung, hier legte der Chef großen Wert darauf, als erster einen Blick auf Bewerbungen zu werden. Alle anderen notwendigen Arbeiten hatte ja Plankenreiter für ihn übernommen.
Natürlich hatte auch Plankenreiter keine Ahnung und noch weniger Interesse an den Arbeiten. Das war Senff aber egal. Hauptsache irgendjemand machte die Arbeiten, die in der Forschung als seine eigenen Leistungen betrachtet wurden. Also bestand Plankenreiters wichtigstes Vermögen darin, Arbeit zu delegieren. Bis sie dann schlussendlich auf dem Schreibtisch – oder häufiger im Werkvertrag – irgendeiner armen Sau landeten, die die Leistung tatsächlich erbringen musste, es aber im Gegensatz zu den festangestellten Vollidioten auch vermochte. Daher hatte Senff genügend Zeit, sich um Bewerbungen selbstpersönlich zu kümmern. Inzwischen liefen die natürlich nicht mehr in irgendeiner Burger-Kaschemme, sondern unter Begutachtung all der erforderlichen Amtspersönlichkeiten aus Frauenvertretung, Personalrat und Abteilungsleiter der zuständigen Abteilung. Trotz dieser Widrigkeiten ließ Maxim sich diese Abläufe überhaupt nicht aus der Hand nehmen. Zu groß war seine Freude an der Leitung und Überwachung des Bewerbungsausschusses.
Wenn es sich nun anbot, einmal wieder für ein Jahr (mit Option auf Verlängerung!) einen Volontär anzustellen, der am liebsten gleich umsonst zu arbeiten hatte, pestete Senff die Sekretariate der einschlägigen Institute in Deutschland und im deutschsprachigen Ausland mit Ausschreibung zu. Zuweilen machte er das sogar einfach nur, um mal zu schauen, was der Markt so hergibt, obwohl also von vornherein sicher war, dass keine Stelle zu vergeben war.
Arme arbeitslose Akademiker, die sich sogar an dem Strohhalm hielten, eine Stelle bei diesem Tyrannen zu erhalten, gab es zur Genüge. Sie bewarben sich gewöhnlich zu Hunderten. Diese Zahl mag dem Fachfremden gewöhnlich erscheinen. Innerhalb der deutschen Archäologie, in der in einem Jahr kaum ein Dutzend Stellen ausgeschrieben sind, sind sie eine heillose Katastrophe. Zumal es die deutsche Wirtschaft überhaupt nicht einsieht, in der Besetzung ihrer ausgeschriebenen Stellen auch nur einen Deut so flexibel zu sein, wie sie es von den bettelnden Bewerbern verlangt. Echte Ausweichmöglichkeiten sind also nach einer sehr konzentrierten Ausbildung kaum vorhanden, denn selbst wenn man die erwünschten Fähigkeiten mitbringt, sind sie nur in den seltensten Fällen schriftlich nachweisbar. Und gerade die deutsche Wirtschaft hat ja schon vor Jahrzehnten bewiesen, welchem Gut sie einen höheren Stellenwert einräumt, wenn sie vor die Wahl „Papiere oder Menschenleben“ gestellt wird.
Die Stapel der Bewerbungsmappen mochte Senff auf seinem Schreibtisch. Zeugnisse des lausigen Packs, das ihn anhimmelte, bei ihm und für ihn arbeiten zu dürfen. Es war eben die Fortführung seiner Politik der Verlagerung jeglicher Arbeit auf andere, die er über die Jahre perfektioniert hatte. Gerne blätterte er durch die Bewerbungen so wie jetzt.
Das Bewerbungsschreiben lag weit aufgeschlagen vor ihm. Er studierte das Anschreiben, das der Idiot nicht aufgelegt hatte, sondern in die Mappe gefriemelt hatte. Maxim zog das Anschreiben aus seiner Umklammerung und verbeulte das Papier. Mit rechts hielt er sich das Blatt vor die Nase, mit links griff er zur Kaffeetasse und schlürfte, ohne seine Augen von dem Brief zu wenden. Während er den Brief las und sich über komische, nur ihm unverständliche Formulierungen wunderte, tropfte Kaffee von seiner hässlichen Unterlippe, die über die Jahre die Form einer aufgeplatzten Rostbratwurst angenommen hatte. Wieder merkte er das Kleckern nicht, die schwarzbraune Soße tröpfelte auf seine Fliege und sogar unfein auf das Titelblatt der Bewerbung. Maxim bemerkte das erst, nachdem er die Tasse wieder abgestellt und den Brief zur Seite gelegt hatte. Dann stutzte er einen Moment und fragte sich, sind die Tropfen von mir?
Mit dem Handballen rieb er zweimal auf dem Titelblatt und stellte so fest, dass die verteilten Flecken von ihm sein mussten. Er schüttelte zweimal schwach den Kopf, ganz so als wundere er sich über die Schlampigkeit des Bewerbers. Wieder griff er nach der Tasse und schlürfte langsam ihren analeptischen Saft, während er sich unschlüssig durch Lebenslauf und Zeugnisse hindurchblätterte, ohne dabei irgendeinem besonderen System zu folgen. Erst war er sich nicht schlüssig, ob er den Bewerber ausschließen sollte, bis er sich eines Momentes gedachte, in dem er mit dessen Doktorvater einmal einen eigentlich unwesentlichen Disput hatte. Er vergaß vollkommen, dass er den Bewerber doch ohnehin nicht mehr erleben sollte, wenn die Landtagswahlen so verliefen, wie er sich das vorstellte.
Der Bewerber wurde also aussortiert und gelangte somit nicht auf den kaum vorsortierten Berg mit nahezu fünfzig Bewerbungen. Das war die Zahl der geladenen Kandidaten. Senff ließ stets so viele finanziell auf schwachen Beinen stehenden Bewerber skrupellos aus ganz Mitteleuropa anreisen, selbst wenn er sie in seinem stark eingeschränkten Geist eher im Hinterfeld platziert hatte.
Ein Bewerbungsgespräch auf die Stelle eines früher beginnenden Volontariats war für diesen Tag noch anberaumt. Dazu war ein Kandidat geladen, der auf eigene Kosten mehrere hundert Kilometer anzureisen hatte. Eigentlich hatten die Gespräche für diese Stelle in der Vorwoche stattgefunden, faktisch war sie sogar bereits vergeben, aber Senff mochte den Spaß, den aussichtslosen Bewerber noch zu erleben. Schließlich konnte der Hohepriester der Faulheit dessen Huldigung nur hier in seinem Tempel gebührend entgegennehmen.
Für dieses Festival der Dummheit überlegte er sich im Vorfeld zusammen mit Robert stets dreizehn lächerliche Fragen. Den letzten Fragenkatalog hatten sich die beiden bei einem gemütlichen Bier in einem nahegelegenen Bierkeller ausgedacht. Dabei waren die Fragen mit wenigen Ausnahmen, die den Schein wahren sollten, absichtlich so formuliert, dass sie die Bewerber verwirren sollten. Sie waren auch bei allen Bewerbern eines Durchlaufs gleich und von vornherein derart angelegt, dass sie alle Bewerber aus der Fassung bringen mussten. Diese Fragen betrafen Themen und Arbeitsabläufe, mit denen sich nicht nur der Volontär im Amt niemals beschäftigen würde, sondern von denen auch sonst keiner im Amt jemals betroffen war. Das interessierte aber auch niemanden. Das unwichtige, aber aus Maxims Sicht leider unvermeidbare Geschmeiß aus Personalrat, Gleichstellungsbeauftragte und anderen Amtsschimmelnotwendigkeiten verstand den Zusammenhang mit der Stellenausschreibung ja ohnehin nicht. Und die große Mehrheit der Bewerber tat den Teufel, sich zu beschweren. Die wenigen, die zurecht fluchend und schimpfend das Inquisitionszimmer verließen, hatten mit diesem Schritt das Bewerberkarussell von sich aus verlassen. Insgeheim staunte Senff übrigens über solchen Schneid. Es war zwar klar, dass so jemand die Stelle nicht bekommen durfte, Maxim wäre aber hocherfreut darüber gewesen, einen derartigen Charakterzug an sich entdecken zu dürfen.

Samstag, 11. Juli 2009

Kapitel 13.5

Senff hatte zu Ende gepinkelt, er schüttelte sich die Erinnerungen an seine frühere Stellvertretung aus dem Kopf. Er ärgerte sich, dass jemand diesen Ungeist aus seinem Gedächtnis gekramt hatte. Dieser unselige Typ, kam es Maxim in den Sinn, der hat doch von Anfang an gegen mich opponiert, weil er die Stelle des Direktors haben wollte. Maxim nestelte mit der einen Hand an seiner Hose und betätigte mit der anderen die laut kraschende Spülung. Die beiden Herren an den Pissoirs sagten nichts mehr, als sie merkten, dass da jemand gewesen war, der ihr Gespräch belauscht hatte.
Maxim öffnete die Tür. Obwohl beide mit dem Rücken zu ihm standen, erkannte er sofort, es waren Hobbler und Trudolf von der Inventarisierung. Beide ahnten, wer da hinter ihnen stand, getrauten sich jedoch nicht, sich umzudrehen. Dann sagte einer fast mehr aus einer Ahnung heraus: „Guten Tag, Herr Direktor!“, und der andere wiederholte den Gruß.
„Guten Tag!“, spitzte Senff und schritt ruhig in den Vorraum zu den Waschbecken. Die Stille im WC erinnerte an Glas. Maxim hörte, wie es irgendwo leise tropfte, Hobbler und Trudolf waren inzwischen ohrenscheinlich fertig, wagten jedoch noch nicht, die Pissoirs zu verlassen. Daher betätigten sie auch noch nicht die Spülung. Maxim beugte sich am Becken steif vor und drehte mit einem leichten Schielen zu den beiden anderen den Wasserhahn auf. Er benetzte die Hände zaghaft, griff unter den Flüssigseifenspender und spritzte sich mehrere Tropfen auf die rechte Hand. Dann verrieb er matschend den Seifenschaum in einer eigentümlichen Mischung aus der ihm eigenen Hektik und einer gewollten Langsamkeit. Ohne es sich auch nur in Gedanken einzugestehen, wusste er instinktiv, er durfte dieses Schlachtfeld nicht zu schnell verlassen. Anderenfalls wäre es ihm als Niederlage ausgelegt worden.
Hobbler und Trudolf warteten immer noch vor den Keramikschüsseln. Als Senff merkte, dass sie sich nicht zu ihm trauten, als ihm auffiel, welche Macht er selbst in diesem Moment auf sie ausübte, genoss er es und verlangsamte seine Handlungen auch noch. Er spülte konzentriert den Seifenschaum von seinen Händen, von jedem Finger und aus jedem Fingerzwischenraum. Dann griff er zu dem Papier, um sich die Hände zu trocken und rieb die letzte Feuchtigkeit von der Haut. Er glaubte fast, den Angstschweiß der zwei riechen zu können, knüllte das Papier zusammen und legte es fast zärtlich in den Mülleimer. Er beugte sich noch einmal vor den Spiegel und fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger über die Augenbrauen. Mit derselben Hand wischte er sich einmal über die Haare und kramte mit der anderen seinen Kamm aus der Gesäßtasche, mit dem er die fisseligen Spinnfäden an seinem Kopf in eine Ordnung zu bringen trachtete.
Hobbler gab auf. Er betätigte jetzt auch stumm die Spülung und trat langsam zu den Waschbecken. Trudolf war weniger mutig und wartete noch. Hobbler stand nun neben Senff und wusch sich die Hände. Der Direktor wurde immer langsamer in seinen Bewegungen, würdigte die beiden Inventaristen jedoch keines Blickes, sondern konzentrierte sich auf das Kämmen seines Spiegelbildes. Tonlos fragte er in Richtung der Pissoirs: „Sie sind doch für den Personalrat bei der Bewerbung heute, nicht wahr, Trudolf?“
„Ja, Herr Direktor“, nickte der ruhig und betätigte dann die Spülung.
„Dann sehen wir uns ja nachher“, sagte Maxim, drehte sich seine Fliege zurecht und schabte noch zweimal pikiert an dem Flecken auf seiner Fliege, der ihn bereits am Morgen geärgert hatte.
„Ja, Herr Direktor.“
Dann steckte Senff sich den Kamm wieder ein, drehte sich zur Tür und verließ die Toilette aufrecht. Als er im Büro seiner Sekretärin stand, reichte sie ihm unterwürfig lächelnd die Post in die Hand.

Mittwoch, 8. Juli 2009

Kapitel 13.4

Senff kannte Schehlen natürlich. Er erinnerte sich sehr gut an ihn. An diesen Stellvertreter von Dr. Stüht. Senff wusste, dass Schehlen ursprünglich als Wunschkandidat seines Vorgängers galt. Warum der die Stelle nicht angenommen hatte, war ihm hingegen nicht klar. Erst durch dessen Verzicht war es für den Außenstehenden Maxim überhaupt möglich gewesen, auf diese Position zu gelangen.
Schehlen war für Senff von Anbeginn ein Problem. Er mochte den schlaksigen Mann mit seinem leicht krausen Haar und dem freundlichen Umgangston überhaupt nicht. Schehlen war zu jedem freundlich, ließ weder seine Bildung noch seine Fähigkeiten weiter heraushängen, als es unbedingt notwendig war. Er war ein Vertreter flacher Hierarchien, der gut mit seinen Mitarbeitern umging, wie jeder bestätigte.
Ein derartiges Verhalten konnte Senff gar nicht verstehen. Schehlen war ihm daher grundsätzlich zuwider. Außerdem wusste er die Haltung nicht einzuschätzen, dass Schehlen die Leitung abgelehnt hatte. Daher wurde das Vergraulen des Stellvertreters eine von Senffs ersten Amtshandlungen. Zumal er die grundsätzliche Notwendigkeit sah, Plankenreiter auf ein gut dotiertes Pöstchen zu erheben.
Robert hatte nach einem wiederholt sehr schlechten Abschneiden bei den Weltmeisterschaften im Drachenflug mittlerweile nicht allein dieses ungewöhnliche Hobby aufgegeben, sondern auch einsehen müssen, dass aus seiner Promotion nichts mehr werden würde. Daher hing er das Stipendium an den Nagel, doch leider wollte die Stiftung, die ihn bislang finanziert hatte, entweder irgendwelche Ergebnisse sehen oder ihr Geld zurück. Nach einer kurzen Phase bei einer Bank, während der er Überweisungsträger abzutippen hatte, war es endlich so weit, dass Senff ihn in das neue Amt nachholen konnte.
Zunächst hatte sein alter Freund Maxim ihm lediglich eine halbe Stelle vermitteln können, die nur wenig ausbaufähig war. Aber es war von vornherein ausgemacht, dass Schehlen von dieser Position aus sturmreif geschossen werden sollte, um Robert die Stellvertretung zuzuschustern.
So groß der Plan angesichts des gewünschten Ergebnisses auch war, hatten doch weder Maxim noch Robert die Details von Beginn an festgelegt, sie entwickelten sich im Laufe der Zeit. Senff war dabei selbstverständlich der Kopf hinter der Nummer, Robert allein wäre dazu viel zu dumm gewesen. Im Gegensatz zu ihm war der Direktor sogar schlau genug gewesen, ausgerechnet die wirklich bösen Sachen von dem dödeligen Robert machen zu lassen.
Schehlen war als Stellvertreter zuvor zuständig gewesen für den Wagenpark des Amtes, er betreute als oberster praktischer Denkmalpfleger die meisten Außeneinsätze, leitete das Fundstellenarchiv und koordinierte die dabei anfallenden Arbeiten.
Hierhin sah Senff die Angriffspunkte. Schehlen sollte systematisch aus diesen Bereichen herausgedrängt und lächerlich gemacht werden. Sehr früh entzog Senff ihm den Wagenpark. Die Kontrolle über die Dienstwagen übernahm er selbst, niemand konnte mehr einen Dienstwagen nehmen, ohne dies persönlich beim Chef abgesegnet zu bekommen. Dafür ließ Senff sogar seine notorische Faulheit so weit hinter sich, dass er sonntags noch gerne herumtelefonierte.
Mit diesem Coup traf er Schehlen gleich doppelt. Denn nun hatte der nicht nur ein Arbeitsfeld weniger, sondern musste für seine Fahrten beim Chef selbstpersönlich einen Wagen beantragen. Natürlich bekam er stets die letzte Krücke.
„Ausgerechnet heute“, sagte Senff dann immer, „ist nur der Passat verfügbar.“
Schehlen machte dann ein langes Gesicht, denn er wusste, was das bedeutete. Bei mindestens jeder dritten Fahrt blieb er mit dem ältesten Wagen des Amtes liegen, was natürlich besonders an Freitagnachmittagen regelmäßig zu unschönen Situationen für Schehlens Familie führte. Kam der Stellvertreter dann zu Terminen zu spät, hagelte es selbstverständlich im Nachhinein Kritik vom neuen Direktor.
Diese Kritik, die auch andere Punkte in Schehlens Amtsführung betraf, war eigentlich die einzige Situation, in der Senff in eigener Person seine Finger oder genauer gesagt seine Zunge schmutzig machte. Eigentlich hatte Senff für die Dienstbesprechung den offiziellen Termin am Montagvormittag übernommen. Jedoch änderte er diesen Termin wiederholt frei nach Gusto kurzfristig und sorgte aktiv dafür, dass Schehlen von der Terminänderung nichts erfuhr. Anderen Mitarbeitern war es strikt verboten, den Stellvertreter davon in Kenntnis zu setzen. So wurde es nach wenigen Wochen Usus, dass Schehlen als einziger Angestellter zusätzlich zu den, beziehungsweise anstelle der Dienstbesprechungen, die er ja zwangsläufig meist versäumte, auch Donnerstags in Senffs Büro zitiert wurde, um über geleistete Arbeiten zu rapportieren. Der Ton war ab dem ersten Gespräch mindestens eisig, oft sogar ungehalten. Dann bellte Senff den harmlosen Schehlen an, warf ihm vor, schlecht zu arbeiten oder bedrohte ihn zuweilen mit dienstrechtlichen Maßnahmen, gegen die der sich einfach nicht zu wehren wusste. Der zurechtgestutzte Mann wusste ja nicht einmal, was das alles sollte, er erkannte nicht, worauf das alles hinauslaufen sollte. Wenn er sich zu äußern versuchte, wurde er sogleich von Senff in einem heiseren Feldherrnton unterbrochen, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Was hier gespielt wurde, begriff der Noch-Stellvertreter nicht. Dazu war seine Weltsicht einfach zu freundschaftlich geprägt. Er verstand einfach nicht, dass und wie er hätte handeln müssen.
Außerhalb von Senffs Büro vermied es der neue Direktor, Schehlen direkt anzuschauen. Auffällig verächtlich verdrehte Senff immer die Augen, wenn die zwei nicht allein waren. Regelmäßig putzte er ihn mit fadenscheinigen Argumenten vor anderen Angestellten des Amtes herunter. Eigentlich waren diese Situationen sogar die einzigen Momente, in denen Senff überhaupt mit Schehlen sprach.
Ein paar Monate nach dem Übernahme der Amtsleitung durch Senff ergab sich durch die Pensionierung eines verdienten Grabungstechnikers die Möglichkeit, die Zimmerverteilung im Amt nachhaltig zu korrigieren. Schehlen, der bis dahin neben Senff residiert hatte, wurde nun in ein kleines schimmeliges Kämmerchen neben den Toiletten versetzt, das dem Hausmeister zuvor als Abstellkammer gedient hatte. Genau genommen blieb es natürlich eine Abstellkammer, denn Schehlen wurden weitere Aufgaben entzogen und im Ausgleich dazu immer idiotischere Tätigkeiten übertragen.
Erst hatte er den Auftrag bekommen, die Ortsakten mit den Fundstellen zu digitalisieren, indem die Zettelwirtschaft aus 100 Jahren eingescannt werden sollte. Doch schnell fielen Senff hier und da Unregelmäßigkeiten in der Umsetzung auf, die ihm nicht gefielen, da musste Schehlen die Aufgabe Plankenreiter überlassen, der kurz zuvor in das Amt geraten war. Ab diesem Zeitpunkt war Robert in Senffs Büro stummer Zaungast während des Donnerstagsrapports.
Schehlen blieben nun faktisch kaum noch Aufgaben, er hatte aber in seiner Position auch keine Möglichkeiten, sich selbst neue Felder zu erschließen. Ab und zu erhielt er noch simpelste Arbeiten, an denen nur er allein werken konnte. Mal sollte er für die eine Etage eine Vitrine füllen, mal galt es, eine Schautafel zusammenzustellen. Darüber hinaus hatte er jedoch kaum mehr die Mittel, Kontakt mit anderen Mitarbeitern zu halten. Dafür durfte er mehr und mehr Plankenreiter zuarbeiten. Dies geschah natürlich vornehmlich, um Robert einzuarbeiten, der bereits auf den Sprung für die Stellvertreterstelle war.
Genau zu dieser Zeit begann der Angriff vom zweiten Flügel. Robert war für die Drecksarbeit zuständig. Er streute Gerüchte bei den Angestellten, dass Schehlen psychisch krank sei, sich aber weigere, sich in Behandlung zu begeben. Vorsichtig verbreitete er Klatsch, Schehlen tränke gerne mal einen über den Durst und sei deswegen zurückgestuft worden. Überhaupt wurde der Noch-Stellvertreter systematisch lächerlich gemacht und ein Opfer übler Nachrede.
Irgendwann wurde es dann zu viel. Schehlen wurde tatsächlich krank. Das Geringste, was sich bei ihm zeigte, war noch ein starkes Unwohlsein bezüglich aller Dinge, die mit dem Amt in Verbindung standen. Er klinkte sich aus der Archäologie aus, er floh vor den den letzten sozialen Bindungen zu anderen Denkmalpflegern. Er verließ so unbewusst den Kreis, der ihm den letzten Schutz geben konnte. Stattdessen trat er in einen Teufelskreis aus weiteren Erniedrigungen und stärker werdenden psychischen Verletzungen, denen er immer weniger entgegenzusetzen hatte. Den Kampf im Amt hatte er längst verloren. Bald änderte er seine Anstellung in eine Teilzeitstelle und schlussendlich ließ er sich sogar noch aus dieser Stelle drängen, einfach um diesem täglichen Terror zu entfliehen. Aber nicht einmal dieser Schritt konnte jetzt noch verhindern, dass er sich in professionelle Behandlung begeben musste. Senff war es mit Hilfe Plankenreiters gelungen, aus der üblen Nachrede über Schehlens psychischer Erkrankung eine echte Krankheit zu machen.