Donnerstag, 27. August 2009

Kapitel 14.1

Maxim wurde erst von der leiernden Melodie der Amtstelefonanlage geweckt. Er öffnete die verkniffenden Augen und brauchte eine Sekunde, um sich zurechtzufinden. Dann lehnte er sich vor und stand gesetzt auf.
Warum geht die Scheckow nicht an das Telefon? fragte er sich und blickte auf die Uhr, nachdem er sie wieder aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Es war bereits halb zwei, er war etwas verwundert, so lange geschlafen zu haben, nein, er hatte sich ja nur einen Moment entspannt, verbesserte er sich selbst.
Maxim ging hinter seinen Schreibtisch, setzte sich auf seinen Stuhl, lehnte sich wichtig vor und nahm den Hörer ab.
„Landesamt für Denkmalpflege, Doktor Senff am Apparat?“
„Herr Direktor?“, fragte seine Sekretärin, „Hier ist ein Herr vom Fernsehen, der möchte Sie diese Woche noch interviewen. Es geht um dieses Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg und um das Kultusministerium.“
Senff wurde geschmeidig, das interessierte ihn und schmeichelte ihm zugleich.
„Ja, machen Sie ruhig einen Termin mit ihm aus“, lächelte er zahm.
Die Sekretärin wies ihn freundlich darauf hin: „Ihr Terminkalender ist diese Woche aber voll, dann müssten Sie einen Termin absagen.“
„Jaja, kein Problem. Die Woche ist doch der Termin mit dem Dingsbums, na, wie heißt er gleich, der mit seinen Studenten für eine Führung durchs Amt vorbeikommen wollte. Das soll Robert oder sonstwer machen“, wimmelte Senff harsch ab.
„Dann werde ich das ändern, Herr Direktor.“
Senff legte auf. Er drehte sich in seinem Stuhl, dass er nach draußen blicken konnte, dazu hielt er sich seine Hände so vor die Brust, dass die gespreizten Finger sich gegen ihr jeweiliges Pendant stützten. Er überlegte eine Weile und dachte befriedigt an den Fernsehauftritt. Nach einem Moment stand er auf, ihm wurde bewusst, dass das Bewerbungsgespräch bald beginnen würde.
Er ging zu dem Schrank, öffnete ihn, angelte den Kleiderbügel mit dem Sakko heraus und zog es an. Dann ging er vor der Schranktür leicht in die Knie, um sich in dem auf der Innenseite der Tür angebrachten Spiegel noch einmal zu begutachten. Er kräuselte die Stirn, zog erneut den Kamm aus der Tasche und ordnete seine durch das Nickerchen ziemlich derangierten Haare. Ein paar einzelne Ausreißer ließen sich von dem Kamm nicht beeindrucken, Maxim musste sie mit etwas Speichel richten. Dann zerrte er sanft seine Fliege richtig und bemerkte neue Kaffeeflecken. Seine Lippen verzogen sich angewidert und er versuchte erfolglos, die Flecken zu verreiben, die längst tief eingewirkt waren. Maxim ärgerte sich. Mit zornigen Augen schloss er den Schrank wieder, ging zu einem Regal, dem er eine dünne Mappe mit den Unterlagen für das Bewerbungsgespräch entnahm und verließ sein Büro. Das Gespräch fand in einem Konferenzraum im Erdgeschoss statt. Senff winkte verkürzt und glitt an seiner Sekretärin vorbei. Dann schlich er die Treppe nach unten.
Vor dem Konferenzraum saß im Flur bereits der Kandidat. Er versuchte zwar entspannt zu wirken, aber Senff konnte die Angst spüren. Zu dem stummen Gruß, den der Direktor ihm gewährte, lächelte Maxim nicht, sondern er grinste. Jetzt wurde auch sein Schritt federnd und er ging in den Raum.
Im Inquisitionszimmer waren bereits die meisten anderen Teilnehmer da. Frau Attermann, die Gleichstellungsbeauftragte, unterhielt sich mit der Sekretärin aus der Personalabteilung, mit Frau Jeckel. Sie war für den Papierkram zuständig, hatte also nichts zu sagen, musste aber die Arbeit leisten. Vom Baudenkmal war noch Dr. Fabricius da, Senff visierte kurz durch den Raum und ging dann zu Fabricius, um mit ihm gedrungen zu reden.
Frau Jeckel hatte den Tisch für das Gespräch bereits gedeckt. Zumindest für die Mitglieder des Bewerbungsausschusses, der Bewerber bekam keinerlei Getränke. Senff schaute auf die Uhr, es war fünf Minuten vor zwei, Trudolf und Robert fehlten noch. Da öffnete sich die Tür und Herr Trudolf trat gehetzt ein.
„Entschuldigen Sie, Herr Direktor“, versuchte er jedem Protest entgegenzukommen, doch Senff ranzte ihn an: „Haben Sie mal auf die Uhr geschaut? Das ist ja wohl unmöglich!“ Mit Absicht sprach er so laut, dass der Kandidat draußen es hören musste. Robert fehlte noch immer.
Frau Attermann traute sich, auf dessen Fehlen hinzuweisen. Als Gleichstellungsbeauftragte fühlte sie sich dem Direktor gegenüber besonders mutig: „Tja, fehlt ja nur noch der Herr Plankenreiter – sollen wir den Herrn Fries schon mal reinbitten?“
Da öffnete sich die Tür und Robert schlenkerte herein, mit Herrn Fries im Schlepptau.
„Dann kommen sie gleich mal mit rein“, sagte er, und alle schauten zu den beiden.
Dr. Rüdiger Fries trug einen unförmigen Anzug von C&A, der sich um seinen ausgehungerten Körper schlang wie ein ausgewachsene Pferdedecke um ein Shetlandpony. Die Spannung, unter der er stand, war kaum übersehbar. Er wurde von Robert mehr in das Zimmer gezerrt.
Trudolf blickte zur Tür, zu dem Nachzügler und den Bewerber, er schaute dann leicht grimmig zu Senff in der Erwartung, dass Robert einen ähnlichen Einlauf bekäme wie er selbst. Natürlich ersparte Senff sich diese Aufführung. Niemals hätte er seinen Liebling vor der Amtsöffentlichkeit heruntergeputzt. Dabei war er tatsächlich sauer, zum zweiten Mal schon an diesem Tag hatte Robert ihn völlig unnötig im reibungslosen Ablauf seines Tages gestört.
„Ja gut“, sagte er, „dann setzen Sie sich mal da hin“, und wies auf einen Platz, der seinem und Roberts Platz gegenüber lag. Die anderen Teilnehmer dieser Farce waren dagegen in eine weiter entfernte Umlaufbahn um den Konferenztisch gesetzt. Neben Robert saß Frau Jeckel, um ohne größere Schwierigkeiten den Kaffee der Teilnehmer nachschenken konnte. Es folgte Frau Attermann, Herr Trudolf und zuäußerst Dr. Fabricius, der von dem Frage-Antwort-Spiel fast nichts mitbekommen konnte, weil die Akustik in dem Raum viel zu schlecht war. Jeder hatte einen Block oder wenigstens einen flachen Stapel Papier vor sich liegen und hielt in einer Hand einen Kugelschreiber.
Doktor Fries nahm schweigend den Platz ein, den Robert ihm mit einer wortlosen Handbewegung zugewiesen hatte. Als Fries sich gesetzt hatte, fiel Frau Attermann erst auf, wie schlecht der Anzug tatsächlich saß. Sie verdrehte ihre stark umschminkten Augen und schaute leicht genervt nach außen.
Senff übernahm das Wort: „So, dann stelle ich die Runde mal kurz vor. Sie sind also der Herr Rüdiger Fries“, er schielte kurz auf seine Unterlagen, „Herr Doktor Fries“, lächelte er dann, „so viel Zeit muss sein!“
Doktor Fries grinste nervös.
„Mein Name ist Senff, sie kennen sicherlich meine Arbeiten“, Fries nickte, „hier neben mir sitzt der Herr Plankenreiter“, Maxim wies mit der flachen Hand auf die einzelnen Personen, „dann kommt Frau Jeckel, die Ihnen nachher noch etwas zu den allgemeinen Abläufen sagen wird.“ Frau Jeckel nickte grüßend und flüsterte einen unausgesprochenen Gruß, Senff machte längst weiter mit der Vorstellung: „Daneben ist Frau Attermann, die Gleichstellungsbeauftragte, dann der Herr Trudolf vom Personalrat und zuletzt Herr Doktor Fabricius von der Abteilung Baudenkmal.“ Die anderen rührten sich nicht einmal zu einer Geste.
Fries lenkte seinen Blick zurück auf Senff. Der grinste süffisant, als läge ein saftiges Steak vor ihm.
„So, Herr Doktor Fries, wir haben heute für Sie dreizehn Fragen vorbereitet, die wir gerne von Ihnen beantwortet hätten. Fangen wir am besten mit einer Frage an, mit deren Beantwortung Sie sich ein bisschen aufwärmen können. Stellen Sie sich doch bitte einfach mal kurz vor.“
Fries räusperte sich und begann: „Ja, also, äh, ich komme aus Norddeutschland, ich bin in Wesselburen geboren, habe bei der Bundeswehr, also bei der Marine meinen Wehrdienst abgeleistet und danach in Hamburg Archäologie studiert.“
„Archäologie?“, fragte Senff und kritzelte sich ein paar Hieroglyphen auf seine Unterlagen. Einige von den anderen kritzelten mit, Dr. Fabricius malte Männchen.
„Ja, äh, klassische Archäologie im Nebenfach. Im Hauptfach Vor- und Frühgeschichte, dazu noch Ethnologie. Ja, äh, dann habe ich in Hamburg auch promoviert, Thema der Doktorarbeit waren die Besonderheiten in der Bauweise emsländischer Megalithgräber.“
„Gut“, sagte Senff und meinte etwas anderes, „dann kommen wir gleich zur zweiten Frage: Können Sie die Ergebnisse ihrer Dissertation in einem Satz darstellen?“
Die Augen von Fries wurden einen kleinen Moment lang groß, das Blut sackte ihm kurz weg, er räusperte sich wieder, „Ja, ähem, da muss ich einen Moment meine Gedanken sammeln“, und schwieg. Alle kritzelten wie wild auf ihren Zettelchen.
„Ja, in meiner Untersuchung habe ich festgestellt, dass die emsländischen Megalithgräber sich in der Bauweise wesentlich von denen anderer Trichterbecherregionalgruppen wie in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern unterscheiden.“
Senff verstand kein Wort. Er schrieb wieder irgendetwas und fragte dazu abgelenkt: „Mecklenburg-Vorpommern. Sind Sie schon mal da gewesen? Kann man schön Urlaub machen.“
Fries wackelte unsicher mit dem Kopf und hauchte ein „nur kurz“ in die Runde.
„Gut“, machte Senff und fragte dann, „Wie sieht es denn mit den Strukturen der Denkmalpflegeämter aus? Welche kennen Sie?“
Fries stutzte erneut, ihm wurde zwar noch immer nicht recht klar, was diese Fragen sollte: „Meinen Sie, was es für Ämter gibt? Ja, da gibt es die Landesdenkmalpflegeämter“, er machte eine kleine Pause, „oder auch die Kulturbehörden.“ Dann wurde sein Blick fragend, er sagte: „Jedes Land hat sein eigenes Denkmalpflegeamt, zum Teil dann noch untergliedert in einzelne Bezirke, Landesteile oder Kreise“, und schaute in die Runde.
Senff unterbrach: „Bei welchem Denkmalpflegeamt haben Sie denn persönlich schon gearbeitet?“
„Oh, in Niedersachsen bei verschiedenen Kreisen, in Hamburg –“
„Also in Harburg?“, fragte Robert zwischen.
„Ja, genau, äh, dann in Nordrhein-Westfalen, also das heißt nur in Westfalen, und ein paar Mal noch in Hessen.“
„Arbeiten Sie lieber alleine oder lieber im Team?“, wollte Senff dann wissen.
„Natürlich kann ich jede Aufgabe alleine bewältigen, aber ich bin auch teamfähig und arbeite auch gerne im Team.“
Die meisten Leute gegenüber von Fries machten sich wild Notizen, für einen Moment herrschte ein gepresstes Schweigen. Senff genoss diese Ruhe für seinen Angriff.
„Welche Denkmalpflegegesetze kennen Sie denn, die die Pyramiden von Palenque schützen?“
Fries wurde wieder bleich. Er blickte die Gruppe an, die nach den Blicken zu schließen kein Mitleid mit ihm hatte. Nach kurzem Schweigen riet er mit einer fragenden Stimme: „Äh, Weltkulturerbe?“
„Richtig“, sagte Robert, „zu welcher Organisation gehört das denn?“
„Zur UNESCO“, sagte Dr. Fries dann.
„Was umschreibt dieses Gesetz denn?“, erkundigte sich Senff.
Nach einer kurzen geistigen Formulierungspause sagte Fries: „Das Gesetz schützt wichtige Fundplätze und kulturelle Güter in der Welt vor Verschandelung und Zerstörung.“
„Aha“, machte Senff und schmierte sich etwas auf sein Blättchen. Ohne Aufzublicken hakte er nach: „Kennen Sie denn ein deutsches Denkmal, dass unter dieses Denkmalpflegegesetz fällt?“
„Da fällt mir zum Beispiel Quedlinburg ein.“
„Wie sieht es denn da aus, was gibt es da?“
„Also, da ist die gesamte Altstadt Welterbe. Das sind der Bereich des Königshofs mit dem Schlossberg, die Kirchen und, äh, ja, der gesamte historische Altstadtbereich innerhalb der Stadtmauer einschließlich der Gassen und Plätze.“
„Stimmt, der Königshof“, machte Senff wichtigtuerisch. Er hatte keine Ahnung, wovon Fries sprach.
„Dann gibt es darin noch die Sankt-Servatius-Kirche, die Sankt-Marienkirche und, äh, die Sankt-Wipert-Kirche –“
Senff unterbrach kopfnickend: „Die ist nach dem heiligen –“
Den Rest des Satzes sprachen Senff und Fries zusammen: „– Wipert benannt.“
Dann redete Senff wieder allein: „Kennen Sie denn ein international bedeutsames Bodendenkmal hier in unserem Bundesland?“
Fries schaute eine Schrecksekunde stumm und erwiderte dann: „Die Alteburg.“
Senff beugte sich nun nach vorn auf den Tisch und lehnte mit beiden Ellbogen auf seinen Unterlagen. Eine Hand ruderte in der Luft, als er fragte: „Und? Was gibt es da?“
„Ja, die Alteburg ist ein bedeutsames Denkmal aus der Jungsteinzeit, es ist eine Wallanlage mit zahlreichen Hausgrundrissen und vor wenigen Jahren ist ein Brunnen ausgegraben worden, dessen Hölzer naturwissenschaftlich etwa in die Zeit 3000 vor unserer Zeitrechnung datieren.“
„Welche Wegweiser“, erkundigte sich Robert dann von der Seite, „kennen Sie denn noch zu Denkmalpflegegesetzen?“
Fries fragte nach: „Wegweiser? Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht richtig, meinen Sie Literatur?“
Robert nickte schwach, ohne es als Bejahung zu meinen, die anderen glotzten in die Luft oder durch Fries hindurch.
„Vermutlich übers Internet“, sagte Fries unsicher mit einem leicht fragenden Unterton.
Dann übernahm Senff wieder mit einer gehetzten Frage: „Würden Sie eigentlich Werbung auf einem Bodendenkmal dulden?“
„Werbung?“ Fries dachte einen Augenblick nach, schüttelte dann den Kopf, „Nein, auf einem Bodendenkmal grundsätzlich eher nicht.“
„Wenn die Werbung als solche erlaubt wäre, unter welchen Voraussetzungen würden Sie sie denn auf einem Denkmal dulden?“
„Also höchstens unter der Voraussetzung, dass sie, äh, dezent und angemessen gestaltet ist und der Erlös der Werbung auch dem, äh, dem Denkmal zugute kommt, also seiner Erhaltung oder wenigstens Erforschung.“
Senff macht ein müdes „Aha!“ und fragte dann weiter: „Eine letzte Frage haben wir noch: Würden Sie Werbung für Bier auf einer Ausgrabung dulden, wenn die Firma die Ausgrabung finanziert?“
Fries schüttelte leicht den Kopf und meinte: „Ich glaube, das sähe ein bisschen seltsam aus, aber für die Finanzierung müsste man vielleicht ab und zu in den sauren Apfel beißen. Wahrscheinlich müsste man das dann im Einzelfall entscheiden.“
„Ja, Herr, äh“, Senff schaute absichtsvoll auf seine Unterlagen, um nach dem Namen zu schauen, „Herr Doktor Fries, ja, das war es schon, dann wird Ihnen die Frau Jeckel jetzt noch ein Informationen zu der Stelle geben.“ Dabei drehte Senff sein Gesicht zur Jeckel und hob müde die Hand, ohne wirklich auf die Frau zu zeigen. Der Bewerber schaute sie dagegen interessiert an und hörte ihr zu, wie sie ihm die sittenwidrigen Arbeitsbedingungen aufzählte, die dermaßen unverschämt waren, dass sich manches Institut weigerte, die Ausschreibungen dieses Herrn Dr. Senffs überhaupt auszuhängen.
Sie redete von unverschämt langen Arbeitszeiten, zu der überdies unbezahlte Überstunden unausweichlich waren, sie erzählte von einer Entlohnung, die es nicht wert war, diese Bezeichnung überhaupt zu tragen, sie sprach von Urlaubstagen, die kaum dazu reichten, auch nur die Wohnung zu verlassen. Fries lauschte, er wollte einfach arbeiten. Er träumte sich diese weitere Durststrecke als Sprungbrett in eine bessere Zukunft zurecht. Eine Zukunft, die alles andere als rosig war, aber immerhin ein bisschen die unsinnigen Strapazen und die hohle Mühsal der vergeudeten Jahre an einer deutschen Universität ausgleichen sollte.
Senff dagegen schwelgte in anderen Träumen. Ihn erinnerte die Szene an die Seminare, die er früher als Assistent gegeben hatte.
Er sah sich selbst als beliebter Dozent, hielt er sich doch tatsächlich für freundlich und zuvorkommend. Seine Seminare waren stets voll gewesen, was aber auch kaum überraschend war. Er war nämlich als Assistent dazu verdonnert, notwendig zu besuchende Proseminare für die Erst- und Zweitsemester anzubieten. Die Studenten konnten ihm gar nicht ausweichen. Jeder, wirklich jeder, der zu dieser Unzeit an dem Institut begann, die Grundweihen der Archäologie zu empfangen, musste die Seminare von Senff ertragen. Und das hätte Senff wissen müssen, er wollte es aber nicht wahrhaben.
In Wirklichkeit waren seine Seminare berüchtigt. Er gestaltete sie gelangweilt, desinteressiert und ohne jedes Ziel. Dem Aushang am Schwarzen Brett war zu entnehmen, dass als Teilnahmevoraussetzung die Lektüre einiger weniger unerreichbarer Fachbücher gefordert wurde. Natürlich wurden diese während des Seminars überhaupt nicht angesprochen. Nach der Verteilung von Referatsthemen ließ Senff die Sitzungen von den Studenten gestalten, indem sie ein Referat nach dem anderen hielten, die er weder näher besprach noch bewertete. Das bedeutete natürlich, dass auch die miserabelsten Referate noch unwidersprochen als Lehrveranstaltung durchgingen.
Manche Studenten bestritten ihre Referate daraus, dass sie sich auf einem Wust ungeordneter Blätter einzelne herauskopierte Absätze und Sätze aus Büchern zu dem jeweiligen Thema zusammengeklebt hatten, die sie im Seminar in zufälliger Reihenfolge herunterlasen. Andere verhedderten sich am Pult in einem Wust von ausgeklappten Falkplänen, um die Lage eines Fundplatzes zu zeigen, von dem sie nicht verstanden, warum er in der Literatur mal Grütztopf und mal Grützpott genannt wurde.
Als legendär galt im Insitut jedoch ein Vortrag, den jemand über das römische Pompeji halten sollte, und der noch viele Semester lang weitererzählt wurde. Der Referent verstand die moderne italienische Aussprache des heutigen Fundplatzes Pompei nicht und bezeichnete die Ortschaft mehrfach als [pompai]. Ungewöhnlich genug, dass Senff in diesem Falle tatsächlich einmal durchgriff und die Aussprache jedes Mal korrigierte, beharrte der Referent auch weiterhin darauf, den Stadtnamen deutsch auszusprechen. Natürlich hatte der Student ab sofort seinen Spitznamen weg und wurde von allen nur noch Pompei genannt.
Anfangs krümmte Senff sich während der Referate noch über seine Unterlagen und notierte sich den einen oder anderen Gedanken, der ihn beschäftigte. Später jedoch beherrschte er eine Technik, die es ihm ermöglichte, sich völlig aus der Veranstaltung auszuklinken. Ihm war es gelungen, einen Schlafrhythmus zu entwickeln, dessen Dauer genau die Länge eines Referates umfasste. Wenn die Referenten mit ihrem Vortrag begannen, schloss er die Augen, ließ seinen Kopf leicht nach vorn kippen und nickte ein. Etwa zu dem Zeitpunkt, wenn das Referat schließen sollte, wachte er wieder auf. Dieser kurze Moment genügte, so viel von dem Vorgetragenen mitzubekommen, dass er zuweilen eine Frage aus dem zuletzt gehörten Satz herleiten konnte, um mit dieser aufgeschnappten Information Detailwissen vorzutäuschen. Inhalt und Qualität der Referate waren dagegen unwichtig. Die Zeit musste lediglich sonor von einer Stimme ausgefüllt werden.
Wegen seiner geistigen Abwesenheit entgingen Senff natürlich nicht allein die Referate, er bemerkte auch nicht die Zerstreuungen, mit denen sich viele Studenten während des Seminars beschäftigten. Einige lasen Zeitung, andere pflügten durch die Welt der Schundliteratur, so wie Senff es als Student selbst getan hatte, und wenige nutzten die Zeit, um Referate oder Hausarbeiten für andere Veranstaltungen zu präparieren.
Zuweilen kam es natürlich vor, dass die Referate zu kurz geraten waren, und im Seminar nichts mehr zu tun war. Dann entließ Senff die Studenten gerne vorzeitig. Es sei so schönes Wetter, merkte er in solchen Momenten mit generösem Gesichtsausdruck an, da wollen Sie doch bestimmt lieber in die Cafete. Senff sagte diesen Satz bei jedem Wetter. Er fiel sogar so häufig, dass er bald ein geflügeltes Wort am Institut wurde, ohne dass der Urheber das bemerkte.
Angesichts der Gleichgültigkeit, mit der Senff den Referaten begegnete, verwundert es kaum, dass sie für die Leistungsbewertung der Seminarteilnehmer völlig unerheblich waren. Er bewertete die Seminarscheine ausschließlich nach dem Ergebnis der Klausur am Semesterende. Die war allerdings entgegen aller Erwartungen regelmäßig gepfeffert. Die Klausur bestand nämlich aus richtigen Fragen, zu Themen, die Senff im Proseminar nie behandeln ließ. Er hätte sie auch selbst kaum beantworten können, hätte er sie nicht einschließlich der korrekten Antworten von seinem Vorgänger übernommen. Natürlich gab es mehrere Versionen, aus denen er von Semester zu Semester auswählen konnte. Manche Studenten erfuhren zwar rechtzeitig von dieser Möglichkeit der Vorbereitung, viele rasselten jedoch auch beim ersten Versuch durch, weil sie den Fehler machten, von dem Seminar auf die Klausur zu schließen.
Frau Jeckel hatte ihren Vortrag inzwischen beendet und blickte wartend zu Senff, Frau Attermann räusperte sich bereits flau. Senff rüttelte sich zurück in das Konferenzzimmer.
„Gut“, sagte er, „dann haben wir nur noch eine Frage an Sie: Halten Sie Ihre Bewerbung aufrecht?“
„Unbedingt“, sagte Rüdiger Fries und wiederholte sich kopfnickend, „unbedingt!“
„Ja, dann können Sie ja jetzt gehen“, sagte Senff und stützte sich auf den Tisch, „auf Wiedersehen!“
„Ja, auf Wiedersehen“, erwiderte der über die Fragen noch immer leicht erschrockene Fries.
Frau Jeckel zuckte wortlos mit dem Mund, die anderen schauten nicht mal in die Richtung von Fries. Frau Attermann glotzte aus dem Fenster, Herr Trudolf blickte in die Richtung von Senff und Dr. Fabricius war weiter mit seinen gekritzelten Männchen beschäftigt. Ihn interessierte die gesamte Veranstaltung nicht.
Dr. Fries hatte inzwischen den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen, da sagte Senff: „Gut, damit sind wir mit den Kandidaten durch. Die Besprechung für die Stellenvergabe machen wir dann morgen Vormittag, den Termin haben sie sich hoffentlich alle vorgemerkt.“
Zu dem letzten Satz schaute er an Robert vorbei zu Trudolf, der gleich das Wort aufnahm: „Ja, Herr Direktor, ich wollte es schon angesprochen haben, das ist ja doch ungemein stressig –“
„Dann dürfen Sie sich für solche Tätigkeiten eben nicht melden!“, knurrte Senff und Trudolf schwieg.
Die Versammlung löste sich wieder auf, jeder griff sich seine Unterlagen und verdrückte sich. Nur Frau Jeckel blieb zurück und räumte die Tassen, den Kaffee und das Zubehör weg.

Dienstag, 4. August 2009

Kapitel 13.7

Senff öffnete seine abschweifenden Augen und schüttelte den Kopf. Mit wenigen orientierenden Blicken fuhr er im Büro herum, dann schüttelte er seine Uhr aus dem Ärmel, um die Zeit nachzusehen.
Kurz vor zwölf, dachte er, dann kann ich endlich Mittag machen.
Maxim griff unter die Bewerbungsmappe und hob sie flach zur Seite, um sein Mittagessen zu verspeisen. Er kramte sich aus der Tasche eine Plastikdose, einen einzelnen Apfel und eine Banane. Dann begann er damit, aus der Dose ein belegtes Brot zu essen und lauschte der Mittagsstille im Amt. Ab und zu klapperten Schritte über den Flur. Entfernt hörte man ein Auto verbeihuschen, viel Verkehr war nie in der Nähe des kleinen Schlösschens. Bevor er weitere Stücke von dem Brot abbiss, trank er ab und zu einen Schluck aus der Tasse, dann kaute er weiter. Nach dem Brot entkleidete er sorgfältig die Banane und operierte mit spitzen Fingern noch das kleinste Fäserchen von dem Fruchtfleisch. Er ekelte sich davor, das Innere zu berühren. Als die Südfrucht vertilgt war, griff er sich den wachsglänzenden Apfel und biss herzhaft hinein. Nach zwei Bissen klopfte es an seine Tür, er pausierte einen Augenblick, überlegte kurz, während er den Apfel von dem Mund weghielt und kinnkaute dann schnell das Stück zu Ende. Mitsamt seinem Stuhl rollte er ein Stück zur Seite, drehte sich und bat den unerwünschten Gast hinein.
Es war Robert, der die Tür offen hielt und nur seinen Oberkörper in das Büro lehnte. Maxim zeigte sich selbst von seiner wichtigsten Verbindung zur amtlichen Außenwelt im Essen so gestört, dass er den Apfel im Mülleimer entsorgte.
„Was willst du?“, fragte Maxim genervt und schmatzte Apfelschalenreste aus den Zwischenräumen der Zähne.
„Oh, du isst gerade?“, erkundigte sich Robert dumm. Immerhin wäre zu erwarten gewesen, dass er die Gewohnheiten seines wichtigsten Protektors nach fast zwanzig Jahren kennen sollte, „Entschuldige bitte. Ich wollte nach dem Termin nachher fragen und die Scheckow ist schon zur Kantine.“
„Ja“, bellte Maxim, „der Termin ist um zwei.“
„Gut, dann sehen wir uns ja nachher“, verabschiedete Robert sich. Er wusste, dass er Maxims Essen nicht unter-, sondern abgebrochen hatte. Robert federte zurück und schloss die Tür in derselben Bewegung.
Maxim spürte einen flachen Zorn in sich aufsteigen. Er nahm die Kaffeetasse, schwenkte die Kaffeereste und spülte mit einem Schwung den Apfelgeschmack aus dem Mund. Dann stand er auf, stellte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor eines der Fenster und blickte kurz in den Garten.
Wenige Momente später wankte er zur Sitzecke und fläzte sich in die Designersessel, um ein kurzes Nickerchen zu machen.