Donnerstag, 22. Oktober 2009

Personenverzeichnis

Senffs Umfeld
Maxim Senff
Nicole Senff, seine Frau
Jakob Senff, ihr Sohn
Robert Plankenreiter, Maxims skrupelloses Mädchen für alles

Universität/Lehrgrabung
Prof. Albert Pickenpack, Doktorvater und Betreuer von Maxim
Hinnerk, Raubgräber, der bei der Lehrgrabung hilft
Krzysztof Wymek, Grabungstechniker der Lehrgrabung
Thomas Usselkötter, Redakteur der „Schaufel“, Maxims erster Kontakt zur Pressewelt

Das Amt
Frau Scheckow, Maxims Sekretärin
Dr. Schehlen, früherer Konkurrent Maxims
Matthias Spasst, Speichellecker
Dr. Stüht, Maxims Vorgänger
Vorstellungsgespräch Dr. Fabricius, Dr. Fries, Frau Attermann, Frau Jeckel, Herr Trudolf
Außerdem Herr Hobbler, Osiw Racled, Volkmar Keulenkotz

Die Ausgrabung
Grabungsleiter Arnold Eichhorn, Wieland Kellerman
Grabungstechniker Jonas Grönahög
Grabungsarbeiter Dolores Amiguél, Hans Gros, Klaus, Micha, Marion Peters (Orka), Dieter Räumer, Jan Retzlaff, Wernher Senger, Sylvia Widder (Zeichnerin)
Außerdem Stefan (Baggerfahrer), Jürgen Fornefett (Heimathirsch)

Die Politik
Gerd Pinscher, Maxims Kontakt zur Macht
Möller, Pinschers Assistent

Fantasiegestalt
Gisela Laichen

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Kapitel 16.2

Aufgrund seines Amtes war er natürlich längst unkündbar, aber um auf eine andere Stelle weggelobt zu werden, fehlten ihm die Verbindungen. Seine Funktion als Direktor stagnierte. Er ließ seinen Stellvertreter Plankenreiter mehr und mehr auch die repräsentativen Arbeiten übernehmen und wurde vollends tatenlos.
Von Bekannten erfuhr ich, dass Senff selbst in seinen lichteren Momenten nur noch durchs Amt irrgeisterte. Er bastelte scheinbar an irgendwelchen Projekten herum, die er niemals beendete, tat so, als arbeite er Altgrabungen auf, deren Bearbeitung er dem Ausgräber auf dessen Sterbebett versprochen haben wollte. Dazu fegte er durch die Gänge, störte jede Sitzung und Besprechung. Entdeckte er irgendwo ein Staubkörnchen, schoss er zur Abstellkammer, die eine Zeit lang Schehlens Arbeitsraum gewesen war, um einen Staubsauger herauszuholen. Dann saugte er wild fluchend das halbe Amt von den Akten- über die Kartenschränke bis zu den Zeichentischen steril. Doch in dem Maße, wie er den Staub im Amt verringerte, schwand auch sein dortiger Einfluss. Die genervten und teilweise verängstigten Angestellten gingen ihm aus dem Weg, soweit sie es vermochten, Anfragen richteten sie nur noch an Plankenreiter. Der fügte sich in seine Rolle, eigentlich kam ihm die Konstellation sogar entgegen. Wäre Senff aufgestiegen, hätte Robert niemals eine Chance gehabt, Amtsleiter zu werden. Ein Außenstehender, mindestens ein promovierter, besser ein habilitierter, von denen es ohnehin viel zu viele gab, hätte dessen Stelle übernommen. Auf diesem Wege aber konnte Robert das Amt leiten, ohne auf dem Papier die Qualifikation mitzubringen. Dabei muss ihm zugestanden werden, dass er in dem Maße, wie er früher stinkefaul gewesen war, nun in seine Position hineinwuchs und sie halbwegs angemessen ausfüllte.
Senff legte dagegen lediglich noch Wert darauf, auf Kongressen zu erscheinen. Dazu erschien er allen wie ein Irrer, der in regelmäßigen Abständen sein brüchiges Haar kämmte, das seinen Schädel nur noch karg bedeckte. War er Zuhörer einer Präsentation, erkannte er nicht einmal mehr, wann die Bilder an der Projektionswand scharf waren. Er hob dann immer einen Arm, formte mit der Hand ein C und versuchte durch drehende Bewegungen zu vermitteln, dass der Diaprojektor scharf zu stellen sei. Niemand reagierte jemals darauf.
Ich begegnete ihm zum letzten Mal eines Abends vor einem Vortrag in unserem alten Institut, da lief ich gerade an der Toilette vorbei. Er stand in der geöffneten Tür mit seinem roten Schal, mit dem er sich noch immer schmückte, und suchte gehetzt den Lichtschalter. Er fand ihn einfach nicht. Ich grüßte kurz, schaltete ihm das Licht ein, aber er erkannte mich nicht einmal mehr. Als er später nach mir zum Vortrag erschien, bedankte er sich bei mir vor dem Plenum lautstark dafür, dass ich ihm auf der Toilette geholfen hatte.
Ich setzte mich ins Plenum und dachte darüber nach, dass man keinen Moment darüber verlieren sollte, sich über ihn oder die heutige Zeit überhaupt zu wundern. Beides ist viel zu exzentrisch.

Ende

Dienstag, 20. Oktober 2009

Kapitel 16.1

Senff hatte auf unschöne Weise erkennen müssen, dass man fragwürdigen Menschen aus dem Weg gehen sollte. Nur so lässt es sich nämlich vermeiden, von solchen Personen in unkoschere Sachen hineingezogen zu werden. Das gilt sogar dann, wenn man selbst fragwürdig ist.
Senffs Karriere war dahin. Es war ihm nun nicht allein verwehrt, Kultusminister zu werden. Er war kaltgestellt, weil nun auch die E-Mail-Affäre bekannt wurde. Niemand konnte ihn mehr decken. Er hatte praktisch schon kein Privatleben mehr gehabt, da versank er schlagartig auch beruflich in eine Bedeutungslosigkeit, die er zuvor nicht gekannt hatte.
Jetzt saß er die meiste Zeit nur noch mit einem besonders leeren Blick in seinem Büro und fühlte sich, als säße er seit Jahren, seit Jahrzehnten in einem Wüstenbrunnen. Dort, so empfand er, lebte er verdurstend weiter. Der Brunnen war so tief, dass er die Sterne sehen konnte, auch tagsüber. Daher war um ihn und über ihn eigentlich nur noch Nacht. Ab und an erschien es ihm, als beuge sich jemand über den Brunnenrand, um zu ihm hinabzublicken. Spätestens wenn demjenigen aber klar wurde, dass im Brunnen kein Wasser mehr war, verließ er ihn wieder wortlos. Und so gingen alle und verließen ihn. Nach oben klettern konnte Maxim nicht, weil die Wände glatt und ohne jeden Halt waren. Ja, es fehlte ihm der Halt, er hatte nur den schweren, treibsandigen Boden unter seinen Füßen. Und der hatte keine Balken.

Samstag, 17. Oktober 2009

Kapitel 15.3

Pinscher hatte es weit getrieben, zu weit. Einmal mehr, aber vor allem einmal zu viel. Nach seinen früheren Verfehlungen hatte er sich eigentlich nichts mehr erlauben können. Dennoch hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, seine Wahlchancen durch kriminelle Methoden zu frisieren. Er wollte seinen politischen Gegner pünktlich zur Wahl lähmen. Dazu hatte er sich eine Kampagne ausarbeiten lassen, die kurz vor der Wahl zahlreiche Dreckskübel über seinen Gegner ausschütten sollte. Es war natürlich nicht einfach gewesen, an den zum allergrößten Teil erfundenen und in der Kürze der Zeit dennoch unwiderlegbaren Unrat zu gelangen. Dazu hatte Pinschers Wahlkampfteam selbst tief im Schmodder herumwaten und sich die eigenen Finger schmutzig machen müssen.
Erste Hinweise auf die Kampagne hatten die Presse erst an diesem Tage erreicht, das Kesseltreiben war entsprechend schnell abgelaufen. Wie eine Horde Wölfe hatten die Journalisten sofort Pinschers Schwäche erkannt. Noch innerhalb weniger Stunden hatten seine Mitwisser und Handlanger mehr und mehr Einzelheiten an die Oberfläche gelangen lassen.
Pinscher wusste, er konnte der Presse schon aufgrund seiner Vergangenheit nicht mehr entkommen. Außerdem hatte er ja tatsächlich versucht, was man ihm nun vorwarf. Im Gegenteil war zum Zeitpunkt seines Suizids sogar noch nicht einmal alles bekannt gewesen. Denn kaum hatte die Öffentlichkeit die wichtigsten Einzelheiten der Vorwürfe erfahren, da hatte sich der Skandalpolitiker bereits allein in sein Ferienhaus abgesetzt. Hier konnte er auf eine umfangreiche Ansammlung deutscher Weinbrände zurückgreifen, die er Jahr um Jahr von seinen Schwiegereltern geschenkt bekommen hatte und die niemand freiwillig trank. Pinscher taugte zwar seit seiner Jugend durchaus zum Zechen, seine Alkoholaffinität hatte sich jedoch stets auf Bier und Wein beschränkt. Als er nun in kürzester Zeit mehrere Flaschen Hochprozentiges geleert hatte, tanzte er schnell mit heruntergelassenen Hosen durch das Haus. Sein Danse Macabre endete in der prasselnden Dusche. Eine Flasche hielt er noch in der Hand. Das Bewusstsein und das Gleichgewicht verließ ihn in derselben Sekunde. Wie ein schwerer abgerissener Wohnzimmervorhang plumpste er auf die Kacheln. Er übergab sich noch einmal und krepierte daran.

Freitag, 9. Oktober 2009

Kapitel 15.2

Als das Essen beendet war, ging Maxim ins Wohnzimmer, um seinen geliebten „Oderschen Hermes“ zu lesen. Er fläzte sich in einen Sessel und schlug die Zeitung vor seinem Gesicht auf, so dass er von seiner Umgebung abgeschottet war. Nicole räumte das Geschirr in die Küche, Jakob war bereits nach oben gegangen, hatte aber die eindringliche Ermahnung von Nicole erhalten, keine laute Musik mehr zu hören. Maxim blätterte sich langsam durch die Zeitung, ihm war längst bewusst geworden, dass er sich spätestens jetzt, als Kandidat für das Kultusministeramt, mit den Inhalten der Tagespolitik zu beschäftigen hatte, obwohl sie ihn persönlich kaum interessierten. Nicole setzte sich auf die Couch neben seinen Sessel, da melodelte das Telefon. Senff blieb sitzen, blickte zu Nicole, die unversehens zum Gerät schritt und den Hörer in die Hand nahm.
„Senff ? – Ja. – Nein, noch nicht. – Doch, ja, er ist da, ich geb ihn dir.“
Sie war bleich geworden, noch bleicher, als sie es ohnehin schon war, und eierte schnellen Schrittes zu Maxim. Der legte die Zeitung zur Seite und stutzte. Mit großen Augen reichte sie ihm wortlos den Hörer und purzelte unrhythmisch über ihre eigenen Füße weiter zum Fernseher, den sie unverzüglich einschaltete. Senff beobachtete alles mit einem bösen Blick, wollte eigentlich nicht von der flüchtigen Lektüre der Zeitung abgehalten werden und erst recht nicht beim Telefonieren durch den Fernseher gestört werden – das wusste sie doch! Er stand auf, um sich vom Fernsehbild wegzudrehen.
Dass es sich um die Stimme von Pinschers persönlichen Assistenten handelte, erkannte Maxim beim ersten Wort, das er aus dem Telefon hörte, dafür hatte Möller oft genug zwischen beiden vermittelt. Als er erfuhr, was Möller ihm zu sagen hatte, wurde der Kultusminister in spe kreidebleich, noch bevor Nicole im Fernseher eine Nachrichtensendung fand. Möller hatte ihm den plötzlichen Tod des Ministerpräsidentenkandidaten mitgeteilt. Maxim schaute schnell zu den Fernsehbildern.
Scheinbare Scheuklappen schränkten Senffs Sinne schlagartig ein. Im Fernseher flackern Bildfetzen eines Halbnackten mit vollgekotztem Hemd. Maxim schien es, in einer Sackgasse mit wachsenden Wänden zu stehen. Ein gekacheltes Bad mit einem aufgedunsenen Körper am Boden in einer Lache Erbrochenem. Schnell korrigierte er sich selbst, nein, das ist keine Sackgasse mit wachsenden Wänden – es ist eher das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Entfernte Stichwörter und Silben schossen an seine Ohren. Von dem Wohnzimmer, in dem er sich gerade noch befunden hatte, erblickte er nur noch Schlaglichter. „Voll-trun-ken!“ Maxim versank, ohne jeden brauchbaren Halt. „Fär-giff-tung!“ Alles entglitt ihm in Sekundenbruchteilen. „Skann-daal!“ Er rutschte und stürzte. „ÄN-DE!“ Er fiel nach unten. Im Geiste griff er reflexartig um sich, aber in der Hauptsache fiel er in einen tiefen Brunnen. Und die spärlichen eingebildeten Griffe an den Wände waren so rutschig, dass er sich nicht halten konnte. Und er wurde auch von keinem Griff gehalten. Nicht mehr. Zuletzt blieb nur er. Er und sein schwarzes Loch. Er fiel und schlug ungebremst auf den Grund auf. Hier blieb er lange sitzen.
Maxim war zurück auf seinen Sessel gefallen. Den Telefonhörer hielt er noch an sein Ohr. Nicole stand zunächst still vor dem Fernseher, hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Nach dem ersten Schock drehte sie sich um und sah Maxim. Er starrte zum Fernseher.
„senff! senff! maxim!“ tönte Möller blass und dünn aus dem Hörer. Doch Maxim hörte ihn nicht, er sah durch den Fernseher hindurch.
Nicole sah einen Mann tief unten im Abgrund. In einem Abgrund, in den niemals wieder ein Sonnenstrahl hindringen würde. Sie nahm Maxim den Hörer ab, sprach kurz zu Möller und legte auf. Maxim blickte nicht nur durch den Fernseher, sondern sogar durch die Wand. Nicole ging zu ihm, stellte sich vor ihn, griff nach seinen Schultern, schüttelte ihn. Sie rief, sie schrie seinen Namen. Doch Maxim reagierte nicht. Er hatte schlagartig begriffen. Er erkannte nun, dass der Teufel seinen Schuldnern die Rechnung dann präsentiert, wenn es ihnen am wohlsten ist.

Donnerstag, 8. Oktober 2009

Kapitel 15.1

Ruhe lag über der Einfamilienhaussiedlung, als Senff mit seinem Kleinwagen vor das biedere, eigelbfarben verklinkerte Haus vorfuhr. Er ging zur Haustür, draußen war niemand zu sehen, lediglich zwei oder drei Autos von entfernten Nachbarn passierten Maxims Grundstück auf dem Heimweg. Mit klapperndem Schlüssel trapste er zur Haustür. Kaum hatte er sie geöffnet, polterte ihm schon von oben aus dem Zimmer seines Sohnes dumpfes Klopfgedröhne mit wechselndem Lautrauschen und zurückgepfiffenen Saiten entgegen. Er empfand die Töne, die erst seit wenigen Monaten durch das Haus strömten, einfach nur als unrhythmischen Lärm. Er hatte sich ohnehin nie etwas aus Musik gemacht. Alles klang ihm gleich. Als seine Mitschüler in den Welten Pink Floyds versanken und für die Zeit nach dem Abi den Plan erdachten, mit einer Stereoanlage zum Snæfellsnessjökull zu fahren, um dort die Atom Heart Mother Suite zu hören, war Maxim längst kein Teil mehr dieser Welt. Doch er suchte sich keineswegs musikalischen Ausgleich in der Klassik. Nein, obwohl das Thema unausgesprochen blieb, war Musik in seinem puritanischen Elternhaus grundsätzlich verpönt. Am liebsten hätte sein gestrenger Vater noch in der Kirche auf Orgel und Gesang verzichtet.
Maxim stolperte in der Garderobe über das schwarze Barett seines Sohnes, das der neuerdings trug. Er konnte nicht nachvollziehen, was das sollte. Genauso wenig, wie sich ihm die Musik erschloss, fehlte ihm auch jegliches Verständnis dafür, in einer Popkultur zu versinken. Den Drang dazu hatte er nie verspürt.
Maxim legte Tasche, Mantel und Sakko ab, da kam ihm schon Nicole entgegen.
„Da bist du ja, Knullefutz“, begrüßte sie ihn sanft erfreut. Ohne ihn zu sehr zu berühren, schnatzte sie einmal in der Nähe seiner Wange, „das Essen ist auch gleich fertig.“
Maxim machte nur ein müdes „Hm?“ und zog seine Schuhe aus.
Nicole ruderte schon wieder aus dem Flur, stellte sich an die Treppe und singsangte gegen den bollernden Klangflickenteppich: „Ja-haques!“ Von oben dröhnte nur ein erstickt gesprochener Schreigesang mit unklaren Worten zurück.
„JAQUES!“, rief Nicole nun laut und als das nichts half, bellte sie „JA-KOPP!“ die Stufen nach oben.
Maxim sah müde zu ihr herüber, schlüpfte in seine Pantoffeln, ging zu ihr und lief an ihr vorbei ins Esszimmer.
„Was gibt es denn?“, fragte er im Vorbeigehen.
Nicole drehte ihr Gesicht kurz zu ihm: „Ich habe Kotelett gemacht, mit Kartoffeln und Erbsen und Möhren.“
Maxim nickte stumm, als er das Gericht erfuhr.
Oben öffnete sich nun eine Tür, aus dem zerberstenden Taktgeprügel wurde lautes Kreischen. Dazwischen rief jemand: „Was gibt’s denn, Mama? Ich will Musik hören!“
„Das Essen ist fertig“, erwiderte Nicole, „komm jetzt runter!“
„Ich habe keinen Hunger!“
„Dann kommst du und setzt dich an den Tisch!“
An der Treppe entstand eine Pause, durch die gesägte Gitarrenriffs atonal über die Tonleiter sprangen. Dann wechselte unwillkürlich das Tempo und Nicole hörte nur noch unruhiges Gemurmel. Sie sah, dass Jakob in sein Zimmer zurückging und den Lärm beendete. Nicole drehte sich zufrieden um und ging in die Küche. Von dort aus bemerkte sie, dass Maxim schon am Tisch saß, er stützte die Ellbogen auf den Tisch und hatte die Hände übereinandergefaltet.
„Ist das Essen fertig oder kann ich vorher noch Zeitung lesen?“, fragte er.
„Nein, nein, das Essen ist schon fertig.“
Maxim war kaum in der Lage, die Kochgerüche wahrzunehmen, geschweige denn zu identifizieren. Er fragte: „Wo hast du die Zeitung denn liegen?“
„Im Wohnzimmer, mein Mauzibubu“, rief es aus der Küche, „aber du brauchst jetzt nicht mehr damit anzufangen. Das Essen ist fertig.“
Von der Treppe waren schwere, klumpig polternde Schritte zu hören.
„Jaques!“, rief Nicole, „Du sollst im Haus keine Schuhe tragen! Du machst die ganze Treppe kaputt!“
Jakob schwieg, mit einem bestimmten Schritt ging der hagere Teenager zu seinem Platz und setzte sich hin. Maxim schaute ihn an. Sein Sohn hatte sich in den letzten Monaten verändert, er hatte das zuvor kaum wahrgenommen. Maxim wurde bewusst, dass er in Zukunft noch viel weniger mitbekommen würde, wenn er erst einmal Kultusminister wäre.
Der Tisch war bereits gedeckt, Nicole trug einen großen Teller mit mehreren Koteletts ins Wohnzimmer.
„Ich will kein Fleisch“, sagte Jakob, „ich bin jetzt Vegetarier.“
Maxim schaute eisig zu seinem Sohn, er verstand ihn nicht. Nicole federte bereits wieder in die Küche zurück, um das Gemüse zu holen.
„Was sind das eigentlich für Marotten?“, fragte Maxim. Jakob wackelte mit seinem Kopf, um den Pony seiner schwarz gefärbten Haare aufzuschütteln.
Maxim erblickte die vorher kaum sichtbaren Augen seines Sohnes, die mit schwarzem Kajal umzingelt waren. Auf dem bleichen Gesicht hoben sie sich besonders kräftig ab.
„Bist du etwa geschminkt?“, fragte Maxim, aber Jakob schwieg. Er verschränkte die Arme und zog die Ärmel seines lila-schwarz geringelten Sweatshirts mit den Fingern weit über die Handgelenke. Nicole kam ins Esszimmer, stellte die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse ab und setzte sich. Von ihrem Platz gegenüber von Maxim nahm sie dessen Teller in die Hand und füllte ihn auf.
„Dein Sohn ist geschminkt“, sagte Maxim. Nicole schaute leicht nervös, sagte aber nichts. Sie stellte den Teller vor Maxim und bat Jakob mit einer ladenden Handbewegung, ihr seinen anzureichen.
Jakob reichte ihr seinen Teller an und sagte: „Aber nur Kartoffeln und Gemüse.“ Dabei rutschte das Sweatshirt ein wenig auf den Unterarm zurück. Oberflächliche Kratznarben stachen bei dieser hastigen Bewegung hervor, Maxim bemerkte sie nicht. Er begann damit, sein Kotelett zu zerschneiden und wollte lieber wissen: „Was ist das eigentlich für ein Lärm, den du da jetzt immer hörst?“
Jakob schwieg. Nicole stellte ihm seinen Teller hin und füllte sich selbst auf.
„Und was soll das für eine Frisur sein?“, fragte Maxim dann.
„Das trägt man jetzt so“, erklärte der Sohn.
Nicole versuchte Harmonie zu erzeugen und stand ihm endlich bei: „Es sieht zumindest gepflegt aus.“
Maxim gefiel es trotzdem nicht. Diese herausrasierten Zacken hinten und der Pony, der fast bis auf die herausstechenden Wangenknochen reichte, das gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber Maxim wusste nicht, wie er sich dazu verhalten sollte. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt darauf reagieren sollte. Schließlich wäre er doch bald sowieso kaum noch zu Hause.