Mittwoch, 8. Juli 2009

Kapitel 13.4

Senff kannte Schehlen natürlich. Er erinnerte sich sehr gut an ihn. An diesen Stellvertreter von Dr. Stüht. Senff wusste, dass Schehlen ursprünglich als Wunschkandidat seines Vorgängers galt. Warum der die Stelle nicht angenommen hatte, war ihm hingegen nicht klar. Erst durch dessen Verzicht war es für den Außenstehenden Maxim überhaupt möglich gewesen, auf diese Position zu gelangen.
Schehlen war für Senff von Anbeginn ein Problem. Er mochte den schlaksigen Mann mit seinem leicht krausen Haar und dem freundlichen Umgangston überhaupt nicht. Schehlen war zu jedem freundlich, ließ weder seine Bildung noch seine Fähigkeiten weiter heraushängen, als es unbedingt notwendig war. Er war ein Vertreter flacher Hierarchien, der gut mit seinen Mitarbeitern umging, wie jeder bestätigte.
Ein derartiges Verhalten konnte Senff gar nicht verstehen. Schehlen war ihm daher grundsätzlich zuwider. Außerdem wusste er die Haltung nicht einzuschätzen, dass Schehlen die Leitung abgelehnt hatte. Daher wurde das Vergraulen des Stellvertreters eine von Senffs ersten Amtshandlungen. Zumal er die grundsätzliche Notwendigkeit sah, Plankenreiter auf ein gut dotiertes Pöstchen zu erheben.
Robert hatte nach einem wiederholt sehr schlechten Abschneiden bei den Weltmeisterschaften im Drachenflug mittlerweile nicht allein dieses ungewöhnliche Hobby aufgegeben, sondern auch einsehen müssen, dass aus seiner Promotion nichts mehr werden würde. Daher hing er das Stipendium an den Nagel, doch leider wollte die Stiftung, die ihn bislang finanziert hatte, entweder irgendwelche Ergebnisse sehen oder ihr Geld zurück. Nach einer kurzen Phase bei einer Bank, während der er Überweisungsträger abzutippen hatte, war es endlich so weit, dass Senff ihn in das neue Amt nachholen konnte.
Zunächst hatte sein alter Freund Maxim ihm lediglich eine halbe Stelle vermitteln können, die nur wenig ausbaufähig war. Aber es war von vornherein ausgemacht, dass Schehlen von dieser Position aus sturmreif geschossen werden sollte, um Robert die Stellvertretung zuzuschustern.
So groß der Plan angesichts des gewünschten Ergebnisses auch war, hatten doch weder Maxim noch Robert die Details von Beginn an festgelegt, sie entwickelten sich im Laufe der Zeit. Senff war dabei selbstverständlich der Kopf hinter der Nummer, Robert allein wäre dazu viel zu dumm gewesen. Im Gegensatz zu ihm war der Direktor sogar schlau genug gewesen, ausgerechnet die wirklich bösen Sachen von dem dödeligen Robert machen zu lassen.
Schehlen war als Stellvertreter zuvor zuständig gewesen für den Wagenpark des Amtes, er betreute als oberster praktischer Denkmalpfleger die meisten Außeneinsätze, leitete das Fundstellenarchiv und koordinierte die dabei anfallenden Arbeiten.
Hierhin sah Senff die Angriffspunkte. Schehlen sollte systematisch aus diesen Bereichen herausgedrängt und lächerlich gemacht werden. Sehr früh entzog Senff ihm den Wagenpark. Die Kontrolle über die Dienstwagen übernahm er selbst, niemand konnte mehr einen Dienstwagen nehmen, ohne dies persönlich beim Chef abgesegnet zu bekommen. Dafür ließ Senff sogar seine notorische Faulheit so weit hinter sich, dass er sonntags noch gerne herumtelefonierte.
Mit diesem Coup traf er Schehlen gleich doppelt. Denn nun hatte der nicht nur ein Arbeitsfeld weniger, sondern musste für seine Fahrten beim Chef selbstpersönlich einen Wagen beantragen. Natürlich bekam er stets die letzte Krücke.
„Ausgerechnet heute“, sagte Senff dann immer, „ist nur der Passat verfügbar.“
Schehlen machte dann ein langes Gesicht, denn er wusste, was das bedeutete. Bei mindestens jeder dritten Fahrt blieb er mit dem ältesten Wagen des Amtes liegen, was natürlich besonders an Freitagnachmittagen regelmäßig zu unschönen Situationen für Schehlens Familie führte. Kam der Stellvertreter dann zu Terminen zu spät, hagelte es selbstverständlich im Nachhinein Kritik vom neuen Direktor.
Diese Kritik, die auch andere Punkte in Schehlens Amtsführung betraf, war eigentlich die einzige Situation, in der Senff in eigener Person seine Finger oder genauer gesagt seine Zunge schmutzig machte. Eigentlich hatte Senff für die Dienstbesprechung den offiziellen Termin am Montagvormittag übernommen. Jedoch änderte er diesen Termin wiederholt frei nach Gusto kurzfristig und sorgte aktiv dafür, dass Schehlen von der Terminänderung nichts erfuhr. Anderen Mitarbeitern war es strikt verboten, den Stellvertreter davon in Kenntnis zu setzen. So wurde es nach wenigen Wochen Usus, dass Schehlen als einziger Angestellter zusätzlich zu den, beziehungsweise anstelle der Dienstbesprechungen, die er ja zwangsläufig meist versäumte, auch Donnerstags in Senffs Büro zitiert wurde, um über geleistete Arbeiten zu rapportieren. Der Ton war ab dem ersten Gespräch mindestens eisig, oft sogar ungehalten. Dann bellte Senff den harmlosen Schehlen an, warf ihm vor, schlecht zu arbeiten oder bedrohte ihn zuweilen mit dienstrechtlichen Maßnahmen, gegen die der sich einfach nicht zu wehren wusste. Der zurechtgestutzte Mann wusste ja nicht einmal, was das alles sollte, er erkannte nicht, worauf das alles hinauslaufen sollte. Wenn er sich zu äußern versuchte, wurde er sogleich von Senff in einem heiseren Feldherrnton unterbrochen, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Was hier gespielt wurde, begriff der Noch-Stellvertreter nicht. Dazu war seine Weltsicht einfach zu freundschaftlich geprägt. Er verstand einfach nicht, dass und wie er hätte handeln müssen.
Außerhalb von Senffs Büro vermied es der neue Direktor, Schehlen direkt anzuschauen. Auffällig verächtlich verdrehte Senff immer die Augen, wenn die zwei nicht allein waren. Regelmäßig putzte er ihn mit fadenscheinigen Argumenten vor anderen Angestellten des Amtes herunter. Eigentlich waren diese Situationen sogar die einzigen Momente, in denen Senff überhaupt mit Schehlen sprach.
Ein paar Monate nach dem Übernahme der Amtsleitung durch Senff ergab sich durch die Pensionierung eines verdienten Grabungstechnikers die Möglichkeit, die Zimmerverteilung im Amt nachhaltig zu korrigieren. Schehlen, der bis dahin neben Senff residiert hatte, wurde nun in ein kleines schimmeliges Kämmerchen neben den Toiletten versetzt, das dem Hausmeister zuvor als Abstellkammer gedient hatte. Genau genommen blieb es natürlich eine Abstellkammer, denn Schehlen wurden weitere Aufgaben entzogen und im Ausgleich dazu immer idiotischere Tätigkeiten übertragen.
Erst hatte er den Auftrag bekommen, die Ortsakten mit den Fundstellen zu digitalisieren, indem die Zettelwirtschaft aus 100 Jahren eingescannt werden sollte. Doch schnell fielen Senff hier und da Unregelmäßigkeiten in der Umsetzung auf, die ihm nicht gefielen, da musste Schehlen die Aufgabe Plankenreiter überlassen, der kurz zuvor in das Amt geraten war. Ab diesem Zeitpunkt war Robert in Senffs Büro stummer Zaungast während des Donnerstagsrapports.
Schehlen blieben nun faktisch kaum noch Aufgaben, er hatte aber in seiner Position auch keine Möglichkeiten, sich selbst neue Felder zu erschließen. Ab und zu erhielt er noch simpelste Arbeiten, an denen nur er allein werken konnte. Mal sollte er für die eine Etage eine Vitrine füllen, mal galt es, eine Schautafel zusammenzustellen. Darüber hinaus hatte er jedoch kaum mehr die Mittel, Kontakt mit anderen Mitarbeitern zu halten. Dafür durfte er mehr und mehr Plankenreiter zuarbeiten. Dies geschah natürlich vornehmlich, um Robert einzuarbeiten, der bereits auf den Sprung für die Stellvertreterstelle war.
Genau zu dieser Zeit begann der Angriff vom zweiten Flügel. Robert war für die Drecksarbeit zuständig. Er streute Gerüchte bei den Angestellten, dass Schehlen psychisch krank sei, sich aber weigere, sich in Behandlung zu begeben. Vorsichtig verbreitete er Klatsch, Schehlen tränke gerne mal einen über den Durst und sei deswegen zurückgestuft worden. Überhaupt wurde der Noch-Stellvertreter systematisch lächerlich gemacht und ein Opfer übler Nachrede.
Irgendwann wurde es dann zu viel. Schehlen wurde tatsächlich krank. Das Geringste, was sich bei ihm zeigte, war noch ein starkes Unwohlsein bezüglich aller Dinge, die mit dem Amt in Verbindung standen. Er klinkte sich aus der Archäologie aus, er floh vor den den letzten sozialen Bindungen zu anderen Denkmalpflegern. Er verließ so unbewusst den Kreis, der ihm den letzten Schutz geben konnte. Stattdessen trat er in einen Teufelskreis aus weiteren Erniedrigungen und stärker werdenden psychischen Verletzungen, denen er immer weniger entgegenzusetzen hatte. Den Kampf im Amt hatte er längst verloren. Bald änderte er seine Anstellung in eine Teilzeitstelle und schlussendlich ließ er sich sogar noch aus dieser Stelle drängen, einfach um diesem täglichen Terror zu entfliehen. Aber nicht einmal dieser Schritt konnte jetzt noch verhindern, dass er sich in professionelle Behandlung begeben musste. Senff war es mit Hilfe Plankenreiters gelungen, aus der üblen Nachrede über Schehlens psychischer Erkrankung eine echte Krankheit zu machen.