Donnerstag, 22. Oktober 2009

Personenverzeichnis

Senffs Umfeld
Maxim Senff
Nicole Senff, seine Frau
Jakob Senff, ihr Sohn
Robert Plankenreiter, Maxims skrupelloses Mädchen für alles

Universität/Lehrgrabung
Prof. Albert Pickenpack, Doktorvater und Betreuer von Maxim
Hinnerk, Raubgräber, der bei der Lehrgrabung hilft
Krzysztof Wymek, Grabungstechniker der Lehrgrabung
Thomas Usselkötter, Redakteur der „Schaufel“, Maxims erster Kontakt zur Pressewelt

Das Amt
Frau Scheckow, Maxims Sekretärin
Dr. Schehlen, früherer Konkurrent Maxims
Matthias Spasst, Speichellecker
Dr. Stüht, Maxims Vorgänger
Vorstellungsgespräch Dr. Fabricius, Dr. Fries, Frau Attermann, Frau Jeckel, Herr Trudolf
Außerdem Herr Hobbler, Osiw Racled, Volkmar Keulenkotz

Die Ausgrabung
Grabungsleiter Arnold Eichhorn, Wieland Kellerman
Grabungstechniker Jonas Grönahög
Grabungsarbeiter Dolores Amiguél, Hans Gros, Klaus, Micha, Marion Peters (Orka), Dieter Räumer, Jan Retzlaff, Wernher Senger, Sylvia Widder (Zeichnerin)
Außerdem Stefan (Baggerfahrer), Jürgen Fornefett (Heimathirsch)

Die Politik
Gerd Pinscher, Maxims Kontakt zur Macht
Möller, Pinschers Assistent

Fantasiegestalt
Gisela Laichen

Mittwoch, 21. Oktober 2009

Kapitel 16.2

Aufgrund seines Amtes war er natürlich längst unkündbar, aber um auf eine andere Stelle weggelobt zu werden, fehlten ihm die Verbindungen. Seine Funktion als Direktor stagnierte. Er ließ seinen Stellvertreter Plankenreiter mehr und mehr auch die repräsentativen Arbeiten übernehmen und wurde vollends tatenlos.
Von Bekannten erfuhr ich, dass Senff selbst in seinen lichteren Momenten nur noch durchs Amt irrgeisterte. Er bastelte scheinbar an irgendwelchen Projekten herum, die er niemals beendete, tat so, als arbeite er Altgrabungen auf, deren Bearbeitung er dem Ausgräber auf dessen Sterbebett versprochen haben wollte. Dazu fegte er durch die Gänge, störte jede Sitzung und Besprechung. Entdeckte er irgendwo ein Staubkörnchen, schoss er zur Abstellkammer, die eine Zeit lang Schehlens Arbeitsraum gewesen war, um einen Staubsauger herauszuholen. Dann saugte er wild fluchend das halbe Amt von den Akten- über die Kartenschränke bis zu den Zeichentischen steril. Doch in dem Maße, wie er den Staub im Amt verringerte, schwand auch sein dortiger Einfluss. Die genervten und teilweise verängstigten Angestellten gingen ihm aus dem Weg, soweit sie es vermochten, Anfragen richteten sie nur noch an Plankenreiter. Der fügte sich in seine Rolle, eigentlich kam ihm die Konstellation sogar entgegen. Wäre Senff aufgestiegen, hätte Robert niemals eine Chance gehabt, Amtsleiter zu werden. Ein Außenstehender, mindestens ein promovierter, besser ein habilitierter, von denen es ohnehin viel zu viele gab, hätte dessen Stelle übernommen. Auf diesem Wege aber konnte Robert das Amt leiten, ohne auf dem Papier die Qualifikation mitzubringen. Dabei muss ihm zugestanden werden, dass er in dem Maße, wie er früher stinkefaul gewesen war, nun in seine Position hineinwuchs und sie halbwegs angemessen ausfüllte.
Senff legte dagegen lediglich noch Wert darauf, auf Kongressen zu erscheinen. Dazu erschien er allen wie ein Irrer, der in regelmäßigen Abständen sein brüchiges Haar kämmte, das seinen Schädel nur noch karg bedeckte. War er Zuhörer einer Präsentation, erkannte er nicht einmal mehr, wann die Bilder an der Projektionswand scharf waren. Er hob dann immer einen Arm, formte mit der Hand ein C und versuchte durch drehende Bewegungen zu vermitteln, dass der Diaprojektor scharf zu stellen sei. Niemand reagierte jemals darauf.
Ich begegnete ihm zum letzten Mal eines Abends vor einem Vortrag in unserem alten Institut, da lief ich gerade an der Toilette vorbei. Er stand in der geöffneten Tür mit seinem roten Schal, mit dem er sich noch immer schmückte, und suchte gehetzt den Lichtschalter. Er fand ihn einfach nicht. Ich grüßte kurz, schaltete ihm das Licht ein, aber er erkannte mich nicht einmal mehr. Als er später nach mir zum Vortrag erschien, bedankte er sich bei mir vor dem Plenum lautstark dafür, dass ich ihm auf der Toilette geholfen hatte.
Ich setzte mich ins Plenum und dachte darüber nach, dass man keinen Moment darüber verlieren sollte, sich über ihn oder die heutige Zeit überhaupt zu wundern. Beides ist viel zu exzentrisch.

Ende

Dienstag, 20. Oktober 2009

Kapitel 16.1

Senff hatte auf unschöne Weise erkennen müssen, dass man fragwürdigen Menschen aus dem Weg gehen sollte. Nur so lässt es sich nämlich vermeiden, von solchen Personen in unkoschere Sachen hineingezogen zu werden. Das gilt sogar dann, wenn man selbst fragwürdig ist.
Senffs Karriere war dahin. Es war ihm nun nicht allein verwehrt, Kultusminister zu werden. Er war kaltgestellt, weil nun auch die E-Mail-Affäre bekannt wurde. Niemand konnte ihn mehr decken. Er hatte praktisch schon kein Privatleben mehr gehabt, da versank er schlagartig auch beruflich in eine Bedeutungslosigkeit, die er zuvor nicht gekannt hatte.
Jetzt saß er die meiste Zeit nur noch mit einem besonders leeren Blick in seinem Büro und fühlte sich, als säße er seit Jahren, seit Jahrzehnten in einem Wüstenbrunnen. Dort, so empfand er, lebte er verdurstend weiter. Der Brunnen war so tief, dass er die Sterne sehen konnte, auch tagsüber. Daher war um ihn und über ihn eigentlich nur noch Nacht. Ab und an erschien es ihm, als beuge sich jemand über den Brunnenrand, um zu ihm hinabzublicken. Spätestens wenn demjenigen aber klar wurde, dass im Brunnen kein Wasser mehr war, verließ er ihn wieder wortlos. Und so gingen alle und verließen ihn. Nach oben klettern konnte Maxim nicht, weil die Wände glatt und ohne jeden Halt waren. Ja, es fehlte ihm der Halt, er hatte nur den schweren, treibsandigen Boden unter seinen Füßen. Und der hatte keine Balken.

Samstag, 17. Oktober 2009

Kapitel 15.3

Pinscher hatte es weit getrieben, zu weit. Einmal mehr, aber vor allem einmal zu viel. Nach seinen früheren Verfehlungen hatte er sich eigentlich nichts mehr erlauben können. Dennoch hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, seine Wahlchancen durch kriminelle Methoden zu frisieren. Er wollte seinen politischen Gegner pünktlich zur Wahl lähmen. Dazu hatte er sich eine Kampagne ausarbeiten lassen, die kurz vor der Wahl zahlreiche Dreckskübel über seinen Gegner ausschütten sollte. Es war natürlich nicht einfach gewesen, an den zum allergrößten Teil erfundenen und in der Kürze der Zeit dennoch unwiderlegbaren Unrat zu gelangen. Dazu hatte Pinschers Wahlkampfteam selbst tief im Schmodder herumwaten und sich die eigenen Finger schmutzig machen müssen.
Erste Hinweise auf die Kampagne hatten die Presse erst an diesem Tage erreicht, das Kesseltreiben war entsprechend schnell abgelaufen. Wie eine Horde Wölfe hatten die Journalisten sofort Pinschers Schwäche erkannt. Noch innerhalb weniger Stunden hatten seine Mitwisser und Handlanger mehr und mehr Einzelheiten an die Oberfläche gelangen lassen.
Pinscher wusste, er konnte der Presse schon aufgrund seiner Vergangenheit nicht mehr entkommen. Außerdem hatte er ja tatsächlich versucht, was man ihm nun vorwarf. Im Gegenteil war zum Zeitpunkt seines Suizids sogar noch nicht einmal alles bekannt gewesen. Denn kaum hatte die Öffentlichkeit die wichtigsten Einzelheiten der Vorwürfe erfahren, da hatte sich der Skandalpolitiker bereits allein in sein Ferienhaus abgesetzt. Hier konnte er auf eine umfangreiche Ansammlung deutscher Weinbrände zurückgreifen, die er Jahr um Jahr von seinen Schwiegereltern geschenkt bekommen hatte und die niemand freiwillig trank. Pinscher taugte zwar seit seiner Jugend durchaus zum Zechen, seine Alkoholaffinität hatte sich jedoch stets auf Bier und Wein beschränkt. Als er nun in kürzester Zeit mehrere Flaschen Hochprozentiges geleert hatte, tanzte er schnell mit heruntergelassenen Hosen durch das Haus. Sein Danse Macabre endete in der prasselnden Dusche. Eine Flasche hielt er noch in der Hand. Das Bewusstsein und das Gleichgewicht verließ ihn in derselben Sekunde. Wie ein schwerer abgerissener Wohnzimmervorhang plumpste er auf die Kacheln. Er übergab sich noch einmal und krepierte daran.

Freitag, 9. Oktober 2009

Kapitel 15.2

Als das Essen beendet war, ging Maxim ins Wohnzimmer, um seinen geliebten „Oderschen Hermes“ zu lesen. Er fläzte sich in einen Sessel und schlug die Zeitung vor seinem Gesicht auf, so dass er von seiner Umgebung abgeschottet war. Nicole räumte das Geschirr in die Küche, Jakob war bereits nach oben gegangen, hatte aber die eindringliche Ermahnung von Nicole erhalten, keine laute Musik mehr zu hören. Maxim blätterte sich langsam durch die Zeitung, ihm war längst bewusst geworden, dass er sich spätestens jetzt, als Kandidat für das Kultusministeramt, mit den Inhalten der Tagespolitik zu beschäftigen hatte, obwohl sie ihn persönlich kaum interessierten. Nicole setzte sich auf die Couch neben seinen Sessel, da melodelte das Telefon. Senff blieb sitzen, blickte zu Nicole, die unversehens zum Gerät schritt und den Hörer in die Hand nahm.
„Senff ? – Ja. – Nein, noch nicht. – Doch, ja, er ist da, ich geb ihn dir.“
Sie war bleich geworden, noch bleicher, als sie es ohnehin schon war, und eierte schnellen Schrittes zu Maxim. Der legte die Zeitung zur Seite und stutzte. Mit großen Augen reichte sie ihm wortlos den Hörer und purzelte unrhythmisch über ihre eigenen Füße weiter zum Fernseher, den sie unverzüglich einschaltete. Senff beobachtete alles mit einem bösen Blick, wollte eigentlich nicht von der flüchtigen Lektüre der Zeitung abgehalten werden und erst recht nicht beim Telefonieren durch den Fernseher gestört werden – das wusste sie doch! Er stand auf, um sich vom Fernsehbild wegzudrehen.
Dass es sich um die Stimme von Pinschers persönlichen Assistenten handelte, erkannte Maxim beim ersten Wort, das er aus dem Telefon hörte, dafür hatte Möller oft genug zwischen beiden vermittelt. Als er erfuhr, was Möller ihm zu sagen hatte, wurde der Kultusminister in spe kreidebleich, noch bevor Nicole im Fernseher eine Nachrichtensendung fand. Möller hatte ihm den plötzlichen Tod des Ministerpräsidentenkandidaten mitgeteilt. Maxim schaute schnell zu den Fernsehbildern.
Scheinbare Scheuklappen schränkten Senffs Sinne schlagartig ein. Im Fernseher flackern Bildfetzen eines Halbnackten mit vollgekotztem Hemd. Maxim schien es, in einer Sackgasse mit wachsenden Wänden zu stehen. Ein gekacheltes Bad mit einem aufgedunsenen Körper am Boden in einer Lache Erbrochenem. Schnell korrigierte er sich selbst, nein, das ist keine Sackgasse mit wachsenden Wänden – es ist eher das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Entfernte Stichwörter und Silben schossen an seine Ohren. Von dem Wohnzimmer, in dem er sich gerade noch befunden hatte, erblickte er nur noch Schlaglichter. „Voll-trun-ken!“ Maxim versank, ohne jeden brauchbaren Halt. „Fär-giff-tung!“ Alles entglitt ihm in Sekundenbruchteilen. „Skann-daal!“ Er rutschte und stürzte. „ÄN-DE!“ Er fiel nach unten. Im Geiste griff er reflexartig um sich, aber in der Hauptsache fiel er in einen tiefen Brunnen. Und die spärlichen eingebildeten Griffe an den Wände waren so rutschig, dass er sich nicht halten konnte. Und er wurde auch von keinem Griff gehalten. Nicht mehr. Zuletzt blieb nur er. Er und sein schwarzes Loch. Er fiel und schlug ungebremst auf den Grund auf. Hier blieb er lange sitzen.
Maxim war zurück auf seinen Sessel gefallen. Den Telefonhörer hielt er noch an sein Ohr. Nicole stand zunächst still vor dem Fernseher, hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Nach dem ersten Schock drehte sie sich um und sah Maxim. Er starrte zum Fernseher.
„senff! senff! maxim!“ tönte Möller blass und dünn aus dem Hörer. Doch Maxim hörte ihn nicht, er sah durch den Fernseher hindurch.
Nicole sah einen Mann tief unten im Abgrund. In einem Abgrund, in den niemals wieder ein Sonnenstrahl hindringen würde. Sie nahm Maxim den Hörer ab, sprach kurz zu Möller und legte auf. Maxim blickte nicht nur durch den Fernseher, sondern sogar durch die Wand. Nicole ging zu ihm, stellte sich vor ihn, griff nach seinen Schultern, schüttelte ihn. Sie rief, sie schrie seinen Namen. Doch Maxim reagierte nicht. Er hatte schlagartig begriffen. Er erkannte nun, dass der Teufel seinen Schuldnern die Rechnung dann präsentiert, wenn es ihnen am wohlsten ist.

Donnerstag, 8. Oktober 2009

Kapitel 15.1

Ruhe lag über der Einfamilienhaussiedlung, als Senff mit seinem Kleinwagen vor das biedere, eigelbfarben verklinkerte Haus vorfuhr. Er ging zur Haustür, draußen war niemand zu sehen, lediglich zwei oder drei Autos von entfernten Nachbarn passierten Maxims Grundstück auf dem Heimweg. Mit klapperndem Schlüssel trapste er zur Haustür. Kaum hatte er sie geöffnet, polterte ihm schon von oben aus dem Zimmer seines Sohnes dumpfes Klopfgedröhne mit wechselndem Lautrauschen und zurückgepfiffenen Saiten entgegen. Er empfand die Töne, die erst seit wenigen Monaten durch das Haus strömten, einfach nur als unrhythmischen Lärm. Er hatte sich ohnehin nie etwas aus Musik gemacht. Alles klang ihm gleich. Als seine Mitschüler in den Welten Pink Floyds versanken und für die Zeit nach dem Abi den Plan erdachten, mit einer Stereoanlage zum Snæfellsnessjökull zu fahren, um dort die Atom Heart Mother Suite zu hören, war Maxim längst kein Teil mehr dieser Welt. Doch er suchte sich keineswegs musikalischen Ausgleich in der Klassik. Nein, obwohl das Thema unausgesprochen blieb, war Musik in seinem puritanischen Elternhaus grundsätzlich verpönt. Am liebsten hätte sein gestrenger Vater noch in der Kirche auf Orgel und Gesang verzichtet.
Maxim stolperte in der Garderobe über das schwarze Barett seines Sohnes, das der neuerdings trug. Er konnte nicht nachvollziehen, was das sollte. Genauso wenig, wie sich ihm die Musik erschloss, fehlte ihm auch jegliches Verständnis dafür, in einer Popkultur zu versinken. Den Drang dazu hatte er nie verspürt.
Maxim legte Tasche, Mantel und Sakko ab, da kam ihm schon Nicole entgegen.
„Da bist du ja, Knullefutz“, begrüßte sie ihn sanft erfreut. Ohne ihn zu sehr zu berühren, schnatzte sie einmal in der Nähe seiner Wange, „das Essen ist auch gleich fertig.“
Maxim machte nur ein müdes „Hm?“ und zog seine Schuhe aus.
Nicole ruderte schon wieder aus dem Flur, stellte sich an die Treppe und singsangte gegen den bollernden Klangflickenteppich: „Ja-haques!“ Von oben dröhnte nur ein erstickt gesprochener Schreigesang mit unklaren Worten zurück.
„JAQUES!“, rief Nicole nun laut und als das nichts half, bellte sie „JA-KOPP!“ die Stufen nach oben.
Maxim sah müde zu ihr herüber, schlüpfte in seine Pantoffeln, ging zu ihr und lief an ihr vorbei ins Esszimmer.
„Was gibt es denn?“, fragte er im Vorbeigehen.
Nicole drehte ihr Gesicht kurz zu ihm: „Ich habe Kotelett gemacht, mit Kartoffeln und Erbsen und Möhren.“
Maxim nickte stumm, als er das Gericht erfuhr.
Oben öffnete sich nun eine Tür, aus dem zerberstenden Taktgeprügel wurde lautes Kreischen. Dazwischen rief jemand: „Was gibt’s denn, Mama? Ich will Musik hören!“
„Das Essen ist fertig“, erwiderte Nicole, „komm jetzt runter!“
„Ich habe keinen Hunger!“
„Dann kommst du und setzt dich an den Tisch!“
An der Treppe entstand eine Pause, durch die gesägte Gitarrenriffs atonal über die Tonleiter sprangen. Dann wechselte unwillkürlich das Tempo und Nicole hörte nur noch unruhiges Gemurmel. Sie sah, dass Jakob in sein Zimmer zurückging und den Lärm beendete. Nicole drehte sich zufrieden um und ging in die Küche. Von dort aus bemerkte sie, dass Maxim schon am Tisch saß, er stützte die Ellbogen auf den Tisch und hatte die Hände übereinandergefaltet.
„Ist das Essen fertig oder kann ich vorher noch Zeitung lesen?“, fragte er.
„Nein, nein, das Essen ist schon fertig.“
Maxim war kaum in der Lage, die Kochgerüche wahrzunehmen, geschweige denn zu identifizieren. Er fragte: „Wo hast du die Zeitung denn liegen?“
„Im Wohnzimmer, mein Mauzibubu“, rief es aus der Küche, „aber du brauchst jetzt nicht mehr damit anzufangen. Das Essen ist fertig.“
Von der Treppe waren schwere, klumpig polternde Schritte zu hören.
„Jaques!“, rief Nicole, „Du sollst im Haus keine Schuhe tragen! Du machst die ganze Treppe kaputt!“
Jakob schwieg, mit einem bestimmten Schritt ging der hagere Teenager zu seinem Platz und setzte sich hin. Maxim schaute ihn an. Sein Sohn hatte sich in den letzten Monaten verändert, er hatte das zuvor kaum wahrgenommen. Maxim wurde bewusst, dass er in Zukunft noch viel weniger mitbekommen würde, wenn er erst einmal Kultusminister wäre.
Der Tisch war bereits gedeckt, Nicole trug einen großen Teller mit mehreren Koteletts ins Wohnzimmer.
„Ich will kein Fleisch“, sagte Jakob, „ich bin jetzt Vegetarier.“
Maxim schaute eisig zu seinem Sohn, er verstand ihn nicht. Nicole federte bereits wieder in die Küche zurück, um das Gemüse zu holen.
„Was sind das eigentlich für Marotten?“, fragte Maxim. Jakob wackelte mit seinem Kopf, um den Pony seiner schwarz gefärbten Haare aufzuschütteln.
Maxim erblickte die vorher kaum sichtbaren Augen seines Sohnes, die mit schwarzem Kajal umzingelt waren. Auf dem bleichen Gesicht hoben sie sich besonders kräftig ab.
„Bist du etwa geschminkt?“, fragte Maxim, aber Jakob schwieg. Er verschränkte die Arme und zog die Ärmel seines lila-schwarz geringelten Sweatshirts mit den Fingern weit über die Handgelenke. Nicole kam ins Esszimmer, stellte die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse ab und setzte sich. Von ihrem Platz gegenüber von Maxim nahm sie dessen Teller in die Hand und füllte ihn auf.
„Dein Sohn ist geschminkt“, sagte Maxim. Nicole schaute leicht nervös, sagte aber nichts. Sie stellte den Teller vor Maxim und bat Jakob mit einer ladenden Handbewegung, ihr seinen anzureichen.
Jakob reichte ihr seinen Teller an und sagte: „Aber nur Kartoffeln und Gemüse.“ Dabei rutschte das Sweatshirt ein wenig auf den Unterarm zurück. Oberflächliche Kratznarben stachen bei dieser hastigen Bewegung hervor, Maxim bemerkte sie nicht. Er begann damit, sein Kotelett zu zerschneiden und wollte lieber wissen: „Was ist das eigentlich für ein Lärm, den du da jetzt immer hörst?“
Jakob schwieg. Nicole stellte ihm seinen Teller hin und füllte sich selbst auf.
„Und was soll das für eine Frisur sein?“, fragte Maxim dann.
„Das trägt man jetzt so“, erklärte der Sohn.
Nicole versuchte Harmonie zu erzeugen und stand ihm endlich bei: „Es sieht zumindest gepflegt aus.“
Maxim gefiel es trotzdem nicht. Diese herausrasierten Zacken hinten und der Pony, der fast bis auf die herausstechenden Wangenknochen reichte, das gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber Maxim wusste nicht, wie er sich dazu verhalten sollte. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt darauf reagieren sollte. Schließlich wäre er doch bald sowieso kaum noch zu Hause.

Mittwoch, 30. September 2009

Kapitel 14.5

Senff hatte die meisten der an ihn gerichteten E-Mails inzwischen gelesen, da entdeckte er ein Schreiben seines Doktorvaters, in dem der ihm zu dem bevorstehenden Aufstieg Glück wünschte. Das erinnerte Maxim an etwas. Er griff zum Telefon und ließ es vor seinem Büro bei der Scheckow klingeln.
„Herr Direktor?“, monoklang es überhöht aus dem Hörer.
„Sagen Sie, bis wann war eigentlich mein Grußwort für die Einleitung zu Professor Pickenpacks Festschrift fällig?“
„Ich sehe eben im Kalender nach“, beschied sie ihn, Maxim hörte das streichende Geräusch von Papier, das umgeschlagen wird.
„Wenn Sie den Termin gefunden haben, dann kommen Sie rein und sagen Sie ihn mir, ich brauche sowieso noch einen Kaffee“, sagte er leicht ungeduldig und legte auf. Er überflog noch die Zeilen der letzten E-Mail, da klopfte es zweimal und Frau Scheckow balancierte eine Tasse Kaffee in das Büro.
„Die Abgabe ist Ende des Monats, soll Herr Plankenreiter –“
„Nein, nein, das mache ich schon lieber selber“, lehnte Maxim ab. Er lehnte sich leicht zurück, ließ die Fingerspitzen beider Hände auf der Kante des Schreibtisches ruhen und sah zu, wie sie die Tasse mit einem klappernden Laut auf den Tisch stellte.
Die Sekretärin kehrte sich zur Tür und stelzte hinaus. Maxim sah ihr kurz hinterher. Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches, kramte einen Stapel Blätter heraus und begann sich ein paar Notizen über seinen Doktorvater und Förderer zu machen.
Aus dem Kopf schrieb er im Abstand von längeren Pausen ein paar Eckdaten auf die Papiere, dann kaute er nachdenklich auf dem Bleistift herum und begann wieder zu träumen. Er überlegte sich, wie es sein würde, wenn er nicht länger Direktor dieses Amtes ist und sich nicht mehr täglich mit den Niederungen der Denkmalpflege zu beschäftigen hatte. Er dachte an die Staatsekretäre, die ihm zuarbeiteten, er fantasierte sich große gesellschaftliche Änderungen zusammen, die schon bald von ihm durchgesetzt werden könnten. Hin und wieder fiel ihm etwas zu dem Grußwort ein, dann unterbrach er seine Gedanken, notierte ein Wort, fiel aber schnell wieder in den Zustand der Gedankenverlorenheit.
Erst spät wurde er von einem Klopfen unterbrochen, Frau Scheckow wollte sich verabschieden. Er tat so, als schriebe er an seinen Aufzeichnungen weiter. Sie blickte währenddessen auf die Tasse und sah, dass er den Kaffee noch nicht angerührt hatte. Mit leicht genervter Miene warf er ihr einen krächzenden Gruß zu, versank aber nach ihrem Verschwinden sofort wieder in seine Traumwelt.
Die nächste und letzte Störung war schließlich die Putzfrau, die zwar anklopfte, aber auch sofort mit ihrem Reinigungswagen in das Büro walzte. Sie grüßte gebrochen und störte sich nicht daran, dass Senff ein ungehaltenes Gesicht machte. Zielgerichtet marschierte sie auf den Mülleimer zu, zog die Tüte heraus, entsorgte sie in ihrem Wagen und stopfte eine neue, leere Tüte hinein. Senff beobachtete das, arbeitete nicht weiter, wollte aber seine Arbeit auch nicht abbrechen, solange sie noch im Büro war.
Erst als sie es verlassen hatte und er vom Gang ihr Klappern und Räumen vernahm, packte er seine Unterlagen zusammen und stopfte sie in seine Aktentasche. Verwundert entdeckte er den Kaffee, den er auszutrinken vergessen hatte, und war sich einen Moment lang unsicher, was er damit tun sollte. Schließlich entschied er, dass er am folgenden Tag keine Tasse mit kaltem Kaffee in seinem Büro stehen haben wollte, deshalb brachte er die Tasse mit spitzen Fingern hinaus in das Büro seiner Sekretärin. Dort stellte er das Porzellan auf ein kleines Regal, das mit dem restlichen Zubehör zur Kaffeezubereitung geschmückt war. Er ging wieder in sein Büro, kleidete sich mit Sakko, Schal und Mantel ein und nahm seine Aktentasche. Er kam an dem Büro des Wachmanns vorbei, verabschiedete sich überraschend freundlich bei dem Mann und verließ das Amt nahezu als Letzter. Knirschend trat er zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr nach Hause.

Freitag, 25. September 2009

Kapitel 14.4

Es klopfte. Senff stand noch immer am Fenster. Er drehte den Kopf zur Tür und rief „Herein!“ Frau Scheckow öffnete die Tür nur zu einem Drittel und lehnte sich mit einem Stapel Papiere herein.
„Ich habe hier die heutigen Ausdrucke Ihrer E-Mails, Herr Direktor.“
„Ah, ja“, machte Senff und richtete seinen ganzen Körper zur Tür aus, „legen Sie sie dahin.“ Er zeigte auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme. Erst als seine Sekretärin das Büro verlassen hatte, ging er wieder zu seinem Arbeitsplatz.
Ein erstaunlich kleiner Stapel heute, staunte er in Gedanken. Natürlich waren es nicht alle E-Mails, Spam und Belanglosigkeiten waren bereits von jemandem herausgefiltert.
Maxim setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und begann, die Ausdrucke zu lesen. Er genoss die Segnungen der modernen Technik. Er stand der Technik sehr aufgeschlossen gegenüber, für ihre Benutzung war er allerdings zu dämlich. Das von ihm geleitete Amt war zwar eines der ersten deutschen Denkmalpflegeämter, die mit Computern arbeiteten, darum hatte sich aber noch sein Vorgänger Dr. Stüht verdient gemacht. Senff nutzte die übernommene Technik zwar, bremste sie jedoch durch sein Unverständnis zugleich massiv aus. Erst seit einem Jahr war es den Mitarbeitern gestattet, die Rechner mit CD-ROM-Laufwerken auszurüsten. Zuvor schimpfte der geistige Ungelenk seinem Untergebenen Robert gegenüber stets auf die „Firusse und Dieler, die die Computer zerstören wollen!“
Symbolhaft für diesen Unverstand war sein Umgang mit der elektronischen Post. Wie sie funktionierte, begriff er überhaupt nicht. Wollte er sie lesen, ließ er sie sich von seiner Sekretärin ausdrucken. Galt es, eine Antwort zu versenden, ließ er sie von Frau Scheckow schreiben und schicken. Sein Arbeitsbeitrag bestand hauptsächlich darin, dass er die Ausdrucke eigenhändig in Aktenordner sortierte, die er im Büro verstaute.
Inzwischen las er nur noch die an ihn selbst gerichteten E-Mails. Bis vor kurzem ließ er sich dagegen auch die elektronische Korrespondenz seiner Angestellten ausdrucken. Angesichts der sonstigen Leistung, die Senff im Amt vollbrachte, hatte er schließlich genügend Zeit gehabt, sich anderen Dingen zuzuwenden. Schnell richtete sich da sein Augenmerk auf das, was seine Mitarbeiter so machten. Denn er war seiner Umwelt gegenüber in gleichem Maße misstrauisch, wie er davon überzeugt war, eine unerreichte Koryphäe zu sein.
Immerhin hatte er durch die Lektüre der Mails erstaunliche Details über das Leben und die Ansichten seiner Mitarbeiter erfahren: Personalrat Trudolf hetzte hin und wieder einzelne Mitarbeiter auf. Die Gleichstellungsbeauftragte Frau Attermann von der Kunstabteilung verschickte im Haus anzügliche Scherzmails. Spasst versuchte wiederholt, Mitarbeiter zur Teilnahme an seinem Bibelkreis zu überzeugen – meist erfolglos, wie Senff aus den Antworten erfuhr. Dr. Fabricius gab seinen Kollegen gegenüber damit an, welche Erfolge er im Kaninchenzüchterverein errang. Die füllige Frau Schlamers empfahl jede Woche aufs Neue Diätanleitungen, die sie an verschiedene Damen im Haus versandte. Herr Keulenkotz erwies sich als großes Schandmaul, der stets den neuesten Amtstratsch verteilte, dadurch Senff aber als Quelle für Schmutz umso wichtiger erschien. Dank Keulenkotz war er zumindest stets darüber im Bilde, wer denn gerade mit wem techtelmechtelte.
Natürlich war dieses Hinterherspionieren nicht nur unschön, es war sogar verboten. Als den Angestellten vor kurzem schwante, was an der Amtspitze ablief, ließen die Aufrechten unter ihnen daher nicht viel Zeit verstreichen, bis sie entsprechende dienstrechtliche Schritte einleiteten. Da war es dann besonders dumm, dass Senff die ausgedruckten E-Mails seiner Angestellten ausgerechnet in seinem Büro hortete. Aber zu diesem Zeitpunkt konnte Senff eben bereits auf seinen Kumpel Pinscher rechnen, der als Innenminister beste Kontakte zum Justizminister hatte. Schließlich sollten bald die Landtagswahlen stattfinden, für die Pinscher als Ministerpräsidentenkandidat aufgestellt war. Der Sozialdemokrat konnte also keine Skandale gebrauchen, zumal er eigene Süppchen am Kochen hatte. Er sah sich daher veranlasst, für Ordnung zu sorgen, noch bevor eine Zeitung eine „Water-Mail“-Affäre aus der Geschichte machen konnte. Senff fallen zu lassen, war zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls selbst für Pinscher unmöglich, das hätte dem Wahlerfolg nur geschadet. Aber die beiden waren ohnehin bereits zu eng befreundet, als dass Senff sich noch hätte Sorgen machen müssen. Es war jedoch unausweichlich, das Problem aus der Welt zu schaffen. Senff musste sein Treiben beenden und die gesammelten E-Mails herausrücken, während der mit Pinscher verbandelte Justizminister dafür sorgte, dass die Unterlagen bei der Staatsanwaltschaft unter dem Deckel gehalten wurden und belastendes Beweismaterial kurzfristig verschwand.

Donnerstag, 24. September 2009

Kapitel 14.3

Pinscher war im selben Jahr Innenminister geworden, als Senff die Amtsleitung von Stüht übernommen hatte. Zuvor hatte er eine stramme Parteikarriere gemacht, die lediglich durch ein – seiner Meinung nach nur kleines – Skandälchen überschattet war.
Mit 18 Jahren war Pinscher Mitglied bei den Jungsozialisten geworden. Auf diesem Spielplatz der großen Gedanken und kleinen Möglichkeiten erkannte er früh seine Chancen. Der übergeordnete Ortsverein war geistig ausgetrocknet und lag personell am Boden. Pinscher konnte sich dort ohne große Mühen alle Ämter angeln, die er haben wollte. Diese Ämter nutzte er als Sprungbrett für den Aufstieg vom Ortsverein und den Unterbezirk. Kaum hatte er das Geflecht der Strippen durchschaut, die sich hinter Kulissen der demokratischen Parteiarbeit befinden, da nahm er schon die ersten in die Hand, um sie zu seinen Gunsten zu ziehen.
Er begann, die schwächsten Mitglieder zu Stimmvieh zu erziehen, indem er die verrenteten GenossInnen in ihren Altersheimen und -ruhesitzen zu Kaffee und Kuchen besuchte. Das kostete ihn zwar Zeit, die er nicht seinem Physik- und Politikstudium widmen konnte, aber die Uni hatte ihn ohnehin nur so weit interessiert, um Freunde zu gewinnen, die einen Kastenwagen besaßen. Mit ebendiesem Kastenwagen karrte er das „überzeugte“ Stimmvieh zu den Hauptversammlungen und erreichte bald den Vorsitz seines Ortsvereins. Es kostete Pinscher zwar viele geschüttelte Hände und geputzte Klinken, aber seine Parteikarriere war letztlich unvermeidlich und raketengleich.
Dieser Aufstieg blieb den Parteigremien nicht verborgen. Schnell sprachen sich seine vorgeblichen Talente herum, die niemand persönlich erlebt hatte, die aber jeder von irgendeiner anderen zuverlässigen Person erfahren hatte. Es hätte nur wenig Aufmerksamkeit bedurft, um festzustellen, dass alle diese Gerüchte allein von einem Parteimitglied ausgingen, nämlich von Pinscher selbst. Zu der Zeit war diese Tücke jedoch bereits völlig belanglos. Pinscher, der zwar kein begnadeter Demagoge war, aber doch wenigstens ein mehr als mäßig guter Redner, ackerte sich über Parteitage und Delegiertenversammlungen, um einen ersten Karrierehöhepunkt zu erreichen. Er wurde Büroleiter eines Europaabgeordneten seiner Partei. Diese Arbeit erledigte Pinscher wenigstens professionell genug, um „seinen“ Abgeordneten bei der nächsten erfolgreichen Wahl beerben zu können.
Nun begann für Pinscher ein schönes Leben. Er reiste von Parlamentssitzungen in Straßburg zurück in seine Heimatstadt zu Parteitagen und von Showveranstaltungen irgendwelcher Landesparteidelegierten hin zu den Fraktionsitzungen in Brüssel. Zeitgleich wurde er von Entscheidungsträgern innerhalb der Parteigremien in die Aufsichtsräte mehrerer börsennotierter Unternehmen geschleust. Da er ein strammer Sozialdemokrat und Gewerksschaftsmitglied war, sah er sich in den Aufsichtsräten selbstverständlich als Anwalt des kleinen Mannes – zumindest offiziell.
In Wirklichkeit hatte er sich längst an die Leute gehängt, die in der Lage waren, ihm Vergünstigungen zu gewähren. Das sorgte bei anderen natürlich für Unmut. Als er eines Tages in seiner Funktion als Gewerkschafter zu Tarifverhandlungen mit einer Limousine zum Tagungsort angereist war, wurde er sogar von einer Betriebsrätin angefahren. Sie selbst war mit dem Trabi gekommen und attackierte ihn nun: „Wenn Sie das nächste Mal mit so einem Wagen zu den Tarifverhandlungen kommen, dann können Sie sich auf die andere Seite vom Tisch setzen!“
Pinscher ließ sich jedoch nicht beirren, er folgte seinem politischen Kompass und der wies ihn zum Aufstieg. Jahr über Jahr saß er seine „Arbeit“ ab, vergaß in diesem Stress aber ganz aus Versehen, die Jahresgage für seine Aufsichtsratspöstchen dem Finanzamt mitzuteilen. Doch dummerweise bekam das nicht nur das Finanzamt eines Tages spitz, sondern zuletzt sogar die Presse, dieser übellaunige Mob, wie Pinscher vor laufenden Kameras schimpfte. Es war nicht zu ändern, seine unschuldige Nachlässigkeit war an die Oberfläche der Öffentlichkeit gespült. Als dann auch noch bekannt wurde, dass er in großem Maßstab Reisekostenabrechnungen gefälscht hatte, ließ ihm die Partei keine andere Möglichkeit, als auf sein Mandat als Europa-Abgeordneter zu verzichten.
Pinscher fiel nach diesem Absturz sanft. Alte Parteifreunde betteten ihn auf einen geruhsamen Posten im Rat seiner Heimatstadt. So wie es sich eben in jeder Partei gehört. Der Saulus schien seine Lektion gelernt zu haben. Seine nach außen getragene Reue korrespondierte mit dem sichtbaren Fleiß, mit dem er sich langsam wieder nach oben kämpfte. Bald schon war er Fraktionsvorsitzender im Rat, wenig später Oberbürgermeister und kein Jahr darauf erfolgte der Ruf in die Landespolitik.
Das dritte Jahrtausend unserer Zeitrechnung stand vor der Tür und das sozialdemokratische Personal fluktuierte wie die Besucher eines Stundenhotels. Pinscher rutschte daher schnell wieder nach oben. Er gelangte auf einen Posten als Staatssekretär und übernahm nach einer kurzen Einarbeitungszeit das Amt des Europaministers. Doch bei der nächsten Landtagswahl wurden wieder Stellen frei und Pinscher wurde über die nächste Hürde auf den Weg nach oben getragen. Zumindest kann niemand behaupten, dass sich der Mann aus persönlicher Eignung heraus als Innenminister angedient hatte. Nein, die Partei benötigte jemanden zur Leitung des Innenministeriums und Pinscher war verfügbar. Das hatte zu reichen.
Zu der Zeit, als Pinscher und Senff frisch gebacken ihren Ämtern vorstanden, lernten sich die beiden auf kulturellen Stehempfängen kennen. Trotz der Senff immanenten Machtgeilheit und seinem Drang, andere zu unterdrücken, hatte er früher nie Interesse an Parteiarbeit und Politik gezeigt. Ihm erschloss sich einfach nicht der Reiz dieser Beschäftigung. Womöglich lag es aber auch daran, dass ihm von klein auf von seinem Vater vermittelt worden war, dass es seit dem Ende des Zentrums keine wählbare Partei mehr in Deutschland gab.
Ähnlich groß wie sein Streben nach Einfluss war aber die Skrupellosigkeit des Popenbengels. Wenn er erkannte, dass ihm jemand nützen würde, dann ließ er sich mit demjenigen ein.
Als er erkannte, dass er noch über die Leitung des Denkmalpflegeamtes hinaus aufzusteigen vermochte, begeisterte er sich für die Möglichkeit, in die Politik zu gehen. Pinscher bot sich schnell als Steigbügelhalter an, weil er seinerseits der Kultur gegenüber ein für seine Partei ungewöhnlich offenes Verhältnis besaß. Er besaß ein großes Interesse an den künstlerischen Äußerungen der Menschen, aber das war natürlich auch Göring zu eigen gewesen.
In dem Moment, in dem Pinscher nun zu dem Sprung ansetzte, der ihm die höchsten Weihen im Bundesland verschaffen sollte, war es daher unvermeidlich, dass sich die beiden aneinanderketteten. Erst beschnupperten sie sich auf den Empfängen, um sich einzuschätzen. Dann freundeten sie sich langsam an, und verschwanden schon bald nach musikalischen Hochgenüssen in den nächstgelegenen Ratskeller, um da herumzupoltern und bei Bier und Wein gemeinsame Pläne zur Erneuerung des Kulturwesens zu schmieden.

Sonntag, 20. September 2009

Kapitel 14.2

Senff stapfte zur Treppe und marschierte nach oben. Vor seinem Büro wurde er von seiner Sekretärin erwartet.
„Ach, Herr Direktor, ist das Gespräch bereits zu Ende?“
Senff nickte nur kurz.
„Der Herr Spasst war eben hier, er benötigt einen Dienstwagen, um die Funde ins Magazin zu fahren.“
„Jaja, er kann einen Quattro haben“, winkte Senff ab, „Sie können ihm die Schlüssel ruhig geben.“
Dann ging er in sein Büro, legte die Mappe ins entsprechende Fach, zog das Jackett aus und hängte es wieder in den Schrank. Er stellte sich vor eines der Fenster und stützte sich mit beiden Armen auf die Fensterbank. Mit einem leeren Blick stierte er auf den Parkplatz des Amtes, wo die drei Quattros standen.
Er mochte diese Wagen, sie waren nur auf seinen besonderen Wunsch angeschafft worden. Natürlich ist einzuräumen, dass es von Zeit zu Zeit unvermeidlich ist, Dienstwagen zu erneuern und auszutauschen. Maxim sah hierin aber die Möglichkeit, sich auf Kosten anderer einen seiner Ansicht nach angemessenen fahrbaren Untersatz zu verschaffen. Aus persönlichen Geiz heraus leistete er sich kein anderes Fahrzeug als seinen alten blauen Kleinwagen. Das Amt konnte ihn jedoch mit einem Wagen versorgen, der einem Amtsleiter gebührend war. In Senffs Augen war dies ein Audi Quattro. Selbstverständlich schaffte er für das Amt gleich mehrere an, das machte es schließlich günstiger.
Dummerweise ließ es sich jedoch nicht einrichten, dass Senff allein über diese Wagen verfügen durfte. Sie mussten zwangsläufig auch für echte Diensttouren verwendet werden, das ließ sich nicht einmal von Senff vermeiden. Hier zeigten sich aber die Tücken der Technik, denn das Modell ist nur wenig dazu geeignet, Geräte oder Funde zu transportieren. Den Kenner überrascht es kaum, ist es für solche Zwecke schließlich nicht konstruiert. Aber solche Lappalien waren Senff egal. Er hatte nun endlich die Möglichkeit, auf anderer Leuts Kosten halbwegs angemessen auf Kongressen zu erscheinen. Ihn ärgerte es fast schon mehr, dass der ihm zur Verfügung stehende finanzielle Rahmen keinen Maybach mit Fahrer erlaubte.
Das würde sich natürlich geringfügig bessern, wenn sich seine Zukunftsplanung erfüllen sollte und er demnächst zum Kultusminister aufstiege. Dies stellte ihm jedenfalls der Politiker Gert Pinscher in Aussicht, den er ziemlich genau zu der Zeit näher kennengelernt hatte, als er für das Amt die neuen Wagen angeschafft hatte. Deshalb verband Senff die Wagen in seiner Erinnerung auch stets mit diesem Ausnahmepolitiker.

Donnerstag, 27. August 2009

Kapitel 14.1

Maxim wurde erst von der leiernden Melodie der Amtstelefonanlage geweckt. Er öffnete die verkniffenden Augen und brauchte eine Sekunde, um sich zurechtzufinden. Dann lehnte er sich vor und stand gesetzt auf.
Warum geht die Scheckow nicht an das Telefon? fragte er sich und blickte auf die Uhr, nachdem er sie wieder aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Es war bereits halb zwei, er war etwas verwundert, so lange geschlafen zu haben, nein, er hatte sich ja nur einen Moment entspannt, verbesserte er sich selbst.
Maxim ging hinter seinen Schreibtisch, setzte sich auf seinen Stuhl, lehnte sich wichtig vor und nahm den Hörer ab.
„Landesamt für Denkmalpflege, Doktor Senff am Apparat?“
„Herr Direktor?“, fragte seine Sekretärin, „Hier ist ein Herr vom Fernsehen, der möchte Sie diese Woche noch interviewen. Es geht um dieses Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg und um das Kultusministerium.“
Senff wurde geschmeidig, das interessierte ihn und schmeichelte ihm zugleich.
„Ja, machen Sie ruhig einen Termin mit ihm aus“, lächelte er zahm.
Die Sekretärin wies ihn freundlich darauf hin: „Ihr Terminkalender ist diese Woche aber voll, dann müssten Sie einen Termin absagen.“
„Jaja, kein Problem. Die Woche ist doch der Termin mit dem Dingsbums, na, wie heißt er gleich, der mit seinen Studenten für eine Führung durchs Amt vorbeikommen wollte. Das soll Robert oder sonstwer machen“, wimmelte Senff harsch ab.
„Dann werde ich das ändern, Herr Direktor.“
Senff legte auf. Er drehte sich in seinem Stuhl, dass er nach draußen blicken konnte, dazu hielt er sich seine Hände so vor die Brust, dass die gespreizten Finger sich gegen ihr jeweiliges Pendant stützten. Er überlegte eine Weile und dachte befriedigt an den Fernsehauftritt. Nach einem Moment stand er auf, ihm wurde bewusst, dass das Bewerbungsgespräch bald beginnen würde.
Er ging zu dem Schrank, öffnete ihn, angelte den Kleiderbügel mit dem Sakko heraus und zog es an. Dann ging er vor der Schranktür leicht in die Knie, um sich in dem auf der Innenseite der Tür angebrachten Spiegel noch einmal zu begutachten. Er kräuselte die Stirn, zog erneut den Kamm aus der Tasche und ordnete seine durch das Nickerchen ziemlich derangierten Haare. Ein paar einzelne Ausreißer ließen sich von dem Kamm nicht beeindrucken, Maxim musste sie mit etwas Speichel richten. Dann zerrte er sanft seine Fliege richtig und bemerkte neue Kaffeeflecken. Seine Lippen verzogen sich angewidert und er versuchte erfolglos, die Flecken zu verreiben, die längst tief eingewirkt waren. Maxim ärgerte sich. Mit zornigen Augen schloss er den Schrank wieder, ging zu einem Regal, dem er eine dünne Mappe mit den Unterlagen für das Bewerbungsgespräch entnahm und verließ sein Büro. Das Gespräch fand in einem Konferenzraum im Erdgeschoss statt. Senff winkte verkürzt und glitt an seiner Sekretärin vorbei. Dann schlich er die Treppe nach unten.
Vor dem Konferenzraum saß im Flur bereits der Kandidat. Er versuchte zwar entspannt zu wirken, aber Senff konnte die Angst spüren. Zu dem stummen Gruß, den der Direktor ihm gewährte, lächelte Maxim nicht, sondern er grinste. Jetzt wurde auch sein Schritt federnd und er ging in den Raum.
Im Inquisitionszimmer waren bereits die meisten anderen Teilnehmer da. Frau Attermann, die Gleichstellungsbeauftragte, unterhielt sich mit der Sekretärin aus der Personalabteilung, mit Frau Jeckel. Sie war für den Papierkram zuständig, hatte also nichts zu sagen, musste aber die Arbeit leisten. Vom Baudenkmal war noch Dr. Fabricius da, Senff visierte kurz durch den Raum und ging dann zu Fabricius, um mit ihm gedrungen zu reden.
Frau Jeckel hatte den Tisch für das Gespräch bereits gedeckt. Zumindest für die Mitglieder des Bewerbungsausschusses, der Bewerber bekam keinerlei Getränke. Senff schaute auf die Uhr, es war fünf Minuten vor zwei, Trudolf und Robert fehlten noch. Da öffnete sich die Tür und Herr Trudolf trat gehetzt ein.
„Entschuldigen Sie, Herr Direktor“, versuchte er jedem Protest entgegenzukommen, doch Senff ranzte ihn an: „Haben Sie mal auf die Uhr geschaut? Das ist ja wohl unmöglich!“ Mit Absicht sprach er so laut, dass der Kandidat draußen es hören musste. Robert fehlte noch immer.
Frau Attermann traute sich, auf dessen Fehlen hinzuweisen. Als Gleichstellungsbeauftragte fühlte sie sich dem Direktor gegenüber besonders mutig: „Tja, fehlt ja nur noch der Herr Plankenreiter – sollen wir den Herrn Fries schon mal reinbitten?“
Da öffnete sich die Tür und Robert schlenkerte herein, mit Herrn Fries im Schlepptau.
„Dann kommen sie gleich mal mit rein“, sagte er, und alle schauten zu den beiden.
Dr. Rüdiger Fries trug einen unförmigen Anzug von C&A, der sich um seinen ausgehungerten Körper schlang wie ein ausgewachsene Pferdedecke um ein Shetlandpony. Die Spannung, unter der er stand, war kaum übersehbar. Er wurde von Robert mehr in das Zimmer gezerrt.
Trudolf blickte zur Tür, zu dem Nachzügler und den Bewerber, er schaute dann leicht grimmig zu Senff in der Erwartung, dass Robert einen ähnlichen Einlauf bekäme wie er selbst. Natürlich ersparte Senff sich diese Aufführung. Niemals hätte er seinen Liebling vor der Amtsöffentlichkeit heruntergeputzt. Dabei war er tatsächlich sauer, zum zweiten Mal schon an diesem Tag hatte Robert ihn völlig unnötig im reibungslosen Ablauf seines Tages gestört.
„Ja gut“, sagte er, „dann setzen Sie sich mal da hin“, und wies auf einen Platz, der seinem und Roberts Platz gegenüber lag. Die anderen Teilnehmer dieser Farce waren dagegen in eine weiter entfernte Umlaufbahn um den Konferenztisch gesetzt. Neben Robert saß Frau Jeckel, um ohne größere Schwierigkeiten den Kaffee der Teilnehmer nachschenken konnte. Es folgte Frau Attermann, Herr Trudolf und zuäußerst Dr. Fabricius, der von dem Frage-Antwort-Spiel fast nichts mitbekommen konnte, weil die Akustik in dem Raum viel zu schlecht war. Jeder hatte einen Block oder wenigstens einen flachen Stapel Papier vor sich liegen und hielt in einer Hand einen Kugelschreiber.
Doktor Fries nahm schweigend den Platz ein, den Robert ihm mit einer wortlosen Handbewegung zugewiesen hatte. Als Fries sich gesetzt hatte, fiel Frau Attermann erst auf, wie schlecht der Anzug tatsächlich saß. Sie verdrehte ihre stark umschminkten Augen und schaute leicht genervt nach außen.
Senff übernahm das Wort: „So, dann stelle ich die Runde mal kurz vor. Sie sind also der Herr Rüdiger Fries“, er schielte kurz auf seine Unterlagen, „Herr Doktor Fries“, lächelte er dann, „so viel Zeit muss sein!“
Doktor Fries grinste nervös.
„Mein Name ist Senff, sie kennen sicherlich meine Arbeiten“, Fries nickte, „hier neben mir sitzt der Herr Plankenreiter“, Maxim wies mit der flachen Hand auf die einzelnen Personen, „dann kommt Frau Jeckel, die Ihnen nachher noch etwas zu den allgemeinen Abläufen sagen wird.“ Frau Jeckel nickte grüßend und flüsterte einen unausgesprochenen Gruß, Senff machte längst weiter mit der Vorstellung: „Daneben ist Frau Attermann, die Gleichstellungsbeauftragte, dann der Herr Trudolf vom Personalrat und zuletzt Herr Doktor Fabricius von der Abteilung Baudenkmal.“ Die anderen rührten sich nicht einmal zu einer Geste.
Fries lenkte seinen Blick zurück auf Senff. Der grinste süffisant, als läge ein saftiges Steak vor ihm.
„So, Herr Doktor Fries, wir haben heute für Sie dreizehn Fragen vorbereitet, die wir gerne von Ihnen beantwortet hätten. Fangen wir am besten mit einer Frage an, mit deren Beantwortung Sie sich ein bisschen aufwärmen können. Stellen Sie sich doch bitte einfach mal kurz vor.“
Fries räusperte sich und begann: „Ja, also, äh, ich komme aus Norddeutschland, ich bin in Wesselburen geboren, habe bei der Bundeswehr, also bei der Marine meinen Wehrdienst abgeleistet und danach in Hamburg Archäologie studiert.“
„Archäologie?“, fragte Senff und kritzelte sich ein paar Hieroglyphen auf seine Unterlagen. Einige von den anderen kritzelten mit, Dr. Fabricius malte Männchen.
„Ja, äh, klassische Archäologie im Nebenfach. Im Hauptfach Vor- und Frühgeschichte, dazu noch Ethnologie. Ja, äh, dann habe ich in Hamburg auch promoviert, Thema der Doktorarbeit waren die Besonderheiten in der Bauweise emsländischer Megalithgräber.“
„Gut“, sagte Senff und meinte etwas anderes, „dann kommen wir gleich zur zweiten Frage: Können Sie die Ergebnisse ihrer Dissertation in einem Satz darstellen?“
Die Augen von Fries wurden einen kleinen Moment lang groß, das Blut sackte ihm kurz weg, er räusperte sich wieder, „Ja, ähem, da muss ich einen Moment meine Gedanken sammeln“, und schwieg. Alle kritzelten wie wild auf ihren Zettelchen.
„Ja, in meiner Untersuchung habe ich festgestellt, dass die emsländischen Megalithgräber sich in der Bauweise wesentlich von denen anderer Trichterbecherregionalgruppen wie in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern unterscheiden.“
Senff verstand kein Wort. Er schrieb wieder irgendetwas und fragte dazu abgelenkt: „Mecklenburg-Vorpommern. Sind Sie schon mal da gewesen? Kann man schön Urlaub machen.“
Fries wackelte unsicher mit dem Kopf und hauchte ein „nur kurz“ in die Runde.
„Gut“, machte Senff und fragte dann, „Wie sieht es denn mit den Strukturen der Denkmalpflegeämter aus? Welche kennen Sie?“
Fries stutzte erneut, ihm wurde zwar noch immer nicht recht klar, was diese Fragen sollte: „Meinen Sie, was es für Ämter gibt? Ja, da gibt es die Landesdenkmalpflegeämter“, er machte eine kleine Pause, „oder auch die Kulturbehörden.“ Dann wurde sein Blick fragend, er sagte: „Jedes Land hat sein eigenes Denkmalpflegeamt, zum Teil dann noch untergliedert in einzelne Bezirke, Landesteile oder Kreise“, und schaute in die Runde.
Senff unterbrach: „Bei welchem Denkmalpflegeamt haben Sie denn persönlich schon gearbeitet?“
„Oh, in Niedersachsen bei verschiedenen Kreisen, in Hamburg –“
„Also in Harburg?“, fragte Robert zwischen.
„Ja, genau, äh, dann in Nordrhein-Westfalen, also das heißt nur in Westfalen, und ein paar Mal noch in Hessen.“
„Arbeiten Sie lieber alleine oder lieber im Team?“, wollte Senff dann wissen.
„Natürlich kann ich jede Aufgabe alleine bewältigen, aber ich bin auch teamfähig und arbeite auch gerne im Team.“
Die meisten Leute gegenüber von Fries machten sich wild Notizen, für einen Moment herrschte ein gepresstes Schweigen. Senff genoss diese Ruhe für seinen Angriff.
„Welche Denkmalpflegegesetze kennen Sie denn, die die Pyramiden von Palenque schützen?“
Fries wurde wieder bleich. Er blickte die Gruppe an, die nach den Blicken zu schließen kein Mitleid mit ihm hatte. Nach kurzem Schweigen riet er mit einer fragenden Stimme: „Äh, Weltkulturerbe?“
„Richtig“, sagte Robert, „zu welcher Organisation gehört das denn?“
„Zur UNESCO“, sagte Dr. Fries dann.
„Was umschreibt dieses Gesetz denn?“, erkundigte sich Senff.
Nach einer kurzen geistigen Formulierungspause sagte Fries: „Das Gesetz schützt wichtige Fundplätze und kulturelle Güter in der Welt vor Verschandelung und Zerstörung.“
„Aha“, machte Senff und schmierte sich etwas auf sein Blättchen. Ohne Aufzublicken hakte er nach: „Kennen Sie denn ein deutsches Denkmal, dass unter dieses Denkmalpflegegesetz fällt?“
„Da fällt mir zum Beispiel Quedlinburg ein.“
„Wie sieht es denn da aus, was gibt es da?“
„Also, da ist die gesamte Altstadt Welterbe. Das sind der Bereich des Königshofs mit dem Schlossberg, die Kirchen und, äh, ja, der gesamte historische Altstadtbereich innerhalb der Stadtmauer einschließlich der Gassen und Plätze.“
„Stimmt, der Königshof“, machte Senff wichtigtuerisch. Er hatte keine Ahnung, wovon Fries sprach.
„Dann gibt es darin noch die Sankt-Servatius-Kirche, die Sankt-Marienkirche und, äh, die Sankt-Wipert-Kirche –“
Senff unterbrach kopfnickend: „Die ist nach dem heiligen –“
Den Rest des Satzes sprachen Senff und Fries zusammen: „– Wipert benannt.“
Dann redete Senff wieder allein: „Kennen Sie denn ein international bedeutsames Bodendenkmal hier in unserem Bundesland?“
Fries schaute eine Schrecksekunde stumm und erwiderte dann: „Die Alteburg.“
Senff beugte sich nun nach vorn auf den Tisch und lehnte mit beiden Ellbogen auf seinen Unterlagen. Eine Hand ruderte in der Luft, als er fragte: „Und? Was gibt es da?“
„Ja, die Alteburg ist ein bedeutsames Denkmal aus der Jungsteinzeit, es ist eine Wallanlage mit zahlreichen Hausgrundrissen und vor wenigen Jahren ist ein Brunnen ausgegraben worden, dessen Hölzer naturwissenschaftlich etwa in die Zeit 3000 vor unserer Zeitrechnung datieren.“
„Welche Wegweiser“, erkundigte sich Robert dann von der Seite, „kennen Sie denn noch zu Denkmalpflegegesetzen?“
Fries fragte nach: „Wegweiser? Ich glaube, ich verstehe die Frage nicht richtig, meinen Sie Literatur?“
Robert nickte schwach, ohne es als Bejahung zu meinen, die anderen glotzten in die Luft oder durch Fries hindurch.
„Vermutlich übers Internet“, sagte Fries unsicher mit einem leicht fragenden Unterton.
Dann übernahm Senff wieder mit einer gehetzten Frage: „Würden Sie eigentlich Werbung auf einem Bodendenkmal dulden?“
„Werbung?“ Fries dachte einen Augenblick nach, schüttelte dann den Kopf, „Nein, auf einem Bodendenkmal grundsätzlich eher nicht.“
„Wenn die Werbung als solche erlaubt wäre, unter welchen Voraussetzungen würden Sie sie denn auf einem Denkmal dulden?“
„Also höchstens unter der Voraussetzung, dass sie, äh, dezent und angemessen gestaltet ist und der Erlös der Werbung auch dem, äh, dem Denkmal zugute kommt, also seiner Erhaltung oder wenigstens Erforschung.“
Senff macht ein müdes „Aha!“ und fragte dann weiter: „Eine letzte Frage haben wir noch: Würden Sie Werbung für Bier auf einer Ausgrabung dulden, wenn die Firma die Ausgrabung finanziert?“
Fries schüttelte leicht den Kopf und meinte: „Ich glaube, das sähe ein bisschen seltsam aus, aber für die Finanzierung müsste man vielleicht ab und zu in den sauren Apfel beißen. Wahrscheinlich müsste man das dann im Einzelfall entscheiden.“
„Ja, Herr, äh“, Senff schaute absichtsvoll auf seine Unterlagen, um nach dem Namen zu schauen, „Herr Doktor Fries, ja, das war es schon, dann wird Ihnen die Frau Jeckel jetzt noch ein Informationen zu der Stelle geben.“ Dabei drehte Senff sein Gesicht zur Jeckel und hob müde die Hand, ohne wirklich auf die Frau zu zeigen. Der Bewerber schaute sie dagegen interessiert an und hörte ihr zu, wie sie ihm die sittenwidrigen Arbeitsbedingungen aufzählte, die dermaßen unverschämt waren, dass sich manches Institut weigerte, die Ausschreibungen dieses Herrn Dr. Senffs überhaupt auszuhängen.
Sie redete von unverschämt langen Arbeitszeiten, zu der überdies unbezahlte Überstunden unausweichlich waren, sie erzählte von einer Entlohnung, die es nicht wert war, diese Bezeichnung überhaupt zu tragen, sie sprach von Urlaubstagen, die kaum dazu reichten, auch nur die Wohnung zu verlassen. Fries lauschte, er wollte einfach arbeiten. Er träumte sich diese weitere Durststrecke als Sprungbrett in eine bessere Zukunft zurecht. Eine Zukunft, die alles andere als rosig war, aber immerhin ein bisschen die unsinnigen Strapazen und die hohle Mühsal der vergeudeten Jahre an einer deutschen Universität ausgleichen sollte.
Senff dagegen schwelgte in anderen Träumen. Ihn erinnerte die Szene an die Seminare, die er früher als Assistent gegeben hatte.
Er sah sich selbst als beliebter Dozent, hielt er sich doch tatsächlich für freundlich und zuvorkommend. Seine Seminare waren stets voll gewesen, was aber auch kaum überraschend war. Er war nämlich als Assistent dazu verdonnert, notwendig zu besuchende Proseminare für die Erst- und Zweitsemester anzubieten. Die Studenten konnten ihm gar nicht ausweichen. Jeder, wirklich jeder, der zu dieser Unzeit an dem Institut begann, die Grundweihen der Archäologie zu empfangen, musste die Seminare von Senff ertragen. Und das hätte Senff wissen müssen, er wollte es aber nicht wahrhaben.
In Wirklichkeit waren seine Seminare berüchtigt. Er gestaltete sie gelangweilt, desinteressiert und ohne jedes Ziel. Dem Aushang am Schwarzen Brett war zu entnehmen, dass als Teilnahmevoraussetzung die Lektüre einiger weniger unerreichbarer Fachbücher gefordert wurde. Natürlich wurden diese während des Seminars überhaupt nicht angesprochen. Nach der Verteilung von Referatsthemen ließ Senff die Sitzungen von den Studenten gestalten, indem sie ein Referat nach dem anderen hielten, die er weder näher besprach noch bewertete. Das bedeutete natürlich, dass auch die miserabelsten Referate noch unwidersprochen als Lehrveranstaltung durchgingen.
Manche Studenten bestritten ihre Referate daraus, dass sie sich auf einem Wust ungeordneter Blätter einzelne herauskopierte Absätze und Sätze aus Büchern zu dem jeweiligen Thema zusammengeklebt hatten, die sie im Seminar in zufälliger Reihenfolge herunterlasen. Andere verhedderten sich am Pult in einem Wust von ausgeklappten Falkplänen, um die Lage eines Fundplatzes zu zeigen, von dem sie nicht verstanden, warum er in der Literatur mal Grütztopf und mal Grützpott genannt wurde.
Als legendär galt im Insitut jedoch ein Vortrag, den jemand über das römische Pompeji halten sollte, und der noch viele Semester lang weitererzählt wurde. Der Referent verstand die moderne italienische Aussprache des heutigen Fundplatzes Pompei nicht und bezeichnete die Ortschaft mehrfach als [pompai]. Ungewöhnlich genug, dass Senff in diesem Falle tatsächlich einmal durchgriff und die Aussprache jedes Mal korrigierte, beharrte der Referent auch weiterhin darauf, den Stadtnamen deutsch auszusprechen. Natürlich hatte der Student ab sofort seinen Spitznamen weg und wurde von allen nur noch Pompei genannt.
Anfangs krümmte Senff sich während der Referate noch über seine Unterlagen und notierte sich den einen oder anderen Gedanken, der ihn beschäftigte. Später jedoch beherrschte er eine Technik, die es ihm ermöglichte, sich völlig aus der Veranstaltung auszuklinken. Ihm war es gelungen, einen Schlafrhythmus zu entwickeln, dessen Dauer genau die Länge eines Referates umfasste. Wenn die Referenten mit ihrem Vortrag begannen, schloss er die Augen, ließ seinen Kopf leicht nach vorn kippen und nickte ein. Etwa zu dem Zeitpunkt, wenn das Referat schließen sollte, wachte er wieder auf. Dieser kurze Moment genügte, so viel von dem Vorgetragenen mitzubekommen, dass er zuweilen eine Frage aus dem zuletzt gehörten Satz herleiten konnte, um mit dieser aufgeschnappten Information Detailwissen vorzutäuschen. Inhalt und Qualität der Referate waren dagegen unwichtig. Die Zeit musste lediglich sonor von einer Stimme ausgefüllt werden.
Wegen seiner geistigen Abwesenheit entgingen Senff natürlich nicht allein die Referate, er bemerkte auch nicht die Zerstreuungen, mit denen sich viele Studenten während des Seminars beschäftigten. Einige lasen Zeitung, andere pflügten durch die Welt der Schundliteratur, so wie Senff es als Student selbst getan hatte, und wenige nutzten die Zeit, um Referate oder Hausarbeiten für andere Veranstaltungen zu präparieren.
Zuweilen kam es natürlich vor, dass die Referate zu kurz geraten waren, und im Seminar nichts mehr zu tun war. Dann entließ Senff die Studenten gerne vorzeitig. Es sei so schönes Wetter, merkte er in solchen Momenten mit generösem Gesichtsausdruck an, da wollen Sie doch bestimmt lieber in die Cafete. Senff sagte diesen Satz bei jedem Wetter. Er fiel sogar so häufig, dass er bald ein geflügeltes Wort am Institut wurde, ohne dass der Urheber das bemerkte.
Angesichts der Gleichgültigkeit, mit der Senff den Referaten begegnete, verwundert es kaum, dass sie für die Leistungsbewertung der Seminarteilnehmer völlig unerheblich waren. Er bewertete die Seminarscheine ausschließlich nach dem Ergebnis der Klausur am Semesterende. Die war allerdings entgegen aller Erwartungen regelmäßig gepfeffert. Die Klausur bestand nämlich aus richtigen Fragen, zu Themen, die Senff im Proseminar nie behandeln ließ. Er hätte sie auch selbst kaum beantworten können, hätte er sie nicht einschließlich der korrekten Antworten von seinem Vorgänger übernommen. Natürlich gab es mehrere Versionen, aus denen er von Semester zu Semester auswählen konnte. Manche Studenten erfuhren zwar rechtzeitig von dieser Möglichkeit der Vorbereitung, viele rasselten jedoch auch beim ersten Versuch durch, weil sie den Fehler machten, von dem Seminar auf die Klausur zu schließen.
Frau Jeckel hatte ihren Vortrag inzwischen beendet und blickte wartend zu Senff, Frau Attermann räusperte sich bereits flau. Senff rüttelte sich zurück in das Konferenzzimmer.
„Gut“, sagte er, „dann haben wir nur noch eine Frage an Sie: Halten Sie Ihre Bewerbung aufrecht?“
„Unbedingt“, sagte Rüdiger Fries und wiederholte sich kopfnickend, „unbedingt!“
„Ja, dann können Sie ja jetzt gehen“, sagte Senff und stützte sich auf den Tisch, „auf Wiedersehen!“
„Ja, auf Wiedersehen“, erwiderte der über die Fragen noch immer leicht erschrockene Fries.
Frau Jeckel zuckte wortlos mit dem Mund, die anderen schauten nicht mal in die Richtung von Fries. Frau Attermann glotzte aus dem Fenster, Herr Trudolf blickte in die Richtung von Senff und Dr. Fabricius war weiter mit seinen gekritzelten Männchen beschäftigt. Ihn interessierte die gesamte Veranstaltung nicht.
Dr. Fries hatte inzwischen den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen, da sagte Senff: „Gut, damit sind wir mit den Kandidaten durch. Die Besprechung für die Stellenvergabe machen wir dann morgen Vormittag, den Termin haben sie sich hoffentlich alle vorgemerkt.“
Zu dem letzten Satz schaute er an Robert vorbei zu Trudolf, der gleich das Wort aufnahm: „Ja, Herr Direktor, ich wollte es schon angesprochen haben, das ist ja doch ungemein stressig –“
„Dann dürfen Sie sich für solche Tätigkeiten eben nicht melden!“, knurrte Senff und Trudolf schwieg.
Die Versammlung löste sich wieder auf, jeder griff sich seine Unterlagen und verdrückte sich. Nur Frau Jeckel blieb zurück und räumte die Tassen, den Kaffee und das Zubehör weg.

Dienstag, 4. August 2009

Kapitel 13.7

Senff öffnete seine abschweifenden Augen und schüttelte den Kopf. Mit wenigen orientierenden Blicken fuhr er im Büro herum, dann schüttelte er seine Uhr aus dem Ärmel, um die Zeit nachzusehen.
Kurz vor zwölf, dachte er, dann kann ich endlich Mittag machen.
Maxim griff unter die Bewerbungsmappe und hob sie flach zur Seite, um sein Mittagessen zu verspeisen. Er kramte sich aus der Tasche eine Plastikdose, einen einzelnen Apfel und eine Banane. Dann begann er damit, aus der Dose ein belegtes Brot zu essen und lauschte der Mittagsstille im Amt. Ab und zu klapperten Schritte über den Flur. Entfernt hörte man ein Auto verbeihuschen, viel Verkehr war nie in der Nähe des kleinen Schlösschens. Bevor er weitere Stücke von dem Brot abbiss, trank er ab und zu einen Schluck aus der Tasse, dann kaute er weiter. Nach dem Brot entkleidete er sorgfältig die Banane und operierte mit spitzen Fingern noch das kleinste Fäserchen von dem Fruchtfleisch. Er ekelte sich davor, das Innere zu berühren. Als die Südfrucht vertilgt war, griff er sich den wachsglänzenden Apfel und biss herzhaft hinein. Nach zwei Bissen klopfte es an seine Tür, er pausierte einen Augenblick, überlegte kurz, während er den Apfel von dem Mund weghielt und kinnkaute dann schnell das Stück zu Ende. Mitsamt seinem Stuhl rollte er ein Stück zur Seite, drehte sich und bat den unerwünschten Gast hinein.
Es war Robert, der die Tür offen hielt und nur seinen Oberkörper in das Büro lehnte. Maxim zeigte sich selbst von seiner wichtigsten Verbindung zur amtlichen Außenwelt im Essen so gestört, dass er den Apfel im Mülleimer entsorgte.
„Was willst du?“, fragte Maxim genervt und schmatzte Apfelschalenreste aus den Zwischenräumen der Zähne.
„Oh, du isst gerade?“, erkundigte sich Robert dumm. Immerhin wäre zu erwarten gewesen, dass er die Gewohnheiten seines wichtigsten Protektors nach fast zwanzig Jahren kennen sollte, „Entschuldige bitte. Ich wollte nach dem Termin nachher fragen und die Scheckow ist schon zur Kantine.“
„Ja“, bellte Maxim, „der Termin ist um zwei.“
„Gut, dann sehen wir uns ja nachher“, verabschiedete Robert sich. Er wusste, dass er Maxims Essen nicht unter-, sondern abgebrochen hatte. Robert federte zurück und schloss die Tür in derselben Bewegung.
Maxim spürte einen flachen Zorn in sich aufsteigen. Er nahm die Kaffeetasse, schwenkte die Kaffeereste und spülte mit einem Schwung den Apfelgeschmack aus dem Mund. Dann stand er auf, stellte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor eines der Fenster und blickte kurz in den Garten.
Wenige Momente später wankte er zur Sitzecke und fläzte sich in die Designersessel, um ein kurzes Nickerchen zu machen.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Kapitel 13.6

Senff verzog sein Gesicht zu seiner pseudofreundlichen Fratze und nahm mehrere Umschläge unterschiedlichen Formats entgegen. Dann stolperte er in sein Büro und schloss die Tür mit einer rückwärtigen Armbewegung, ohne seinen Blick von der Post zu lösen. Er schlurfte zu seinem Schreibtisch, ließ sich plumpsend auf den Sessel fallen und warf die Post rücksichtslos auf die Arbeitsfläche. Voller Zufriedenheit sah er, dass die Scheckow ihm eine neue Tasse Kaffee eingeschenkt hatte. Neben dem Füllfederhalter lag ein Brieföffner, der sich für einen Landesarchäologen geziemte. Es war eine Miniatur eines urnenfelderzeitlichen Schwertes aus Messing. Maxim schnitt damit einen Brief nach dem anderen an der kurzen Seite auf und fingerte umständlich die Post heraus. Diese Technik wandte er sowohl bei großen Umschlägen an als auch bei kleinen Kuverts.
Der Inhalt der Post war bunt durcheinandergewürfelt. Ein Fachverlag schickte ihm das aktuelle Archäologieprogramm. Senff blätterte nur kurz durch, ob der Sammelband, an dem er lediglich als untätiger Herausgeber beteiligt war, bereits aufgeführt würde. Als er den Band entdeckt hatte, schnippste er das Programm befriedigt zu Seite. Er griff nach der Untertasse und zog sich das Coffeinensemble heran.
Aus einem anderen Umschlag zog er die Einladung zu einer Tagung, die ihn zwar überhaupt nicht interessierte, wo er aber immerhin ein wichtiges Gesicht machen könnte. Er betrachtete das geplante Grundprogramm und überlegte gelangweilt. Er würde keine Zeit mehr dazu haben, dachte er, bis dahin würde er sicherlich bereits im Kultusministerium residieren.
Dann griff Maxim aus dem ungeordneten Haufen einen großen Umschlag, bei dem er sich sicher war, dass es sich um eine Bewerbung für eines der ausgeschriebenen Volontariate handeln musste. In anderen Ämtern landete solche Post gewöhnlich in der Personalabteilung, hier legte der Chef großen Wert darauf, als erster einen Blick auf Bewerbungen zu werden. Alle anderen notwendigen Arbeiten hatte ja Plankenreiter für ihn übernommen.
Natürlich hatte auch Plankenreiter keine Ahnung und noch weniger Interesse an den Arbeiten. Das war Senff aber egal. Hauptsache irgendjemand machte die Arbeiten, die in der Forschung als seine eigenen Leistungen betrachtet wurden. Also bestand Plankenreiters wichtigstes Vermögen darin, Arbeit zu delegieren. Bis sie dann schlussendlich auf dem Schreibtisch – oder häufiger im Werkvertrag – irgendeiner armen Sau landeten, die die Leistung tatsächlich erbringen musste, es aber im Gegensatz zu den festangestellten Vollidioten auch vermochte. Daher hatte Senff genügend Zeit, sich um Bewerbungen selbstpersönlich zu kümmern. Inzwischen liefen die natürlich nicht mehr in irgendeiner Burger-Kaschemme, sondern unter Begutachtung all der erforderlichen Amtspersönlichkeiten aus Frauenvertretung, Personalrat und Abteilungsleiter der zuständigen Abteilung. Trotz dieser Widrigkeiten ließ Maxim sich diese Abläufe überhaupt nicht aus der Hand nehmen. Zu groß war seine Freude an der Leitung und Überwachung des Bewerbungsausschusses.
Wenn es sich nun anbot, einmal wieder für ein Jahr (mit Option auf Verlängerung!) einen Volontär anzustellen, der am liebsten gleich umsonst zu arbeiten hatte, pestete Senff die Sekretariate der einschlägigen Institute in Deutschland und im deutschsprachigen Ausland mit Ausschreibung zu. Zuweilen machte er das sogar einfach nur, um mal zu schauen, was der Markt so hergibt, obwohl also von vornherein sicher war, dass keine Stelle zu vergeben war.
Arme arbeitslose Akademiker, die sich sogar an dem Strohhalm hielten, eine Stelle bei diesem Tyrannen zu erhalten, gab es zur Genüge. Sie bewarben sich gewöhnlich zu Hunderten. Diese Zahl mag dem Fachfremden gewöhnlich erscheinen. Innerhalb der deutschen Archäologie, in der in einem Jahr kaum ein Dutzend Stellen ausgeschrieben sind, sind sie eine heillose Katastrophe. Zumal es die deutsche Wirtschaft überhaupt nicht einsieht, in der Besetzung ihrer ausgeschriebenen Stellen auch nur einen Deut so flexibel zu sein, wie sie es von den bettelnden Bewerbern verlangt. Echte Ausweichmöglichkeiten sind also nach einer sehr konzentrierten Ausbildung kaum vorhanden, denn selbst wenn man die erwünschten Fähigkeiten mitbringt, sind sie nur in den seltensten Fällen schriftlich nachweisbar. Und gerade die deutsche Wirtschaft hat ja schon vor Jahrzehnten bewiesen, welchem Gut sie einen höheren Stellenwert einräumt, wenn sie vor die Wahl „Papiere oder Menschenleben“ gestellt wird.
Die Stapel der Bewerbungsmappen mochte Senff auf seinem Schreibtisch. Zeugnisse des lausigen Packs, das ihn anhimmelte, bei ihm und für ihn arbeiten zu dürfen. Es war eben die Fortführung seiner Politik der Verlagerung jeglicher Arbeit auf andere, die er über die Jahre perfektioniert hatte. Gerne blätterte er durch die Bewerbungen so wie jetzt.
Das Bewerbungsschreiben lag weit aufgeschlagen vor ihm. Er studierte das Anschreiben, das der Idiot nicht aufgelegt hatte, sondern in die Mappe gefriemelt hatte. Maxim zog das Anschreiben aus seiner Umklammerung und verbeulte das Papier. Mit rechts hielt er sich das Blatt vor die Nase, mit links griff er zur Kaffeetasse und schlürfte, ohne seine Augen von dem Brief zu wenden. Während er den Brief las und sich über komische, nur ihm unverständliche Formulierungen wunderte, tropfte Kaffee von seiner hässlichen Unterlippe, die über die Jahre die Form einer aufgeplatzten Rostbratwurst angenommen hatte. Wieder merkte er das Kleckern nicht, die schwarzbraune Soße tröpfelte auf seine Fliege und sogar unfein auf das Titelblatt der Bewerbung. Maxim bemerkte das erst, nachdem er die Tasse wieder abgestellt und den Brief zur Seite gelegt hatte. Dann stutzte er einen Moment und fragte sich, sind die Tropfen von mir?
Mit dem Handballen rieb er zweimal auf dem Titelblatt und stellte so fest, dass die verteilten Flecken von ihm sein mussten. Er schüttelte zweimal schwach den Kopf, ganz so als wundere er sich über die Schlampigkeit des Bewerbers. Wieder griff er nach der Tasse und schlürfte langsam ihren analeptischen Saft, während er sich unschlüssig durch Lebenslauf und Zeugnisse hindurchblätterte, ohne dabei irgendeinem besonderen System zu folgen. Erst war er sich nicht schlüssig, ob er den Bewerber ausschließen sollte, bis er sich eines Momentes gedachte, in dem er mit dessen Doktorvater einmal einen eigentlich unwesentlichen Disput hatte. Er vergaß vollkommen, dass er den Bewerber doch ohnehin nicht mehr erleben sollte, wenn die Landtagswahlen so verliefen, wie er sich das vorstellte.
Der Bewerber wurde also aussortiert und gelangte somit nicht auf den kaum vorsortierten Berg mit nahezu fünfzig Bewerbungen. Das war die Zahl der geladenen Kandidaten. Senff ließ stets so viele finanziell auf schwachen Beinen stehenden Bewerber skrupellos aus ganz Mitteleuropa anreisen, selbst wenn er sie in seinem stark eingeschränkten Geist eher im Hinterfeld platziert hatte.
Ein Bewerbungsgespräch auf die Stelle eines früher beginnenden Volontariats war für diesen Tag noch anberaumt. Dazu war ein Kandidat geladen, der auf eigene Kosten mehrere hundert Kilometer anzureisen hatte. Eigentlich hatten die Gespräche für diese Stelle in der Vorwoche stattgefunden, faktisch war sie sogar bereits vergeben, aber Senff mochte den Spaß, den aussichtslosen Bewerber noch zu erleben. Schließlich konnte der Hohepriester der Faulheit dessen Huldigung nur hier in seinem Tempel gebührend entgegennehmen.
Für dieses Festival der Dummheit überlegte er sich im Vorfeld zusammen mit Robert stets dreizehn lächerliche Fragen. Den letzten Fragenkatalog hatten sich die beiden bei einem gemütlichen Bier in einem nahegelegenen Bierkeller ausgedacht. Dabei waren die Fragen mit wenigen Ausnahmen, die den Schein wahren sollten, absichtlich so formuliert, dass sie die Bewerber verwirren sollten. Sie waren auch bei allen Bewerbern eines Durchlaufs gleich und von vornherein derart angelegt, dass sie alle Bewerber aus der Fassung bringen mussten. Diese Fragen betrafen Themen und Arbeitsabläufe, mit denen sich nicht nur der Volontär im Amt niemals beschäftigen würde, sondern von denen auch sonst keiner im Amt jemals betroffen war. Das interessierte aber auch niemanden. Das unwichtige, aber aus Maxims Sicht leider unvermeidbare Geschmeiß aus Personalrat, Gleichstellungsbeauftragte und anderen Amtsschimmelnotwendigkeiten verstand den Zusammenhang mit der Stellenausschreibung ja ohnehin nicht. Und die große Mehrheit der Bewerber tat den Teufel, sich zu beschweren. Die wenigen, die zurecht fluchend und schimpfend das Inquisitionszimmer verließen, hatten mit diesem Schritt das Bewerberkarussell von sich aus verlassen. Insgeheim staunte Senff übrigens über solchen Schneid. Es war zwar klar, dass so jemand die Stelle nicht bekommen durfte, Maxim wäre aber hocherfreut darüber gewesen, einen derartigen Charakterzug an sich entdecken zu dürfen.

Samstag, 11. Juli 2009

Kapitel 13.5

Senff hatte zu Ende gepinkelt, er schüttelte sich die Erinnerungen an seine frühere Stellvertretung aus dem Kopf. Er ärgerte sich, dass jemand diesen Ungeist aus seinem Gedächtnis gekramt hatte. Dieser unselige Typ, kam es Maxim in den Sinn, der hat doch von Anfang an gegen mich opponiert, weil er die Stelle des Direktors haben wollte. Maxim nestelte mit der einen Hand an seiner Hose und betätigte mit der anderen die laut kraschende Spülung. Die beiden Herren an den Pissoirs sagten nichts mehr, als sie merkten, dass da jemand gewesen war, der ihr Gespräch belauscht hatte.
Maxim öffnete die Tür. Obwohl beide mit dem Rücken zu ihm standen, erkannte er sofort, es waren Hobbler und Trudolf von der Inventarisierung. Beide ahnten, wer da hinter ihnen stand, getrauten sich jedoch nicht, sich umzudrehen. Dann sagte einer fast mehr aus einer Ahnung heraus: „Guten Tag, Herr Direktor!“, und der andere wiederholte den Gruß.
„Guten Tag!“, spitzte Senff und schritt ruhig in den Vorraum zu den Waschbecken. Die Stille im WC erinnerte an Glas. Maxim hörte, wie es irgendwo leise tropfte, Hobbler und Trudolf waren inzwischen ohrenscheinlich fertig, wagten jedoch noch nicht, die Pissoirs zu verlassen. Daher betätigten sie auch noch nicht die Spülung. Maxim beugte sich am Becken steif vor und drehte mit einem leichten Schielen zu den beiden anderen den Wasserhahn auf. Er benetzte die Hände zaghaft, griff unter den Flüssigseifenspender und spritzte sich mehrere Tropfen auf die rechte Hand. Dann verrieb er matschend den Seifenschaum in einer eigentümlichen Mischung aus der ihm eigenen Hektik und einer gewollten Langsamkeit. Ohne es sich auch nur in Gedanken einzugestehen, wusste er instinktiv, er durfte dieses Schlachtfeld nicht zu schnell verlassen. Anderenfalls wäre es ihm als Niederlage ausgelegt worden.
Hobbler und Trudolf warteten immer noch vor den Keramikschüsseln. Als Senff merkte, dass sie sich nicht zu ihm trauten, als ihm auffiel, welche Macht er selbst in diesem Moment auf sie ausübte, genoss er es und verlangsamte seine Handlungen auch noch. Er spülte konzentriert den Seifenschaum von seinen Händen, von jedem Finger und aus jedem Fingerzwischenraum. Dann griff er zu dem Papier, um sich die Hände zu trocken und rieb die letzte Feuchtigkeit von der Haut. Er glaubte fast, den Angstschweiß der zwei riechen zu können, knüllte das Papier zusammen und legte es fast zärtlich in den Mülleimer. Er beugte sich noch einmal vor den Spiegel und fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger über die Augenbrauen. Mit derselben Hand wischte er sich einmal über die Haare und kramte mit der anderen seinen Kamm aus der Gesäßtasche, mit dem er die fisseligen Spinnfäden an seinem Kopf in eine Ordnung zu bringen trachtete.
Hobbler gab auf. Er betätigte jetzt auch stumm die Spülung und trat langsam zu den Waschbecken. Trudolf war weniger mutig und wartete noch. Hobbler stand nun neben Senff und wusch sich die Hände. Der Direktor wurde immer langsamer in seinen Bewegungen, würdigte die beiden Inventaristen jedoch keines Blickes, sondern konzentrierte sich auf das Kämmen seines Spiegelbildes. Tonlos fragte er in Richtung der Pissoirs: „Sie sind doch für den Personalrat bei der Bewerbung heute, nicht wahr, Trudolf?“
„Ja, Herr Direktor“, nickte der ruhig und betätigte dann die Spülung.
„Dann sehen wir uns ja nachher“, sagte Maxim, drehte sich seine Fliege zurecht und schabte noch zweimal pikiert an dem Flecken auf seiner Fliege, der ihn bereits am Morgen geärgert hatte.
„Ja, Herr Direktor.“
Dann steckte Senff sich den Kamm wieder ein, drehte sich zur Tür und verließ die Toilette aufrecht. Als er im Büro seiner Sekretärin stand, reichte sie ihm unterwürfig lächelnd die Post in die Hand.

Mittwoch, 8. Juli 2009

Kapitel 13.4

Senff kannte Schehlen natürlich. Er erinnerte sich sehr gut an ihn. An diesen Stellvertreter von Dr. Stüht. Senff wusste, dass Schehlen ursprünglich als Wunschkandidat seines Vorgängers galt. Warum der die Stelle nicht angenommen hatte, war ihm hingegen nicht klar. Erst durch dessen Verzicht war es für den Außenstehenden Maxim überhaupt möglich gewesen, auf diese Position zu gelangen.
Schehlen war für Senff von Anbeginn ein Problem. Er mochte den schlaksigen Mann mit seinem leicht krausen Haar und dem freundlichen Umgangston überhaupt nicht. Schehlen war zu jedem freundlich, ließ weder seine Bildung noch seine Fähigkeiten weiter heraushängen, als es unbedingt notwendig war. Er war ein Vertreter flacher Hierarchien, der gut mit seinen Mitarbeitern umging, wie jeder bestätigte.
Ein derartiges Verhalten konnte Senff gar nicht verstehen. Schehlen war ihm daher grundsätzlich zuwider. Außerdem wusste er die Haltung nicht einzuschätzen, dass Schehlen die Leitung abgelehnt hatte. Daher wurde das Vergraulen des Stellvertreters eine von Senffs ersten Amtshandlungen. Zumal er die grundsätzliche Notwendigkeit sah, Plankenreiter auf ein gut dotiertes Pöstchen zu erheben.
Robert hatte nach einem wiederholt sehr schlechten Abschneiden bei den Weltmeisterschaften im Drachenflug mittlerweile nicht allein dieses ungewöhnliche Hobby aufgegeben, sondern auch einsehen müssen, dass aus seiner Promotion nichts mehr werden würde. Daher hing er das Stipendium an den Nagel, doch leider wollte die Stiftung, die ihn bislang finanziert hatte, entweder irgendwelche Ergebnisse sehen oder ihr Geld zurück. Nach einer kurzen Phase bei einer Bank, während der er Überweisungsträger abzutippen hatte, war es endlich so weit, dass Senff ihn in das neue Amt nachholen konnte.
Zunächst hatte sein alter Freund Maxim ihm lediglich eine halbe Stelle vermitteln können, die nur wenig ausbaufähig war. Aber es war von vornherein ausgemacht, dass Schehlen von dieser Position aus sturmreif geschossen werden sollte, um Robert die Stellvertretung zuzuschustern.
So groß der Plan angesichts des gewünschten Ergebnisses auch war, hatten doch weder Maxim noch Robert die Details von Beginn an festgelegt, sie entwickelten sich im Laufe der Zeit. Senff war dabei selbstverständlich der Kopf hinter der Nummer, Robert allein wäre dazu viel zu dumm gewesen. Im Gegensatz zu ihm war der Direktor sogar schlau genug gewesen, ausgerechnet die wirklich bösen Sachen von dem dödeligen Robert machen zu lassen.
Schehlen war als Stellvertreter zuvor zuständig gewesen für den Wagenpark des Amtes, er betreute als oberster praktischer Denkmalpfleger die meisten Außeneinsätze, leitete das Fundstellenarchiv und koordinierte die dabei anfallenden Arbeiten.
Hierhin sah Senff die Angriffspunkte. Schehlen sollte systematisch aus diesen Bereichen herausgedrängt und lächerlich gemacht werden. Sehr früh entzog Senff ihm den Wagenpark. Die Kontrolle über die Dienstwagen übernahm er selbst, niemand konnte mehr einen Dienstwagen nehmen, ohne dies persönlich beim Chef abgesegnet zu bekommen. Dafür ließ Senff sogar seine notorische Faulheit so weit hinter sich, dass er sonntags noch gerne herumtelefonierte.
Mit diesem Coup traf er Schehlen gleich doppelt. Denn nun hatte der nicht nur ein Arbeitsfeld weniger, sondern musste für seine Fahrten beim Chef selbstpersönlich einen Wagen beantragen. Natürlich bekam er stets die letzte Krücke.
„Ausgerechnet heute“, sagte Senff dann immer, „ist nur der Passat verfügbar.“
Schehlen machte dann ein langes Gesicht, denn er wusste, was das bedeutete. Bei mindestens jeder dritten Fahrt blieb er mit dem ältesten Wagen des Amtes liegen, was natürlich besonders an Freitagnachmittagen regelmäßig zu unschönen Situationen für Schehlens Familie führte. Kam der Stellvertreter dann zu Terminen zu spät, hagelte es selbstverständlich im Nachhinein Kritik vom neuen Direktor.
Diese Kritik, die auch andere Punkte in Schehlens Amtsführung betraf, war eigentlich die einzige Situation, in der Senff in eigener Person seine Finger oder genauer gesagt seine Zunge schmutzig machte. Eigentlich hatte Senff für die Dienstbesprechung den offiziellen Termin am Montagvormittag übernommen. Jedoch änderte er diesen Termin wiederholt frei nach Gusto kurzfristig und sorgte aktiv dafür, dass Schehlen von der Terminänderung nichts erfuhr. Anderen Mitarbeitern war es strikt verboten, den Stellvertreter davon in Kenntnis zu setzen. So wurde es nach wenigen Wochen Usus, dass Schehlen als einziger Angestellter zusätzlich zu den, beziehungsweise anstelle der Dienstbesprechungen, die er ja zwangsläufig meist versäumte, auch Donnerstags in Senffs Büro zitiert wurde, um über geleistete Arbeiten zu rapportieren. Der Ton war ab dem ersten Gespräch mindestens eisig, oft sogar ungehalten. Dann bellte Senff den harmlosen Schehlen an, warf ihm vor, schlecht zu arbeiten oder bedrohte ihn zuweilen mit dienstrechtlichen Maßnahmen, gegen die der sich einfach nicht zu wehren wusste. Der zurechtgestutzte Mann wusste ja nicht einmal, was das alles sollte, er erkannte nicht, worauf das alles hinauslaufen sollte. Wenn er sich zu äußern versuchte, wurde er sogleich von Senff in einem heiseren Feldherrnton unterbrochen, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Was hier gespielt wurde, begriff der Noch-Stellvertreter nicht. Dazu war seine Weltsicht einfach zu freundschaftlich geprägt. Er verstand einfach nicht, dass und wie er hätte handeln müssen.
Außerhalb von Senffs Büro vermied es der neue Direktor, Schehlen direkt anzuschauen. Auffällig verächtlich verdrehte Senff immer die Augen, wenn die zwei nicht allein waren. Regelmäßig putzte er ihn mit fadenscheinigen Argumenten vor anderen Angestellten des Amtes herunter. Eigentlich waren diese Situationen sogar die einzigen Momente, in denen Senff überhaupt mit Schehlen sprach.
Ein paar Monate nach dem Übernahme der Amtsleitung durch Senff ergab sich durch die Pensionierung eines verdienten Grabungstechnikers die Möglichkeit, die Zimmerverteilung im Amt nachhaltig zu korrigieren. Schehlen, der bis dahin neben Senff residiert hatte, wurde nun in ein kleines schimmeliges Kämmerchen neben den Toiletten versetzt, das dem Hausmeister zuvor als Abstellkammer gedient hatte. Genau genommen blieb es natürlich eine Abstellkammer, denn Schehlen wurden weitere Aufgaben entzogen und im Ausgleich dazu immer idiotischere Tätigkeiten übertragen.
Erst hatte er den Auftrag bekommen, die Ortsakten mit den Fundstellen zu digitalisieren, indem die Zettelwirtschaft aus 100 Jahren eingescannt werden sollte. Doch schnell fielen Senff hier und da Unregelmäßigkeiten in der Umsetzung auf, die ihm nicht gefielen, da musste Schehlen die Aufgabe Plankenreiter überlassen, der kurz zuvor in das Amt geraten war. Ab diesem Zeitpunkt war Robert in Senffs Büro stummer Zaungast während des Donnerstagsrapports.
Schehlen blieben nun faktisch kaum noch Aufgaben, er hatte aber in seiner Position auch keine Möglichkeiten, sich selbst neue Felder zu erschließen. Ab und zu erhielt er noch simpelste Arbeiten, an denen nur er allein werken konnte. Mal sollte er für die eine Etage eine Vitrine füllen, mal galt es, eine Schautafel zusammenzustellen. Darüber hinaus hatte er jedoch kaum mehr die Mittel, Kontakt mit anderen Mitarbeitern zu halten. Dafür durfte er mehr und mehr Plankenreiter zuarbeiten. Dies geschah natürlich vornehmlich, um Robert einzuarbeiten, der bereits auf den Sprung für die Stellvertreterstelle war.
Genau zu dieser Zeit begann der Angriff vom zweiten Flügel. Robert war für die Drecksarbeit zuständig. Er streute Gerüchte bei den Angestellten, dass Schehlen psychisch krank sei, sich aber weigere, sich in Behandlung zu begeben. Vorsichtig verbreitete er Klatsch, Schehlen tränke gerne mal einen über den Durst und sei deswegen zurückgestuft worden. Überhaupt wurde der Noch-Stellvertreter systematisch lächerlich gemacht und ein Opfer übler Nachrede.
Irgendwann wurde es dann zu viel. Schehlen wurde tatsächlich krank. Das Geringste, was sich bei ihm zeigte, war noch ein starkes Unwohlsein bezüglich aller Dinge, die mit dem Amt in Verbindung standen. Er klinkte sich aus der Archäologie aus, er floh vor den den letzten sozialen Bindungen zu anderen Denkmalpflegern. Er verließ so unbewusst den Kreis, der ihm den letzten Schutz geben konnte. Stattdessen trat er in einen Teufelskreis aus weiteren Erniedrigungen und stärker werdenden psychischen Verletzungen, denen er immer weniger entgegenzusetzen hatte. Den Kampf im Amt hatte er längst verloren. Bald änderte er seine Anstellung in eine Teilzeitstelle und schlussendlich ließ er sich sogar noch aus dieser Stelle drängen, einfach um diesem täglichen Terror zu entfliehen. Aber nicht einmal dieser Schritt konnte jetzt noch verhindern, dass er sich in professionelle Behandlung begeben musste. Senff war es mit Hilfe Plankenreiters gelungen, aus der üblen Nachrede über Schehlens psychischer Erkrankung eine echte Krankheit zu machen.

Samstag, 13. Juni 2009

Kapitel 13.3

Senffs Gedanken lösten sich von seinen Träumereien, die Augen verloren ihre Fixierung auf die Holzvertäfelung. Er trank den letzten Rest Kaffee aus seiner Tasse, stellte sie auf die milchbefleckte Untertasse und seufzte leicht. Er stand von seinem Bürostuhl auf und schritt gemäßigt um seinen Schreibtisch. Ein kurzer Blick auf die Standuhr gegenüber verriet ihm, dass bald Mittagspause wäre. Er merkte, dass er zur Toilette musste. Er schritt zur Tür und ging hinaus.
„Herr Direktor?“, fragte die sich wundernde Scheckow, „die Post ist noch nicht durch.“
„Ja, ich weiß“, flötete Senff, leicht geniert ergänzte er, „ich muss noch mal.“ Dann lief er zur Toilette.
Die Herrentoilette befand sich auf derselben Etage wie das Chefbüro. Das war natürlich kein Zufall, sondern mit Bedacht eingerichtet. Am Ende des Ganges zur Linken lagen die sanitären Anlagen, die wie in jedem Amt gestaltet waren: die Räumlichkeiten schlecht und einfach gekachelt, als Waschbecken dienten 08/15-Modelle unter Normspiegeln. Daneben hing ein rechteckiger Gitterkorb, der mit ineinandergefalteten Tüchern aus graugrünem Sandpapier zur Hälfte befüllt war.
Senff schritt an den Becken vorbei, warf einen kurzen Blick auf mehrere geknüllte Tücher, die sich vor dem gegitterten Mülleimer verlustierten, wie er vermutete, allein um seine Ordnungszwänge zu stören. Dann trat er in das Zentrum des Ruhetempels. Zur Linken waren drei Pissoirs installiert, die auch schon bessere Tage gesehen hätten, wäre ihnen das Augenlicht gegeben. Senff blickte nach rechts, kontrollierte, ob die einzelne Zelle frei war und konstatierte unter dem Griff erleichtert das Grün, mit dem ihm das Kloschloss unter der Klinke anlächelte. Mit Gemach stellte er sich in die Zelle, schloss die Tür und drehte das Schloss zu. Kaum wollte er damit beginnen, die Hose zu öffnen, um sich zu erleichtern, da hörte er, wie sich die Tür zur Toilette wieder öffnete. Zwei Mitarbeiter kamen herein und unterhielten sich gedämpft, aber angeregt.
„Hast du schon von Schehlen gehört?“
„Nee, was ist denn mit dem?“
Den Geräuschen zufolge traten beide an die Pissoirs und befüllten die ewig verstopften Dinger.
„Na, der muss jetzt sogar sein Häuschen verkaufen. Der ist total verzweifelt. Kommt gerade aus der Anstalt raus und steht vor einem Schuldenberg.“
Senff machte ein verkniffenes Gesicht und begann leise zu pinkeln. Da die beiden offenbar nicht bemerkt hatten, dass noch jemand anwesend war, versuchte er tunlichst, die Keramik zu treffen, um keine plätschernden Geräusche zu verursachen.
„Hatte seine Frau nicht eine Stelle bei ner Schule?“
„Ja, bei der VHS hat die gearbeitet, aber als er in die Klinik musste, musste sich ja einer um die Kinder kümmern.“
„Ah so!“

Montag, 8. Juni 2009

Kapitel 13.2

Während Senffs Stellvertreterzeit war in einem anderen Bundesland der vormalige Fürst der Denkmalpflege Dr. Stüht in den Ruhestand gegangen. Ein Jahr lang blieb die Stelle unbesetzt, dann gedachte die Politik, der gesetzmäßigen Notwendigkeit zu folgen und erneut einen Landesdenkmalpfleger einzusetzen.
Senff bewarb sich und warf völlig aufgeregt alles in die Waagschale, was sich im positiven Sinne für ihn nur bewegen ließ. Längst hatte er ein Netzwerk aus Speichelleckern um sich gescharrt, die er mehr oder weniger regelmäßig mit Pöstchen und Kurzprojekten versorgte, soweit es in seiner Macht stand. Er selbst dümpelte geistlos durch sein Amt, ließ aber die Kofferträger ganze Ausstellungen, neue fachübergreifende Projekte und sogar bei Nacht anberaumte Spezialtransporte erledigen. Hinterher schmückte er mit deren Leistungen sein eigenes Curriculum. Das war schließlich die angemessene Währung, in der sie diese Vetternwirtschaft zu vergelten hatten.
Was waren das in dieser Zeit nur alles für wundervolle Ideen, die ihm nachgesagt wurden. Wie waren die meisten Kollegen im Elfenbeinturm begeistern von Senffs Einfällen. Nur wer die Augen öffnete, sah natürlich, dass die Eingebungen alles andere als wundervoll waren. Und die Eingeweihten wussten, dass sie nicht von Senff waren. Die hielten aber den Mund und dienten viel lieber als Werbeträger ihrer eigenen Einfälle. Sie tingelten durch die Lande und von Kongress zu Kongress, um die vorzügliche Arbeit ihres Herrn über jeden Klee zu loben. Das war natürlich nichts Neues, dienten diese Veranstaltungen über die hohlen Lobgesänge hinaus doch längst schon zu nichts anderem als zu Bebauchpinselungen, der abendlichen Aushandlung von Stellen und dazu, Leute mit seiner Anwesenheit zu ärgern, die man nicht leiden konnte. Wissenschaftliche Neuigkeiten dagegen sollen hier gar nicht ausgetauscht werden, im Gegenteil gilt es, echte Ergebnisse eifersüchtig bis zur „richtigen“ Veröffentlichung zu hüten, bevor sie jemand anderer mit seinem Namen verknüpfen kann. In diesem Berge des Herrn leisteten Senffs Lakaien jedoch ganze Arbeit, seine große Stunde schlug und er erhielt die gewünschte Stelle.
Das lag allerdings mehr daran, dass seines Vorgängers bisheriger Stellvertreter und Wunschkandidat, Dr. Schehlen, die Stellung aus unerfindlichen Gründen abgelehnt hatte. Er war der Meinung gewesen, dass er einen solchen Job auch in der ihm angemessenen Weise hätte ausfüllen sollen. Das hätte mehr als einen normalen Vollzeitjob bedeutet und dazu war Schehlen nicht bereit gewesen. Daher rutschte die Verantwortung für die Besetzung und die eigentliche Entscheidung endgültig zum zuständigen Kultusministerium. Was sich kein denkender Mensch wünschen konnte, war also aus dem Amt heraus nicht mehr zu verhindern. Das dritte Jahrtausend war kaum zwei Jahre alt, da wurde Dr. habil. Maxim Senff zum Direktor eines Denkmalpflegeamtes gemacht.
Als sein Vorgänger Dr. Stüht von dieser Besetzung erfuhr, bekam er einen Schlaganfall, von dessen Folgen er sich bis zu seinem baldigen Sterbebett nicht wieder erholen sollte.
Natürlich führte der vor unberechtigtem Selbstvertrauen nur so strotzende Senff sein neues Amt genauso kläglich wie alles andere, was er je zuvor geleistet hatte. Nur in seinen Augen war dieser Aufstieg schlechterdings unvermeidlich. Seiner Ansicht nach konnte der zur Sonne fliegende Vogel eben nichts dafür, dass die Eule im Dunkeln sitzt. Und Senff hielt sich eindeutig für den zur Sonne fliegenden Vogel.
Dr. Stüht sah vom Krankenbett, wie sein Lebenswerk demontiert wurde, während Senff abermals die Möglichkeit erhielt, ein Amt in Grund und Boden zu richten, zum Unruhm seines eigenen Namens.
Gleichzeitig gelang ihm das Kunststück, in Abwesenheit eine weitere Stelle zu vernichten. Denn die Wiederbesetzung seines alten Stellvertreterpostens im Osten wurde vom Ministerium zunächst eingefroren. In dieser Zeit der Vakanz wurde die für den Stellvertreter anfallende Arbeit von anderen, deutlich minder bezahlten Mitarbeitern gemacht. Überraschenderweise leisteten die Angestellten die Arbeit sogar besser. Daher beschloss das Ministerium nach einem Jahr kurzerhand, die Stelle gänzlich wegfallen zu lassen. Die Begründung war erstaunlich. Natürlich wäre jeder objektive Beobachter zu demselben Schluss gekommen, dass Senff sehr leicht ersetzbar war. Allerdings hätte das Ministerium ihn mit exakt derselben Begründung genauso gut zuvor feuern können, denn notwendig war er in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen. Wer aber in solcher Weise schimpfte, galt im Fach schnell als Kleingeist mit böser Zunge.

Sonntag, 24. Mai 2009

Kapitel 13.1

Die Hochzeitsgesellschaft war inzwischen unter fröhlichen Rufen und Gelächter vom Schloss abgezogen. Maxim hatte sich einen überaus gemütlichen Tag vorgenommen. Er hatte abgesehen von einem Bewerbungsgespräch an diesem Tag keinerlei Termine. Gut, es standen noch ein paar Texte aus, die er möglichst vor seinem weiteren Aufstieg beenden wollte, aber die drängten alle noch nicht. So wollte er für einen Ausstellungstext beweisen, dass die Nibelungensage in Wirklichkeit in Westfalen spielt.
Maxim stand von seinem Bürostuhl auf und stolzierte vor die Bücherwand. Dort ließ er seine Augen auf den Titeln herumspazieren. Erst an einem seiner Werke machte sie Rast. Es war seine Habilitationsschrift.
Senff hatte ein paar Jahre als Assistent und als stellvertretender Direktor gebraucht, dann kam es, wie es kommen musste. Das dritte Jahrtausend war noch jung, da sollte er die Venia legendi, die Lehrbefugnis erhalten. Dabei stand seine Habilitation auf zwei sehr brüchigen Säulen. Die Seminare, die er gehalten hatte, waren peinlich läppisch und die Texte, die er kumulativ einreichte, waren supermiserabel. Genaugenommen waren es sogar nur drei kurze Texte, die er während seiner Assistenzzeit je ein halbes Dutzend Mal geringfügig abgewandelt und in der Folge zahllosen kleinen Zeitschriften andrehen konnte, die man so gerade noch als wissenschaftlich bezeichnen konnte.
Dass die Sammlung angenommen wurde, lag daran, dass Professor Pickenpack sie mit geschlossenen Augen durchwinkte und höchstpersönlich dafür sorgte, dass die Gutachterkommission den Blödsinn absegnete.
Maxim war bei der Antrittsvorlesung zwar stolz gewesen, sah diese akademische Würdigung aber letztlich nur als angemessene Würdigung der ihm innewohnenden Fähigkeiten, die er schließlich als herausragend ansah. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, sich selbst als den uninspirierten und gedankenlosen Geisteszwerg zu sehen, der er in Wirklichkeit immer war.
Maxim streckte die Hand nach der Habilitationsschrift aus und zog sie aus dem Regal. Gierig blätterte er in ihr herum. Er war davon überzeugt, dass es das beste Buch überhaupt sei, nicht nur in seiner Bibliothek. Er setzte sich mit dem Buch wieder an den Schreibtisch und flatterte durch die Seiten. Er blätterte gerne in den Texten, die unter seinem Namen gedruckt waren. Er schwelgte darin und flog über die Zeilen. Maxim bekam Lust auf einen Kaffee. Er stand nicht auf, um seine Sekretärin darum zu bitten. Nein, er beugte sich lediglich vor, nahm das Telefon, wählte sich durch die Wand und bat die dahinter sitzende Frau Scheckow um das Getränk. Die bedankte sich für seinen Wunsch und klopfte nach kurzer Zeit mit einer Tasse in der Hand an Maxims Tür. Er gewährte ihr heiser „Herein!“ und empfing die schwarze Amtsbrühe.
Geräuschlos stellte Frau Scheckow die Tasse auf den Schreibtisch und verschwand wieder aus dem Büro. Maxim beobachtete sie dabei. Die Tasse nahm er erst in die Hand, als sie draußen war. Er schlürfte aus der Kaffeetasse und bekleckerte sich leicht, ohne es zu bemerken. Er stellte die Tasse leise klimpernd auf die Untertasse und nahm von ihr den gewölbten Keks in die Hand. Ohne den Blick von den Zeilen seines Buches zu lösen, tunkte er den Keks zweimal in den Kaffee und führte das schwarz tropfende Gebäck in seinen wulstigen Mund. Erst jetzt hob er die Augen und visierte mit einem leise knisternden Kauen einzelne Ecken der Wandvertäfelung an. Die hatte er noch von seinem Vorgänger übernommen. Maxims Gedanken verloren sich.

Freitag, 22. Mai 2009

Kapitel 12.3

„Nee, Mittow ist durch, ich bin sogar den Bericht schon los. War keine schöne Sache“, sagte ich zu Wieland, „war mehr ’ne politische Grabung.“
„So was hab ich schon gehört“, erwiderte er und wiederholte sich leise pustend, „hab ich schon gehört“, dann nippte er einen Schluck aus seinem Glas.
Nicht weit von uns begann bereits die Reihe der Wartenden, die zum Buffet führte. Irgendjemand in der Reihe erzählte lautstark einen platten Anstehwitz: „Kennt ihr den Unterschied zwischen einer Schlange auf der Autobahn und einer echten Schlange?“ Die Umstehenden blickten groß, dann verriet er: „Bei der Schlange ist das Arschloch hinten!“, und keuchte mit einer furchtbaren Amtslache. Seine dumpfe Umgebung röchelte verzweifelt mit, dann wandten sich alle wieder dem ersehnten Buffet zu.
Ich fragte mich selbst, was ich auf dieser Weihnachtsfeier überhaupt machte. Nach Mittow war mir klar gewesen, nicht mehr für dieses Amt arbeiten zu wollen. Längst hatte ich auch von einer anderen Stelle ein Angebot bekommen. Trotzdem hatte ich noch eine persönlich von Senff unterzeichnete Einladung erhalten und sie angenommen.
Ich mache mir nicht viel aus Stollen, erst recht nicht, wenn er mit Schinken belegt ist, daher nickte ich Wieland verabschiedend zu und ließ mich langsam durch die bellende Menge trudeln. Gesprächsfetzen drangen auf mich ein.
„– hatte heut ’nen freien Tag und hab fünf Stunden lang Holz gehackt, so lang arbeit ich hier sonst nie“, erklärte einer hinter mir.
Senff stand bei einem Studenten, der an derselben Uni studierte, wie Maxim, Robert, Wieland und ich. Ich kannte den Studenten kaum, wusste nur seinen einprägsam Nachnamen: Dante. Er hielt sich an einem Gläschen Sekt fest, Senff mauschelte mit ihm irgendetwas mit unkontrollierter Handgestik.
„– hätt’ nen Anzug anziehn solln“, flüsterte es an meiner Seite.
Dante schaute zu mir, während Senff noch auf ihn einredete, ich blickte zurück. In dem Moment war Senff offenbar fertig mit seinem Traktat, grinste Dante noch einmal diebisch an, erhob sein Glas und drehte sich dann weg, andere zu belästigen. Ich spazierte zu Dante hinüber.
„Grüß dich, du auch hier?“
„Ja, ich suche gerade ein Thema für die Abschlussarbeit“, erklärte er mir.
„Hat Senff dir eins angeboten?“, erkundigte ich mich.
Dante druckste herum: „Ja. – Du kennst doch den Thomas?“
Ich nickte: „Der sitzt hier an seiner Arbeit, stimmt’s? Irgendwas über die Eisenzeit, glaub ich.“
„Genau“, sagte er, „Senff hat mir gerade gesagt, dass der nie fertig wird. Er rechnet wohl damit, dass der bald abspringt, dann soll ich das Thema kriegen.“
Ich staunte und machte große Augen. Abschlussarbeiten entstehen in Ämtern meist nach dem Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“. Studenten arbeiten für die Ämter gratis irgendwelche liegengebliebenen Sachen auf, bekommen dafür mehr oder weniger tolle Themen und manchmal auch einen Platz zum Arbeiten gestellt. Jemandem, der bereits eine gehörige Portion Zeit in die für das Amt kostenlose Bearbeitung eines Themas investiert hatte, hinterherzureden, er würde nie fertig werden, ist schon unfein genug. Dessen Thema aber noch während der Bearbeitung weiterzureichen, erschien mir selbst für Senff übermäßig unverschämt. Zumal ich von Thomas wusste, dass er wiederholt Besprechungstermine mit Senff ausgemacht hatte, die der nie einhielt.
Ich kann Unmut selten verbergen, daher schüttelte ich schwach den Kopf, erhob stumm grüßend mein Glas und murmelte: „Wir sehen uns.“
Dante nickte. Ich wusste, er hatte nicht gelogen. Das war mir trotz aller Überraschung klar. Ich hatte ihn ja eben mit Senff reden sehen. Außerdem denkt sich kein Student eine solche Geschichte aus.
Eine Frau vor mir kreischte: „– jaja, die Zimmerlinde vom Baudenkmal wollte mal was von der Welt sehen.“
Dann sah ich Wernher. Er unterhielt sich gerade fröhlich und mit weit ausholenden Bewegungen mit einem anderen Ehrenamtlichen. Ohne eigentlichen Plan ließ ich mich zu den beiden treiben, wahrscheinlich zog mich ihre entspannte Art an, die in dem Raum voll böser Zungen am ehrlichsten wirkte.
„Der hat sich Sachen jekooft, noch un nöcher, konnt det aber allet nich bezahln.“
„Nabend Wernher“, sagte ich.
„Mönsch, der Chef hier? Ick hab dich jar nich jesehn, na, det is ja fein. Kennste den Klaus?“
Ich schüttelte den Kopf, Wernher stellte uns kurz vor.
„Wo wa ick stehnjebliebn? Ick erzähl jrad von meim Nachban. Jut, also einet Tages kricht der son Schreibn aus’m Ausland. Damit kommta denn zu mir rüber und zeicht mir det. Hier kuck ma, Wernher, wat kann det denn sein? fracht er mich. Ick kuck ma den Brief an und seh sofort: Minsk. Da sarick: Pass ma uff, der is aus Weißrussland, sei da bloooß vorsichtich, du weest doch, von da kommt die Mafia her. Det sarick noch im Scherz, da kricht der richtich Muffensausen, öffnet aber den Umschlach janz vorsichtich und fischt mit zwee Fingern den Brief raus.“
Wernher hielt in der einen Hand ein Sektglas und in der anderen eine mit Schinken belegte Scheibe Stollen. Mit einer gewissenhaften Pantomime gelang es ihm, an der Schinkenscheibe das Brieföffnen vorzuführen.
„Denn faltet der det Briefchen auseinander und sieht: Hier – Inkasso-Unternehmen Sowieso aus Minsk, bitte zahln Sie Ihre Schulden bei dem und dem bis dann und dann. – Da wurd mein Nachba janz bleich und sachte nur: Ick muss ma wat erledijen und verschwand.“ Wernher lachte. „Der hat die Schuldn natürlich sofort bezahlt, weil der Muffensausen hatte. Aber später“, jetzt lachte er richtig, „hör ick, det det son Inkasso-Unternehmen aus Vorpommern is, det in Minsk nur ’ne Sekretärin beschäftigt, die nix andres macht, als die Briefe einzutüten und nach Deutschland zu schicken. Die meisten Leute fallen druff rein und sind so schissich, det die jleich die janze Penunse komplett uff den Tisch packen.“
Klaus und ich lachten, nach einer Pause fragte Wernher mich: „Haste einklich den Plankenreiter schonn jesehn?“
Ich dachte, zum Glück nicht, schüttelte dabei den Kopf und sagte: „Nein, aber der hat doch zu der halben Stelle jetzt ein Stipendium, um seine Diss endlich fertig zu schreiben.“
Plötzlich drehte sich jemand neben uns, den ich nicht kannte, in unsere Gruppe und meinte: „Der Robert hat Urlaub. Der ist in der Türkei und nimmt da an irgendwelchen internationalen Drachenwettkämpfen teil.“
„Drachenwettkämpfe?“, horchte ich auf und fragte noch: „Sollte der nicht lieber an seiner Diss sitzen?“, obwohl ich bereits wusste, dass Plankenreiter schon seit Jahren an der Diss hockte, ohne voranzukommen. Jeder ahnte, dass er nie fertig würde und viele ärgerten sich, dass ein weiteres Mal ein Stipendium an so jemanden gegangen war.
Ich wandte mich wieder Wernher zu: „Wieso suchste den denn?“
„Ach, ick arbeete doch jrad im Magazin“, erklärte er.
Ich hatte schon gehört, dass Wernher einer der Glücklichen war, die regelmäßig auch im Winter im Amt angestellt wurden. Gerüchtehalber soll das an dem Wertesystem Senffs gelegen haben, da Wernher den Vorteil hatte, Fan des „richtigen“ Fußballvereins zu sein. Jedem Außenstehenden wird die Verbindung dieser Komponenten völlig zusammenhanglos erscheinen. Für die von Senff eingestellten Beschäftigten hatten sie damals jedoch handfeste Konsequenzen.
In stärkerem Maße als Baumaßnahmen sind archäologische Ausgrabungen nämlich grundsätzlich von möglichst gutem Wetter und dem Jahresrhythmus der Landwirtschaft abhängig. Dadurch ergibt sich, dass auf Ausgrabungen in Mitteleuropa im Spätsommer sehr viele Leute benötigt werden, die im späten Winter nicht mehr bezahlt werden können. Spätestens ab August/September kommen also viele Arbeiter unter, die im Januar und Februar nicht mehr zu finanzieren sind. Dabei bleiben nach dem Ankauf erforderlicher Werkzeuge zumeist Restgelder von den Drittmitteln übrig, die im Anschluss an die eigentliche Untersuchung für die Nachbearbeitung der Funde genutzt werden. Diese Arbeit hinter den Kulissen wird natürlich so gut wie nie öffentlich wahrgenommen, so dass den unfreiwilligen Finanziers gewöhnlich die Einsicht zu deren Notwendigkeit fehlt. Daher sind die Mittel zumindest so knapp bemessen, dass sie selten reichen, um alle wünschenswerten Arbeiten durchzuführen oder auch nur die Mehrheit der im Sommer angestellten Arbeiter auch den Winter hindurch für das Waschen, Sortieren und Zeichnen der Funde zu entlohnen. Im Gegenteil kann sogar oft nur eine sehr kleine Anzahl von Leuten weiter beschäftigt werden, der Rest muss nach Hause gehen. Dabei vergammelt in Fundmagazinen genügend Fundmaterial, um alle Arbeitslose Deutschlands ein paar Jahre zu beschäftigen.
Bei den Arbeitern begann daher zum Ende der Grabungssaison stets das große Zittern, wer von Maxim noch über den Winter angestellt würde. Er machte es sich leicht, er entschied einfach danach, welchen Fußballverein der Einzelne präferierte. Kein Mensch weiß, wie er darauf gekommen ist, aber er quetschte die Angestellten von Anfang an nach ihrer Vorliebe in diesem Sport aus. Die richtige Antwort verschaffte Pluspunkte und einen relativ sicheren Vertrag über den gesamten Winter hinweg, die falsche Antwort sorgte dagegen für einen unbezahlten Extraurlaub. Nur ausgewiesene und bekennende Atheisten waren bei dem Popenbengel noch geringer angesehen als die Freunde des „falschen“ Vereins.
Wernher erklärte mir nun, warum er Robert suchte: „Weeßte, det Magazin untersteht zwa dem Herrn Dokta Senff“, seit der Beförderung nannte er ihn nur noch Herr Doktor, „aber Plankenreiter mänätscht det doch eijentlich. Un nu wollt ick den wat fraagn.“
„Wie läuft das denn so im Magazin?“, erkundigte ich mich neugierig und Wernher machte ein Gesicht, als jongliere er mit heißen Kartoffeln. Dazu wackelte er mit dem Oberkörper.
„Ma so, ma so“, er wurde so leise, dass das nachbarliche Geplapper seine Stimme so weit übertönte, dass die Umstehenden es schon nicht mehr verstehen konnten. Ich beugte mich zu ihm und hörte: „Det bricht allet zusamm. Ick hab ja letztet Jahr schon im Magazin jearbeit’t, aber nu is det det reinste Chaos. Du kennss doch diese Schienenrejale?“ Ich nickte. „Da fällt ständich wat runter, und keener kricht Zeit, da ma uffzuräum. Überall liecht da der Leichenbrand rum und verteilt sich immer weiter. Der Klaus hier hat mir jestern ’ne Ecke jezeicht, da schimmeln Steinbeile, det war letztet Jahr noch nich.“
„Steinbeile?“, fragte ich nach, und nicht einmal besonders leise. Deshalb versuchte Wernher mit beiden Händen meine Stimme zu dämpfen. Klaus stand wie unbeteiligt neben uns, in seinem Blick mischte sich nervöse Skepsis mit leichter Angst.
„Ja, op de det jlobst oder nich, da schimmeln Steinbeile. So Dinger aus Porfür. Un det sin Form’, die hat noch keen Mensch nich jesehn.“
Mit großen Augen schüttelte ich den Kopf.
„Und andere Form’ ham wa hochpoliert da liegn, da könnste ein’ mit totschlagn. Der ganze Schrott, von dem keener den Fundort nich kennt. Die müssten wa einklich in den Burggrabn kippn, so viel ham wa davon.“
Ich grinste über die Idee, warnte aber gleich: „Da musst du aber aufpassen. Ein Techniker hat mir mal von einem Steinbeildepot erzählt, das sich nach Gesprächen mit den Grundstücksbesitzern als Müllgrube erwies, in die die Erben Opas Sammlung entsorgt haben.“
„Ick weeß“, lächelte jetzt auch Wernher, „ick weeß. Bei mir im Ort is doch son Jutshof. Da ham die Russen fümmenvierzich die Sammlung vom Junker jeplündert und uff dem Feld verteilt. Die Bauern von der LPGe sind jedet Jahr zum Denkmalpfleger und ham die Beile vorbeijebracht. Der frachte nur noch, haste det da und da her? Ja, nickten die, denn wusste der schonn, det det zu der Sammlung jehörte.“
Ich lachte, Klaus auch. Neben uns zog eine Frau erstaunlich laut über die Weihnachtsfeierkluft einer entfernt stehenden Sekretärin her: „Das rosa Ensemble ist ja auch unglaublich.“
Die Pointe in Wernhers Geschichte erinnerte mich an einen sehr bekannten Experimentalarchäologen, der in der Nähe des Instituts arbeitete, an dem ich studiert hatte. Regelmäßig suchte er eine bestimmte Stelle auf, an denen er seine Steingeräte schlug, um die dann andernorts vorzuführen. Spaziergänger, die an dem Werkplatz vorbeikamen, sammelten aber genauso regelmäßig die Reste auf, die beim Schlagen eben anfallen und immer liegen bleiben. Daher war im zuständigen Bodendenkmalpflegeamt stets ein großes Hallo, wenn wieder jemand die Mitarbeiter mit einem Haufen modernem Steinschrott belästigte. Selbstverständlich waren sie gezwungen, das Material erst einmal anzunehmen, denn wie sollte dem Laien verständlich gemacht werden, was diese Funde von alten Abschlägen unterscheidet? Im eigentlichen Sinne sind die modernen Exemplare ja genauso echt wie alte Fundstücke, sie sind nur nicht so alt.
Bevor ich diese Geschichte erzählen konnte, machten Wernher und Klaus jedoch auffallend freundliche Augen und starrten an mir vorbei. Während ich in Gedanken an den Experimentalarchäologen versunken war, hatte sich jemand hinter mir aufgebaut, der offenbar mit mir reden wollte. Ich ahnte, wer da hinter mir stand und drehte mich vorsichtig um. Klaus und Wernher grüßten ihn unterwürfig: „Juten Abend, Herr Dokta.“
„Guten Abend“, flötete Maxim die beiden sanft an. Er wandte sich mir zu und zog mich aus dem Gesprächstrio heraus.
„Ich freu mich, dass du gekommen bist.“
„Ja, warum nicht?“, fragte ich, als ich mein Glas grüßend in die Luft hob. Den Bruchteil eines Augenblicks erwartete ich, dass er Mittow anspräche, wischte den Gedanken aber schnell weg, weil es Senffs angeborenen Scheinfreundlichkeit zuwidergelaufen wäre, Probleme direkt anzusprechen.
Seine matten Augen funkelnden blass, dann fragte er: „Was machst du zurzeit?“
„Och, dies und das“, druckste ich herum, „demnächst habe ich aber wohl ein längeres Projekt von Markus in Aussicht.“
Das war ein gezielter Schlag unter Maxims Gürtellinie. Ich wusste, dass Markus und er nach einem früheren Disput Todfeinde waren, die mit mir in denselben fachlichen Fanggründen fischten. Deswegen hatte Markus mir das Projekt auch angeboten. Und ich war so gehässig, Senff diese Verbindung auf die Nase zu reiben. Ich bin nun einmal nachtragend.
Senff mochte kalt sein, aber er war nicht abgebrüht genug, bei der Erwähnung dieses Namens nicht große Augen machen zu müssen: „Bei Markus?“, fragte er, „Ich glaube, da kann ich dir etwas Besseres besorgen. Nächste Woche muss ich zu Pickenpack ins Institut, der sagte neulich etwas von einem DFG-Projekt. Soll ich ihn mal fragen?“
Ich nickte stumm, obwohl ich bereits ahnte, dass es nichts werden würde. Dafür waren die Beziehung des Kümmerlings nicht ausreichend genug. Ich sollte übrigens recht behalten.
Von der Seite quakte jemand Senff an: „Wie geht’s eigentlich dem Doktor Abel?“
Senff fixierte mich noch für einen Moment und drehte sein Gesicht erst im Laufe der Antwort zu dem mir unbekannten Fragesteller: „Doktor Abel ist tot, der ist vor einem Monat gestorben. Hirnschlag.“
„Tot?“, fragte der Gegenüber, „Mein Gott, das lässt einen ja grübeln. Die Einschläge kommen immer näher.“
Senff kehrte sich nun vollends zu diesem neuen Gesprächspartner und unterhielt sich mit ihm, meine Audienz beim stellvertretenden Direktor war beendet.