Freitag, 9. Oktober 2009

Kapitel 15.2

Als das Essen beendet war, ging Maxim ins Wohnzimmer, um seinen geliebten „Oderschen Hermes“ zu lesen. Er fläzte sich in einen Sessel und schlug die Zeitung vor seinem Gesicht auf, so dass er von seiner Umgebung abgeschottet war. Nicole räumte das Geschirr in die Küche, Jakob war bereits nach oben gegangen, hatte aber die eindringliche Ermahnung von Nicole erhalten, keine laute Musik mehr zu hören. Maxim blätterte sich langsam durch die Zeitung, ihm war längst bewusst geworden, dass er sich spätestens jetzt, als Kandidat für das Kultusministeramt, mit den Inhalten der Tagespolitik zu beschäftigen hatte, obwohl sie ihn persönlich kaum interessierten. Nicole setzte sich auf die Couch neben seinen Sessel, da melodelte das Telefon. Senff blieb sitzen, blickte zu Nicole, die unversehens zum Gerät schritt und den Hörer in die Hand nahm.
„Senff ? – Ja. – Nein, noch nicht. – Doch, ja, er ist da, ich geb ihn dir.“
Sie war bleich geworden, noch bleicher, als sie es ohnehin schon war, und eierte schnellen Schrittes zu Maxim. Der legte die Zeitung zur Seite und stutzte. Mit großen Augen reichte sie ihm wortlos den Hörer und purzelte unrhythmisch über ihre eigenen Füße weiter zum Fernseher, den sie unverzüglich einschaltete. Senff beobachtete alles mit einem bösen Blick, wollte eigentlich nicht von der flüchtigen Lektüre der Zeitung abgehalten werden und erst recht nicht beim Telefonieren durch den Fernseher gestört werden – das wusste sie doch! Er stand auf, um sich vom Fernsehbild wegzudrehen.
Dass es sich um die Stimme von Pinschers persönlichen Assistenten handelte, erkannte Maxim beim ersten Wort, das er aus dem Telefon hörte, dafür hatte Möller oft genug zwischen beiden vermittelt. Als er erfuhr, was Möller ihm zu sagen hatte, wurde der Kultusminister in spe kreidebleich, noch bevor Nicole im Fernseher eine Nachrichtensendung fand. Möller hatte ihm den plötzlichen Tod des Ministerpräsidentenkandidaten mitgeteilt. Maxim schaute schnell zu den Fernsehbildern.
Scheinbare Scheuklappen schränkten Senffs Sinne schlagartig ein. Im Fernseher flackern Bildfetzen eines Halbnackten mit vollgekotztem Hemd. Maxim schien es, in einer Sackgasse mit wachsenden Wänden zu stehen. Ein gekacheltes Bad mit einem aufgedunsenen Körper am Boden in einer Lache Erbrochenem. Schnell korrigierte er sich selbst, nein, das ist keine Sackgasse mit wachsenden Wänden – es ist eher das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Entfernte Stichwörter und Silben schossen an seine Ohren. Von dem Wohnzimmer, in dem er sich gerade noch befunden hatte, erblickte er nur noch Schlaglichter. „Voll-trun-ken!“ Maxim versank, ohne jeden brauchbaren Halt. „Fär-giff-tung!“ Alles entglitt ihm in Sekundenbruchteilen. „Skann-daal!“ Er rutschte und stürzte. „ÄN-DE!“ Er fiel nach unten. Im Geiste griff er reflexartig um sich, aber in der Hauptsache fiel er in einen tiefen Brunnen. Und die spärlichen eingebildeten Griffe an den Wände waren so rutschig, dass er sich nicht halten konnte. Und er wurde auch von keinem Griff gehalten. Nicht mehr. Zuletzt blieb nur er. Er und sein schwarzes Loch. Er fiel und schlug ungebremst auf den Grund auf. Hier blieb er lange sitzen.
Maxim war zurück auf seinen Sessel gefallen. Den Telefonhörer hielt er noch an sein Ohr. Nicole stand zunächst still vor dem Fernseher, hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Nach dem ersten Schock drehte sie sich um und sah Maxim. Er starrte zum Fernseher.
„senff! senff! maxim!“ tönte Möller blass und dünn aus dem Hörer. Doch Maxim hörte ihn nicht, er sah durch den Fernseher hindurch.
Nicole sah einen Mann tief unten im Abgrund. In einem Abgrund, in den niemals wieder ein Sonnenstrahl hindringen würde. Sie nahm Maxim den Hörer ab, sprach kurz zu Möller und legte auf. Maxim blickte nicht nur durch den Fernseher, sondern sogar durch die Wand. Nicole ging zu ihm, stellte sich vor ihn, griff nach seinen Schultern, schüttelte ihn. Sie rief, sie schrie seinen Namen. Doch Maxim reagierte nicht. Er hatte schlagartig begriffen. Er erkannte nun, dass der Teufel seinen Schuldnern die Rechnung dann präsentiert, wenn es ihnen am wohlsten ist.