Mittwoch, 21. Oktober 2009

Kapitel 16.2

Aufgrund seines Amtes war er natürlich längst unkündbar, aber um auf eine andere Stelle weggelobt zu werden, fehlten ihm die Verbindungen. Seine Funktion als Direktor stagnierte. Er ließ seinen Stellvertreter Plankenreiter mehr und mehr auch die repräsentativen Arbeiten übernehmen und wurde vollends tatenlos.
Von Bekannten erfuhr ich, dass Senff selbst in seinen lichteren Momenten nur noch durchs Amt irrgeisterte. Er bastelte scheinbar an irgendwelchen Projekten herum, die er niemals beendete, tat so, als arbeite er Altgrabungen auf, deren Bearbeitung er dem Ausgräber auf dessen Sterbebett versprochen haben wollte. Dazu fegte er durch die Gänge, störte jede Sitzung und Besprechung. Entdeckte er irgendwo ein Staubkörnchen, schoss er zur Abstellkammer, die eine Zeit lang Schehlens Arbeitsraum gewesen war, um einen Staubsauger herauszuholen. Dann saugte er wild fluchend das halbe Amt von den Akten- über die Kartenschränke bis zu den Zeichentischen steril. Doch in dem Maße, wie er den Staub im Amt verringerte, schwand auch sein dortiger Einfluss. Die genervten und teilweise verängstigten Angestellten gingen ihm aus dem Weg, soweit sie es vermochten, Anfragen richteten sie nur noch an Plankenreiter. Der fügte sich in seine Rolle, eigentlich kam ihm die Konstellation sogar entgegen. Wäre Senff aufgestiegen, hätte Robert niemals eine Chance gehabt, Amtsleiter zu werden. Ein Außenstehender, mindestens ein promovierter, besser ein habilitierter, von denen es ohnehin viel zu viele gab, hätte dessen Stelle übernommen. Auf diesem Wege aber konnte Robert das Amt leiten, ohne auf dem Papier die Qualifikation mitzubringen. Dabei muss ihm zugestanden werden, dass er in dem Maße, wie er früher stinkefaul gewesen war, nun in seine Position hineinwuchs und sie halbwegs angemessen ausfüllte.
Senff legte dagegen lediglich noch Wert darauf, auf Kongressen zu erscheinen. Dazu erschien er allen wie ein Irrer, der in regelmäßigen Abständen sein brüchiges Haar kämmte, das seinen Schädel nur noch karg bedeckte. War er Zuhörer einer Präsentation, erkannte er nicht einmal mehr, wann die Bilder an der Projektionswand scharf waren. Er hob dann immer einen Arm, formte mit der Hand ein C und versuchte durch drehende Bewegungen zu vermitteln, dass der Diaprojektor scharf zu stellen sei. Niemand reagierte jemals darauf.
Ich begegnete ihm zum letzten Mal eines Abends vor einem Vortrag in unserem alten Institut, da lief ich gerade an der Toilette vorbei. Er stand in der geöffneten Tür mit seinem roten Schal, mit dem er sich noch immer schmückte, und suchte gehetzt den Lichtschalter. Er fand ihn einfach nicht. Ich grüßte kurz, schaltete ihm das Licht ein, aber er erkannte mich nicht einmal mehr. Als er später nach mir zum Vortrag erschien, bedankte er sich bei mir vor dem Plenum lautstark dafür, dass ich ihm auf der Toilette geholfen hatte.
Ich setzte mich ins Plenum und dachte darüber nach, dass man keinen Moment darüber verlieren sollte, sich über ihn oder die heutige Zeit überhaupt zu wundern. Beides ist viel zu exzentrisch.

Ende