Donnerstag, 8. Oktober 2009

Kapitel 15.1

Ruhe lag über der Einfamilienhaussiedlung, als Senff mit seinem Kleinwagen vor das biedere, eigelbfarben verklinkerte Haus vorfuhr. Er ging zur Haustür, draußen war niemand zu sehen, lediglich zwei oder drei Autos von entfernten Nachbarn passierten Maxims Grundstück auf dem Heimweg. Mit klapperndem Schlüssel trapste er zur Haustür. Kaum hatte er sie geöffnet, polterte ihm schon von oben aus dem Zimmer seines Sohnes dumpfes Klopfgedröhne mit wechselndem Lautrauschen und zurückgepfiffenen Saiten entgegen. Er empfand die Töne, die erst seit wenigen Monaten durch das Haus strömten, einfach nur als unrhythmischen Lärm. Er hatte sich ohnehin nie etwas aus Musik gemacht. Alles klang ihm gleich. Als seine Mitschüler in den Welten Pink Floyds versanken und für die Zeit nach dem Abi den Plan erdachten, mit einer Stereoanlage zum Snæfellsnessjökull zu fahren, um dort die Atom Heart Mother Suite zu hören, war Maxim längst kein Teil mehr dieser Welt. Doch er suchte sich keineswegs musikalischen Ausgleich in der Klassik. Nein, obwohl das Thema unausgesprochen blieb, war Musik in seinem puritanischen Elternhaus grundsätzlich verpönt. Am liebsten hätte sein gestrenger Vater noch in der Kirche auf Orgel und Gesang verzichtet.
Maxim stolperte in der Garderobe über das schwarze Barett seines Sohnes, das der neuerdings trug. Er konnte nicht nachvollziehen, was das sollte. Genauso wenig, wie sich ihm die Musik erschloss, fehlte ihm auch jegliches Verständnis dafür, in einer Popkultur zu versinken. Den Drang dazu hatte er nie verspürt.
Maxim legte Tasche, Mantel und Sakko ab, da kam ihm schon Nicole entgegen.
„Da bist du ja, Knullefutz“, begrüßte sie ihn sanft erfreut. Ohne ihn zu sehr zu berühren, schnatzte sie einmal in der Nähe seiner Wange, „das Essen ist auch gleich fertig.“
Maxim machte nur ein müdes „Hm?“ und zog seine Schuhe aus.
Nicole ruderte schon wieder aus dem Flur, stellte sich an die Treppe und singsangte gegen den bollernden Klangflickenteppich: „Ja-haques!“ Von oben dröhnte nur ein erstickt gesprochener Schreigesang mit unklaren Worten zurück.
„JAQUES!“, rief Nicole nun laut und als das nichts half, bellte sie „JA-KOPP!“ die Stufen nach oben.
Maxim sah müde zu ihr herüber, schlüpfte in seine Pantoffeln, ging zu ihr und lief an ihr vorbei ins Esszimmer.
„Was gibt es denn?“, fragte er im Vorbeigehen.
Nicole drehte ihr Gesicht kurz zu ihm: „Ich habe Kotelett gemacht, mit Kartoffeln und Erbsen und Möhren.“
Maxim nickte stumm, als er das Gericht erfuhr.
Oben öffnete sich nun eine Tür, aus dem zerberstenden Taktgeprügel wurde lautes Kreischen. Dazwischen rief jemand: „Was gibt’s denn, Mama? Ich will Musik hören!“
„Das Essen ist fertig“, erwiderte Nicole, „komm jetzt runter!“
„Ich habe keinen Hunger!“
„Dann kommst du und setzt dich an den Tisch!“
An der Treppe entstand eine Pause, durch die gesägte Gitarrenriffs atonal über die Tonleiter sprangen. Dann wechselte unwillkürlich das Tempo und Nicole hörte nur noch unruhiges Gemurmel. Sie sah, dass Jakob in sein Zimmer zurückging und den Lärm beendete. Nicole drehte sich zufrieden um und ging in die Küche. Von dort aus bemerkte sie, dass Maxim schon am Tisch saß, er stützte die Ellbogen auf den Tisch und hatte die Hände übereinandergefaltet.
„Ist das Essen fertig oder kann ich vorher noch Zeitung lesen?“, fragte er.
„Nein, nein, das Essen ist schon fertig.“
Maxim war kaum in der Lage, die Kochgerüche wahrzunehmen, geschweige denn zu identifizieren. Er fragte: „Wo hast du die Zeitung denn liegen?“
„Im Wohnzimmer, mein Mauzibubu“, rief es aus der Küche, „aber du brauchst jetzt nicht mehr damit anzufangen. Das Essen ist fertig.“
Von der Treppe waren schwere, klumpig polternde Schritte zu hören.
„Jaques!“, rief Nicole, „Du sollst im Haus keine Schuhe tragen! Du machst die ganze Treppe kaputt!“
Jakob schwieg, mit einem bestimmten Schritt ging der hagere Teenager zu seinem Platz und setzte sich hin. Maxim schaute ihn an. Sein Sohn hatte sich in den letzten Monaten verändert, er hatte das zuvor kaum wahrgenommen. Maxim wurde bewusst, dass er in Zukunft noch viel weniger mitbekommen würde, wenn er erst einmal Kultusminister wäre.
Der Tisch war bereits gedeckt, Nicole trug einen großen Teller mit mehreren Koteletts ins Wohnzimmer.
„Ich will kein Fleisch“, sagte Jakob, „ich bin jetzt Vegetarier.“
Maxim schaute eisig zu seinem Sohn, er verstand ihn nicht. Nicole federte bereits wieder in die Küche zurück, um das Gemüse zu holen.
„Was sind das eigentlich für Marotten?“, fragte Maxim. Jakob wackelte mit seinem Kopf, um den Pony seiner schwarz gefärbten Haare aufzuschütteln.
Maxim erblickte die vorher kaum sichtbaren Augen seines Sohnes, die mit schwarzem Kajal umzingelt waren. Auf dem bleichen Gesicht hoben sie sich besonders kräftig ab.
„Bist du etwa geschminkt?“, fragte Maxim, aber Jakob schwieg. Er verschränkte die Arme und zog die Ärmel seines lila-schwarz geringelten Sweatshirts mit den Fingern weit über die Handgelenke. Nicole kam ins Esszimmer, stellte die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse ab und setzte sich. Von ihrem Platz gegenüber von Maxim nahm sie dessen Teller in die Hand und füllte ihn auf.
„Dein Sohn ist geschminkt“, sagte Maxim. Nicole schaute leicht nervös, sagte aber nichts. Sie stellte den Teller vor Maxim und bat Jakob mit einer ladenden Handbewegung, ihr seinen anzureichen.
Jakob reichte ihr seinen Teller an und sagte: „Aber nur Kartoffeln und Gemüse.“ Dabei rutschte das Sweatshirt ein wenig auf den Unterarm zurück. Oberflächliche Kratznarben stachen bei dieser hastigen Bewegung hervor, Maxim bemerkte sie nicht. Er begann damit, sein Kotelett zu zerschneiden und wollte lieber wissen: „Was ist das eigentlich für ein Lärm, den du da jetzt immer hörst?“
Jakob schwieg. Nicole stellte ihm seinen Teller hin und füllte sich selbst auf.
„Und was soll das für eine Frisur sein?“, fragte Maxim dann.
„Das trägt man jetzt so“, erklärte der Sohn.
Nicole versuchte Harmonie zu erzeugen und stand ihm endlich bei: „Es sieht zumindest gepflegt aus.“
Maxim gefiel es trotzdem nicht. Diese herausrasierten Zacken hinten und der Pony, der fast bis auf die herausstechenden Wangenknochen reichte, das gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber Maxim wusste nicht, wie er sich dazu verhalten sollte. Er wusste nicht einmal, ob er überhaupt darauf reagieren sollte. Schließlich wäre er doch bald sowieso kaum noch zu Hause.