Freitag, 25. September 2009

Kapitel 14.4

Es klopfte. Senff stand noch immer am Fenster. Er drehte den Kopf zur Tür und rief „Herein!“ Frau Scheckow öffnete die Tür nur zu einem Drittel und lehnte sich mit einem Stapel Papiere herein.
„Ich habe hier die heutigen Ausdrucke Ihrer E-Mails, Herr Direktor.“
„Ah, ja“, machte Senff und richtete seinen ganzen Körper zur Tür aus, „legen Sie sie dahin.“ Er zeigte auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme. Erst als seine Sekretärin das Büro verlassen hatte, ging er wieder zu seinem Arbeitsplatz.
Ein erstaunlich kleiner Stapel heute, staunte er in Gedanken. Natürlich waren es nicht alle E-Mails, Spam und Belanglosigkeiten waren bereits von jemandem herausgefiltert.
Maxim setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und begann, die Ausdrucke zu lesen. Er genoss die Segnungen der modernen Technik. Er stand der Technik sehr aufgeschlossen gegenüber, für ihre Benutzung war er allerdings zu dämlich. Das von ihm geleitete Amt war zwar eines der ersten deutschen Denkmalpflegeämter, die mit Computern arbeiteten, darum hatte sich aber noch sein Vorgänger Dr. Stüht verdient gemacht. Senff nutzte die übernommene Technik zwar, bremste sie jedoch durch sein Unverständnis zugleich massiv aus. Erst seit einem Jahr war es den Mitarbeitern gestattet, die Rechner mit CD-ROM-Laufwerken auszurüsten. Zuvor schimpfte der geistige Ungelenk seinem Untergebenen Robert gegenüber stets auf die „Firusse und Dieler, die die Computer zerstören wollen!“
Symbolhaft für diesen Unverstand war sein Umgang mit der elektronischen Post. Wie sie funktionierte, begriff er überhaupt nicht. Wollte er sie lesen, ließ er sie sich von seiner Sekretärin ausdrucken. Galt es, eine Antwort zu versenden, ließ er sie von Frau Scheckow schreiben und schicken. Sein Arbeitsbeitrag bestand hauptsächlich darin, dass er die Ausdrucke eigenhändig in Aktenordner sortierte, die er im Büro verstaute.
Inzwischen las er nur noch die an ihn selbst gerichteten E-Mails. Bis vor kurzem ließ er sich dagegen auch die elektronische Korrespondenz seiner Angestellten ausdrucken. Angesichts der sonstigen Leistung, die Senff im Amt vollbrachte, hatte er schließlich genügend Zeit gehabt, sich anderen Dingen zuzuwenden. Schnell richtete sich da sein Augenmerk auf das, was seine Mitarbeiter so machten. Denn er war seiner Umwelt gegenüber in gleichem Maße misstrauisch, wie er davon überzeugt war, eine unerreichte Koryphäe zu sein.
Immerhin hatte er durch die Lektüre der Mails erstaunliche Details über das Leben und die Ansichten seiner Mitarbeiter erfahren: Personalrat Trudolf hetzte hin und wieder einzelne Mitarbeiter auf. Die Gleichstellungsbeauftragte Frau Attermann von der Kunstabteilung verschickte im Haus anzügliche Scherzmails. Spasst versuchte wiederholt, Mitarbeiter zur Teilnahme an seinem Bibelkreis zu überzeugen – meist erfolglos, wie Senff aus den Antworten erfuhr. Dr. Fabricius gab seinen Kollegen gegenüber damit an, welche Erfolge er im Kaninchenzüchterverein errang. Die füllige Frau Schlamers empfahl jede Woche aufs Neue Diätanleitungen, die sie an verschiedene Damen im Haus versandte. Herr Keulenkotz erwies sich als großes Schandmaul, der stets den neuesten Amtstratsch verteilte, dadurch Senff aber als Quelle für Schmutz umso wichtiger erschien. Dank Keulenkotz war er zumindest stets darüber im Bilde, wer denn gerade mit wem techtelmechtelte.
Natürlich war dieses Hinterherspionieren nicht nur unschön, es war sogar verboten. Als den Angestellten vor kurzem schwante, was an der Amtspitze ablief, ließen die Aufrechten unter ihnen daher nicht viel Zeit verstreichen, bis sie entsprechende dienstrechtliche Schritte einleiteten. Da war es dann besonders dumm, dass Senff die ausgedruckten E-Mails seiner Angestellten ausgerechnet in seinem Büro hortete. Aber zu diesem Zeitpunkt konnte Senff eben bereits auf seinen Kumpel Pinscher rechnen, der als Innenminister beste Kontakte zum Justizminister hatte. Schließlich sollten bald die Landtagswahlen stattfinden, für die Pinscher als Ministerpräsidentenkandidat aufgestellt war. Der Sozialdemokrat konnte also keine Skandale gebrauchen, zumal er eigene Süppchen am Kochen hatte. Er sah sich daher veranlasst, für Ordnung zu sorgen, noch bevor eine Zeitung eine „Water-Mail“-Affäre aus der Geschichte machen konnte. Senff fallen zu lassen, war zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls selbst für Pinscher unmöglich, das hätte dem Wahlerfolg nur geschadet. Aber die beiden waren ohnehin bereits zu eng befreundet, als dass Senff sich noch hätte Sorgen machen müssen. Es war jedoch unausweichlich, das Problem aus der Welt zu schaffen. Senff musste sein Treiben beenden und die gesammelten E-Mails herausrücken, während der mit Pinscher verbandelte Justizminister dafür sorgte, dass die Unterlagen bei der Staatsanwaltschaft unter dem Deckel gehalten wurden und belastendes Beweismaterial kurzfristig verschwand.