Freitag, 22. Mai 2009

Kapitel 12.3

„Nee, Mittow ist durch, ich bin sogar den Bericht schon los. War keine schöne Sache“, sagte ich zu Wieland, „war mehr ’ne politische Grabung.“
„So was hab ich schon gehört“, erwiderte er und wiederholte sich leise pustend, „hab ich schon gehört“, dann nippte er einen Schluck aus seinem Glas.
Nicht weit von uns begann bereits die Reihe der Wartenden, die zum Buffet führte. Irgendjemand in der Reihe erzählte lautstark einen platten Anstehwitz: „Kennt ihr den Unterschied zwischen einer Schlange auf der Autobahn und einer echten Schlange?“ Die Umstehenden blickten groß, dann verriet er: „Bei der Schlange ist das Arschloch hinten!“, und keuchte mit einer furchtbaren Amtslache. Seine dumpfe Umgebung röchelte verzweifelt mit, dann wandten sich alle wieder dem ersehnten Buffet zu.
Ich fragte mich selbst, was ich auf dieser Weihnachtsfeier überhaupt machte. Nach Mittow war mir klar gewesen, nicht mehr für dieses Amt arbeiten zu wollen. Längst hatte ich auch von einer anderen Stelle ein Angebot bekommen. Trotzdem hatte ich noch eine persönlich von Senff unterzeichnete Einladung erhalten und sie angenommen.
Ich mache mir nicht viel aus Stollen, erst recht nicht, wenn er mit Schinken belegt ist, daher nickte ich Wieland verabschiedend zu und ließ mich langsam durch die bellende Menge trudeln. Gesprächsfetzen drangen auf mich ein.
„– hatte heut ’nen freien Tag und hab fünf Stunden lang Holz gehackt, so lang arbeit ich hier sonst nie“, erklärte einer hinter mir.
Senff stand bei einem Studenten, der an derselben Uni studierte, wie Maxim, Robert, Wieland und ich. Ich kannte den Studenten kaum, wusste nur seinen einprägsam Nachnamen: Dante. Er hielt sich an einem Gläschen Sekt fest, Senff mauschelte mit ihm irgendetwas mit unkontrollierter Handgestik.
„– hätt’ nen Anzug anziehn solln“, flüsterte es an meiner Seite.
Dante schaute zu mir, während Senff noch auf ihn einredete, ich blickte zurück. In dem Moment war Senff offenbar fertig mit seinem Traktat, grinste Dante noch einmal diebisch an, erhob sein Glas und drehte sich dann weg, andere zu belästigen. Ich spazierte zu Dante hinüber.
„Grüß dich, du auch hier?“
„Ja, ich suche gerade ein Thema für die Abschlussarbeit“, erklärte er mir.
„Hat Senff dir eins angeboten?“, erkundigte ich mich.
Dante druckste herum: „Ja. – Du kennst doch den Thomas?“
Ich nickte: „Der sitzt hier an seiner Arbeit, stimmt’s? Irgendwas über die Eisenzeit, glaub ich.“
„Genau“, sagte er, „Senff hat mir gerade gesagt, dass der nie fertig wird. Er rechnet wohl damit, dass der bald abspringt, dann soll ich das Thema kriegen.“
Ich staunte und machte große Augen. Abschlussarbeiten entstehen in Ämtern meist nach dem Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“. Studenten arbeiten für die Ämter gratis irgendwelche liegengebliebenen Sachen auf, bekommen dafür mehr oder weniger tolle Themen und manchmal auch einen Platz zum Arbeiten gestellt. Jemandem, der bereits eine gehörige Portion Zeit in die für das Amt kostenlose Bearbeitung eines Themas investiert hatte, hinterherzureden, er würde nie fertig werden, ist schon unfein genug. Dessen Thema aber noch während der Bearbeitung weiterzureichen, erschien mir selbst für Senff übermäßig unverschämt. Zumal ich von Thomas wusste, dass er wiederholt Besprechungstermine mit Senff ausgemacht hatte, die der nie einhielt.
Ich kann Unmut selten verbergen, daher schüttelte ich schwach den Kopf, erhob stumm grüßend mein Glas und murmelte: „Wir sehen uns.“
Dante nickte. Ich wusste, er hatte nicht gelogen. Das war mir trotz aller Überraschung klar. Ich hatte ihn ja eben mit Senff reden sehen. Außerdem denkt sich kein Student eine solche Geschichte aus.
Eine Frau vor mir kreischte: „– jaja, die Zimmerlinde vom Baudenkmal wollte mal was von der Welt sehen.“
Dann sah ich Wernher. Er unterhielt sich gerade fröhlich und mit weit ausholenden Bewegungen mit einem anderen Ehrenamtlichen. Ohne eigentlichen Plan ließ ich mich zu den beiden treiben, wahrscheinlich zog mich ihre entspannte Art an, die in dem Raum voll böser Zungen am ehrlichsten wirkte.
„Der hat sich Sachen jekooft, noch un nöcher, konnt det aber allet nich bezahln.“
„Nabend Wernher“, sagte ich.
„Mönsch, der Chef hier? Ick hab dich jar nich jesehn, na, det is ja fein. Kennste den Klaus?“
Ich schüttelte den Kopf, Wernher stellte uns kurz vor.
„Wo wa ick stehnjebliebn? Ick erzähl jrad von meim Nachban. Jut, also einet Tages kricht der son Schreibn aus’m Ausland. Damit kommta denn zu mir rüber und zeicht mir det. Hier kuck ma, Wernher, wat kann det denn sein? fracht er mich. Ick kuck ma den Brief an und seh sofort: Minsk. Da sarick: Pass ma uff, der is aus Weißrussland, sei da bloooß vorsichtich, du weest doch, von da kommt die Mafia her. Det sarick noch im Scherz, da kricht der richtich Muffensausen, öffnet aber den Umschlach janz vorsichtich und fischt mit zwee Fingern den Brief raus.“
Wernher hielt in der einen Hand ein Sektglas und in der anderen eine mit Schinken belegte Scheibe Stollen. Mit einer gewissenhaften Pantomime gelang es ihm, an der Schinkenscheibe das Brieföffnen vorzuführen.
„Denn faltet der det Briefchen auseinander und sieht: Hier – Inkasso-Unternehmen Sowieso aus Minsk, bitte zahln Sie Ihre Schulden bei dem und dem bis dann und dann. – Da wurd mein Nachba janz bleich und sachte nur: Ick muss ma wat erledijen und verschwand.“ Wernher lachte. „Der hat die Schuldn natürlich sofort bezahlt, weil der Muffensausen hatte. Aber später“, jetzt lachte er richtig, „hör ick, det det son Inkasso-Unternehmen aus Vorpommern is, det in Minsk nur ’ne Sekretärin beschäftigt, die nix andres macht, als die Briefe einzutüten und nach Deutschland zu schicken. Die meisten Leute fallen druff rein und sind so schissich, det die jleich die janze Penunse komplett uff den Tisch packen.“
Klaus und ich lachten, nach einer Pause fragte Wernher mich: „Haste einklich den Plankenreiter schonn jesehn?“
Ich dachte, zum Glück nicht, schüttelte dabei den Kopf und sagte: „Nein, aber der hat doch zu der halben Stelle jetzt ein Stipendium, um seine Diss endlich fertig zu schreiben.“
Plötzlich drehte sich jemand neben uns, den ich nicht kannte, in unsere Gruppe und meinte: „Der Robert hat Urlaub. Der ist in der Türkei und nimmt da an irgendwelchen internationalen Drachenwettkämpfen teil.“
„Drachenwettkämpfe?“, horchte ich auf und fragte noch: „Sollte der nicht lieber an seiner Diss sitzen?“, obwohl ich bereits wusste, dass Plankenreiter schon seit Jahren an der Diss hockte, ohne voranzukommen. Jeder ahnte, dass er nie fertig würde und viele ärgerten sich, dass ein weiteres Mal ein Stipendium an so jemanden gegangen war.
Ich wandte mich wieder Wernher zu: „Wieso suchste den denn?“
„Ach, ick arbeete doch jrad im Magazin“, erklärte er.
Ich hatte schon gehört, dass Wernher einer der Glücklichen war, die regelmäßig auch im Winter im Amt angestellt wurden. Gerüchtehalber soll das an dem Wertesystem Senffs gelegen haben, da Wernher den Vorteil hatte, Fan des „richtigen“ Fußballvereins zu sein. Jedem Außenstehenden wird die Verbindung dieser Komponenten völlig zusammenhanglos erscheinen. Für die von Senff eingestellten Beschäftigten hatten sie damals jedoch handfeste Konsequenzen.
In stärkerem Maße als Baumaßnahmen sind archäologische Ausgrabungen nämlich grundsätzlich von möglichst gutem Wetter und dem Jahresrhythmus der Landwirtschaft abhängig. Dadurch ergibt sich, dass auf Ausgrabungen in Mitteleuropa im Spätsommer sehr viele Leute benötigt werden, die im späten Winter nicht mehr bezahlt werden können. Spätestens ab August/September kommen also viele Arbeiter unter, die im Januar und Februar nicht mehr zu finanzieren sind. Dabei bleiben nach dem Ankauf erforderlicher Werkzeuge zumeist Restgelder von den Drittmitteln übrig, die im Anschluss an die eigentliche Untersuchung für die Nachbearbeitung der Funde genutzt werden. Diese Arbeit hinter den Kulissen wird natürlich so gut wie nie öffentlich wahrgenommen, so dass den unfreiwilligen Finanziers gewöhnlich die Einsicht zu deren Notwendigkeit fehlt. Daher sind die Mittel zumindest so knapp bemessen, dass sie selten reichen, um alle wünschenswerten Arbeiten durchzuführen oder auch nur die Mehrheit der im Sommer angestellten Arbeiter auch den Winter hindurch für das Waschen, Sortieren und Zeichnen der Funde zu entlohnen. Im Gegenteil kann sogar oft nur eine sehr kleine Anzahl von Leuten weiter beschäftigt werden, der Rest muss nach Hause gehen. Dabei vergammelt in Fundmagazinen genügend Fundmaterial, um alle Arbeitslose Deutschlands ein paar Jahre zu beschäftigen.
Bei den Arbeitern begann daher zum Ende der Grabungssaison stets das große Zittern, wer von Maxim noch über den Winter angestellt würde. Er machte es sich leicht, er entschied einfach danach, welchen Fußballverein der Einzelne präferierte. Kein Mensch weiß, wie er darauf gekommen ist, aber er quetschte die Angestellten von Anfang an nach ihrer Vorliebe in diesem Sport aus. Die richtige Antwort verschaffte Pluspunkte und einen relativ sicheren Vertrag über den gesamten Winter hinweg, die falsche Antwort sorgte dagegen für einen unbezahlten Extraurlaub. Nur ausgewiesene und bekennende Atheisten waren bei dem Popenbengel noch geringer angesehen als die Freunde des „falschen“ Vereins.
Wernher erklärte mir nun, warum er Robert suchte: „Weeßte, det Magazin untersteht zwa dem Herrn Dokta Senff“, seit der Beförderung nannte er ihn nur noch Herr Doktor, „aber Plankenreiter mänätscht det doch eijentlich. Un nu wollt ick den wat fraagn.“
„Wie läuft das denn so im Magazin?“, erkundigte ich mich neugierig und Wernher machte ein Gesicht, als jongliere er mit heißen Kartoffeln. Dazu wackelte er mit dem Oberkörper.
„Ma so, ma so“, er wurde so leise, dass das nachbarliche Geplapper seine Stimme so weit übertönte, dass die Umstehenden es schon nicht mehr verstehen konnten. Ich beugte mich zu ihm und hörte: „Det bricht allet zusamm. Ick hab ja letztet Jahr schon im Magazin jearbeit’t, aber nu is det det reinste Chaos. Du kennss doch diese Schienenrejale?“ Ich nickte. „Da fällt ständich wat runter, und keener kricht Zeit, da ma uffzuräum. Überall liecht da der Leichenbrand rum und verteilt sich immer weiter. Der Klaus hier hat mir jestern ’ne Ecke jezeicht, da schimmeln Steinbeile, det war letztet Jahr noch nich.“
„Steinbeile?“, fragte ich nach, und nicht einmal besonders leise. Deshalb versuchte Wernher mit beiden Händen meine Stimme zu dämpfen. Klaus stand wie unbeteiligt neben uns, in seinem Blick mischte sich nervöse Skepsis mit leichter Angst.
„Ja, op de det jlobst oder nich, da schimmeln Steinbeile. So Dinger aus Porfür. Un det sin Form’, die hat noch keen Mensch nich jesehn.“
Mit großen Augen schüttelte ich den Kopf.
„Und andere Form’ ham wa hochpoliert da liegn, da könnste ein’ mit totschlagn. Der ganze Schrott, von dem keener den Fundort nich kennt. Die müssten wa einklich in den Burggrabn kippn, so viel ham wa davon.“
Ich grinste über die Idee, warnte aber gleich: „Da musst du aber aufpassen. Ein Techniker hat mir mal von einem Steinbeildepot erzählt, das sich nach Gesprächen mit den Grundstücksbesitzern als Müllgrube erwies, in die die Erben Opas Sammlung entsorgt haben.“
„Ick weeß“, lächelte jetzt auch Wernher, „ick weeß. Bei mir im Ort is doch son Jutshof. Da ham die Russen fümmenvierzich die Sammlung vom Junker jeplündert und uff dem Feld verteilt. Die Bauern von der LPGe sind jedet Jahr zum Denkmalpfleger und ham die Beile vorbeijebracht. Der frachte nur noch, haste det da und da her? Ja, nickten die, denn wusste der schonn, det det zu der Sammlung jehörte.“
Ich lachte, Klaus auch. Neben uns zog eine Frau erstaunlich laut über die Weihnachtsfeierkluft einer entfernt stehenden Sekretärin her: „Das rosa Ensemble ist ja auch unglaublich.“
Die Pointe in Wernhers Geschichte erinnerte mich an einen sehr bekannten Experimentalarchäologen, der in der Nähe des Instituts arbeitete, an dem ich studiert hatte. Regelmäßig suchte er eine bestimmte Stelle auf, an denen er seine Steingeräte schlug, um die dann andernorts vorzuführen. Spaziergänger, die an dem Werkplatz vorbeikamen, sammelten aber genauso regelmäßig die Reste auf, die beim Schlagen eben anfallen und immer liegen bleiben. Daher war im zuständigen Bodendenkmalpflegeamt stets ein großes Hallo, wenn wieder jemand die Mitarbeiter mit einem Haufen modernem Steinschrott belästigte. Selbstverständlich waren sie gezwungen, das Material erst einmal anzunehmen, denn wie sollte dem Laien verständlich gemacht werden, was diese Funde von alten Abschlägen unterscheidet? Im eigentlichen Sinne sind die modernen Exemplare ja genauso echt wie alte Fundstücke, sie sind nur nicht so alt.
Bevor ich diese Geschichte erzählen konnte, machten Wernher und Klaus jedoch auffallend freundliche Augen und starrten an mir vorbei. Während ich in Gedanken an den Experimentalarchäologen versunken war, hatte sich jemand hinter mir aufgebaut, der offenbar mit mir reden wollte. Ich ahnte, wer da hinter mir stand und drehte mich vorsichtig um. Klaus und Wernher grüßten ihn unterwürfig: „Juten Abend, Herr Dokta.“
„Guten Abend“, flötete Maxim die beiden sanft an. Er wandte sich mir zu und zog mich aus dem Gesprächstrio heraus.
„Ich freu mich, dass du gekommen bist.“
„Ja, warum nicht?“, fragte ich, als ich mein Glas grüßend in die Luft hob. Den Bruchteil eines Augenblicks erwartete ich, dass er Mittow anspräche, wischte den Gedanken aber schnell weg, weil es Senffs angeborenen Scheinfreundlichkeit zuwidergelaufen wäre, Probleme direkt anzusprechen.
Seine matten Augen funkelnden blass, dann fragte er: „Was machst du zurzeit?“
„Och, dies und das“, druckste ich herum, „demnächst habe ich aber wohl ein längeres Projekt von Markus in Aussicht.“
Das war ein gezielter Schlag unter Maxims Gürtellinie. Ich wusste, dass Markus und er nach einem früheren Disput Todfeinde waren, die mit mir in denselben fachlichen Fanggründen fischten. Deswegen hatte Markus mir das Projekt auch angeboten. Und ich war so gehässig, Senff diese Verbindung auf die Nase zu reiben. Ich bin nun einmal nachtragend.
Senff mochte kalt sein, aber er war nicht abgebrüht genug, bei der Erwähnung dieses Namens nicht große Augen machen zu müssen: „Bei Markus?“, fragte er, „Ich glaube, da kann ich dir etwas Besseres besorgen. Nächste Woche muss ich zu Pickenpack ins Institut, der sagte neulich etwas von einem DFG-Projekt. Soll ich ihn mal fragen?“
Ich nickte stumm, obwohl ich bereits ahnte, dass es nichts werden würde. Dafür waren die Beziehung des Kümmerlings nicht ausreichend genug. Ich sollte übrigens recht behalten.
Von der Seite quakte jemand Senff an: „Wie geht’s eigentlich dem Doktor Abel?“
Senff fixierte mich noch für einen Moment und drehte sein Gesicht erst im Laufe der Antwort zu dem mir unbekannten Fragesteller: „Doktor Abel ist tot, der ist vor einem Monat gestorben. Hirnschlag.“
„Tot?“, fragte der Gegenüber, „Mein Gott, das lässt einen ja grübeln. Die Einschläge kommen immer näher.“
Senff kehrte sich nun vollends zu diesem neuen Gesprächspartner und unterhielt sich mit ihm, meine Audienz beim stellvertretenden Direktor war beendet.