Samstag, 9. Mai 2009

Kapitel 12.1

„Sehr geehrter Herr Direktor, geehrte Damen und Herren, liebe Mitarbeiter und ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger. Ich möchte Sie alle heute zu dieser kleinen Weihnachtsfeier begrüßen, zu der wir in der ehemaligen Kapelle unseres Amtsgebäudes zusammengekommen sind. Wie alle wissen, war es ein aufregendes Jahr. Es war ein aufregendes Jahr vor allem für mich, nachdem ich den Vampir von Krützin entdeckt und ausgegraben habe. Selbstverständlich – und das wissen alle – war es nicht nur mein Verdienst, diesen Jahrhundertfund ausfindig gemacht zu haben. Daher möchte ich diese Gelegenheit nutzen, mich für die durchaus kompetente Assistenz von Herrn Kellerman bedanken, der mir die Arbeitskraft seines Grabungsteams auf Wunsch zur Verfügung stellte. Die Presse, die der Bodendenkmalpflege oft nicht wohlgesinnt ist, wie jeder hier weiß, hat die Entdeckung, die ich für dieses Haus gemacht habe, entsprechend zu würdigen gewusst. Und das geschah nicht zur Unzeit. Es ist wohl niemand hier in der Kapelle, der nicht weiß, wie problematisch die Finanzlage des Landes ist. Und alle haben auf die eine oder andere Weise spüren müssen, dass auch dieses Amt seinen Anteil zur Konsolidierung des maroden Haushaltes beitragen muss, den uns die SED hinterlassen hat. Zum Beispiel war es nicht zu verhindern, einige Abteilungen zusammenzulegen. Deshalb konnten wir natürlich auch nicht alle Bezirksarchäologen und ihre Referate weiter unterhalten. Doch dank meiner Entdeckung des Vampirs war es dem hochverehrten Herrn Direktor zumindest möglich, das Kultusministerium davon zu überzeugen, im Haus mehrere Referatsstellen durch eine neue Generation Archäologen zu besetzen, die – wie der Zufall so spielt – alle dieselbe Alma Mater haben wie ich. Die meisten werden die vier schon kennengelernt haben, Herr Plankenreiter zum Beispiel steht da hinten. Robert, zeig dich mal! Mit diesen neuen Mitarbeitern ist es uns in einer Vielzahl von Fällen wiederholt gelungen, das Beste aus den beschränkten Mitteln herauszuholen, die uns zur Verfügung standen. Schließlich wissen wir alle, dass die Pflege der Denkmäler, die sinnstiftend für Regionen und Länder sind, unbedingt notwendig ist. Da archäologische Denkmäler der Öffentlichkeit deutlich weniger ins Auge fallen als zum Beispiel Bau- oder Kunstdenkmäler, ist es für mich, und ich glaube, ich spreche auch damit dem werten Herrn Direktor aus der Seele, eine Selbstverständlichkeit, dass die Wertigkeit von Bodendenkmälern höher einzuschätzen ist. Nun habe ich aber genug der Worte gewechselt. Ich möchte kurz erwähnen, dass die Aufgabe, die Weihnachtsstollen zu schneiden, mit Butter zu beschmieren und mit Thüringer Schinken zu belegen, auch dieses Jahr wieder Frau Hinkemeier von der Abteilung Kunst übernommen hat. Hiermit ist das Buffet eröffnet.“
Das Jahr, in dem ich das erste und das letzte Mal für dieses Amt gearbeitet hatte, das Senff mittlerweile als stellvertretender Direktor mit leitete, war schnell umgegangen. Die Zuhörer, die sich in der kleinen, ehemaligen Kapelle des Amtsschlösschens drängten, wuselten jetzt in zwei Teilen entweder zu dem Buffet oder zu den Getränken. Ein unglaubliches Sprechwirrwarr setzte ein. Die kirchliche Akustik war nur wenig für Unterhaltungen geeignet, was aber aus irgendeinem Grunde kaum jemanden störte.
Senff hatte es in diesem Jahr geschafft. Nach seinen früheren Trickserein hatte er sich nun in die Forschungsgeschichte geschrieben. Es wussten eben die wenigsten, dass er sich den „Vampir“ nicht nur auf die eigene Fahne geschrieben hatte, sondern ihn erst erschaffen hatte. Und denen, die es wussten, wäre kein Glauben geschenkt worden. Senff hatte aus der Manipulierung des Befundes und seiner Vermarktung den größtmöglichen Gewinn gezogen. Mehrere Wochen lang war in der örtlichen Presse und selbst bei den größeren Landkreiszeitungen täglich irgendetwas über das Grab zu lesen gewesen. Konnte Senff sonst nur wenig, so wusste er doch zumindest auf der Klaviatur der Journalisten zu spielen. Die dafür nötige Gabe hatte er inzwischen bis zur Perfektion entwickelt. Immer gab er nur kleinste Häppchen an Informationen heraus, gerade so viel, dass es interessant genug war, um eine kleine Sensationsmeldung zu drucken. Niemals verriet er aber mehr als unbedingt nötig war, so dass er stets noch weitere Informationen aus der Restaurierung oder der Literatur in der Hinterhand hatte, die er am nächsten Tag oder in der Folgewoche ausspielen konnte. Nur selten musste auch einmal größeres Geschütz aufgefahren werden, dann schafften es „seine“ Funde aber auch schon bis in die bundesweiten Presseagenturen.
Neben mir hörte ich ein „Die hat ’nen ganz komplizierten Bruch, acht Wochen im Krankenhaus, sag ich dir!“ Dann sah ich Wieland. Er stand an eine der niedrigen eckigen Säulen gelehnt und hielt gelangweilt ein Sektglas in der Hand. Er trank an diesem Abend nur Orangensaft, weil er noch fahren musste. Stier und niedergeschlagen blickte er vor sich. Als hätte der Ablauf des Überfalls im Sommer nicht gereicht, musste er sich an diesem Abend ein weiteres Mal von Senff demütigen lassen. Ich ging zu ihm und begrüßte ihn. Seit Krützin hatte ich ihn kaum mehr zu Gesicht bekommen, meist nur kurz auf dem Parkplatz des Amtes, wo wir nie die Zeit gefunden hatten, uns zu unterhalten.
„Nabend Wieland“, sagte ich.
„Schönen Abend“, blies er bemüht.
Um uns herum plapperte es. Aus Richtung des Buffets war zu hören: „Immerhin haben wir uns schon bis zur Säule vorgearbeitet, da ist es nicht mehr weit zum Stollen!“ Es folgte vereinzeltes Lachen.
Durch den umgebenden Lärm fühlte ich mich mutig und sprach leise: „Was für eine miese Rede. Und dann ist der Esel nicht mal in der Lage, frei zu sprechen.“
„Ja, ich weiß“, antwortete Wieland, als führte er ein anderes Gespräch.
„Stimmt es, dass du die Hafenanlagen bei – äh?“
„Ja, stimmt, den ganzen Tag in der Matsche stehen. Und es gibt nur zermatschte Hölzer. Das reicht nicht mal für ’ne Dendroprobe.“
Senff steuerte auf uns zu und an uns vorbei. Zum Glück verzog er sein hinterhältiges Gesicht lediglich zu einem dreist verlogenen Grinsegruß, wir mussten ihm nicht einmal die Hand geben, weil er auf den Direktor zusteuerte, mit dem er anstoßen wollte. Wir bleckten ebenfalls nur kurz die Zähne, sprachen nicht mal einen richtiges Gruß aus, sondern eher ein müde gehauchtes „Jaja“ und ließen ihn vorbeidrängeln.
Als er an uns vorbei war, fragte Wieland: „Und du? Bist du noch in Mittow?“
„Bei dem Bau für das Schweine-KZ?“, fragte ich. „Nee, das ist zum Glück durch!“