Samstag, 16. Mai 2009

Kapitel 12.2

Das Schweine-KZ in Mittow hatte die letzten Illusionen zerstört, die ich mir von dem Amt gemacht hatte. Von Mittow habe ich an demselben Tag erfahren, an dem der Vampir geborgen wurde. Es war schon dunkel geworden an dem Freitag. Ich wollte gerade losfahren, da sprang Plankenreiter noch zu mir und erzählte von einer Grabung, die ich unbedingt machen müsse. Es war ein direkter Folgeauftrag, der im Anschluss an meine Grabung in Totenow beginnen sollte. Er erklärte mir nur kurz, es handele sich um mehrere Grabhügel, die im Rahmen von Bauarbeiten gesichert werden sollten. Bis dahin hatte ich noch nie einen Grabhügel ausgegraben. Abgesehen von dem Trio Senff, Plankenreiter und Spasst hatte ich jedoch mit den Archäologen des Amtes auch kaum Probleme gehabt. Vor allem vor Ort lief gewöhnlich alles relativ friedlich ab, zumindest in Totenow. Daher sagte ich dieses Mal noch zu.
Die Abläufe in Mittow waren allerdings leider wesentlich unangenehmer. Erst spät, nämlich am selben Tag, an dem die Untersuchung begann, erfuhr ich, dass ich gar nicht direkt der Abteilung Sonderprojekte unterstellt war, sondern dem örtlichen Referatsleiter. Das bedeutete, dass ich keinen Dienstwagen zur Verfügung gestellt bekam, sondern mit eigenem PKW bis in die Pampa weltzureisen hatte. Plankenreiter, der zu diesem Zeitpunkt bereits kommissarisch die Leitung der Sonderprojekte von Senff übernommen hatte, beschwichtigte mich aber sogleich. Dafür bekäme ich zu den regulären Unterkunftskosten auch Benzingeld erstattet, log er.
Die Zuständigkeiten wurden immer verworrener, denn es stellte sich heraus, dass der Referatsleiter auf mir unverständlichen Amtswegen in diesem Fall Senff persönlich untergeordnet war. Vermutlich hing das schon direkt mit dessen Aufstieg zusammen. Denn nur wenig später wurde bekannt, dass Senff von der Stelle des Leiters der Sonderprojekte zum stellvertretenden Amtsleiter befördert würde.
Die Entscheidungskette allein wäre allerdings womöglich noch unerheblich gewesen, wenn nicht der Referatsleiter ein völlig spinnerter Irrer gewesen wäre, der in jedem Stein ein vorgeschichtliches Artefakt witterte. Er war so fest von seinen Fähigkeiten überzeugt, dass er auch noch damit angab. Ja, er betonte sogar ausdrücklich, jeden Grabhügel erkennen zu können. Und schließlich stellte sich heraus, dass unter anderem in dieser Pseudo-Erkenntnisfähigkeit ein Grund für die Ausgrabung lag.
Die Untersuchung wurde dadurch angeleiert, dass ein niederländischer Schweinezüchter die gute Idee hatte, an den exorbitanten Fördergeldern beteiligt zu werden, die er einstreichen könnte, wenn er in Ostdeutschland eine Schweinefarm errichten ließe. Zugleich wäre eine dort stationierte Farm gut an den osteuropäischen Markt angeschlossen. Dazu suchte er sich das Dörfchen Mittow aus. Dessen Einwohner waren zwar nicht besonders erpicht darauf, täglich mit den Dämpfen von sechstausend zwangseingepferchten Schweinen benebelt zu werden. Doch der bauernschlaue Bürgermeister hatte vor allem mit dem dreisilbigen Totschlagargument „Stellen! Jobs!“ alle Gegner kleingeredet und sogar sämtliche Baugenehmigungen über Beziehungen durchwinken lassen, ohne sie solchen Ämtern vorzulegen, die sie möglicherweise blockieren könnten.
Eines späten Tages erfuhr nun der Referatsleiter von der laufenden Bautätigkeit und röchelte mit seinem Dienstwagen bei der Baustelle vorbei. Die Gruben, die für die Betonfundamente aufzubaggern waren, zeigten mehrere ungeordnete Steinkonzentrationen. Hätte es sich in der Tat um vorgeschichtliche Fundstellen gehandelt, wäre bereits viel zu viel zerstört gewesen. Eine richtige Ausgrabung, das wäre jedem Fachmann klar gewesen, konnte nicht mehr stattfinden.
Im Denkmalrecht gibt es Lösungen für solche Fälle, es sieht die Zahlung eines Bußgeldes vor. Unglücklicherweise richtet sich die Höhe des Bußgeldes jedoch nicht nach den Wünschen der Denkmalpfleger, sondern nach Ministerien, die in erster Linie dem Primat der Wirtschaftspolitik unterworfen sind. Das Denkmalamt kann das System aber unterlaufen, wenn in dem zuständigen Bundesland das sogenannte Verursacherprinzip installiert ist. Dieses Prinzip zwingt Bauherren dazu, sich bei notwendigen archäologischen Arbeiten angemessen an den anfallenden Kosten zu beteiligen. Dieses Modell war in den 90ern fast ausschließlich in den ostdeutschen Bundesländern eingerichtet. Hier waren die Landespolitiker nämlich nach der Wende schlau genug, die entsprechenden Gesetze einzuführen, so dass es ihnen in mancherlei Hinsicht besser erging als den meisten westdeutschen Ämtern. Letzteren wurde das Verursacherprinzip pikanterweise lange Zeit mit derselben Begründung verweigert, die im Osten für dessen Einführung herangezogen worden war: die Armut des jeweiligen Bundeslandes.
Selbstverständlich fällt eine Ausgrabung immer teurer aus, als es jedes Bußgeld sein könnte, so gesehen stellt sie die eigentliche Strafe dar. Gleichzeitig gelingt es in den allermeisten Fällen, Teile der Finanzierung auf andere Bereiche des Amtes zu übertragen.
Ich räume ein, dass ich diese Schlawinerei aus der persönlichen Sicht des Archäologen noch verstehen kann, wenn tatsächlich ein Denkmal mutwillig zerstört wurde. Es wird aber ein sehr unschöner politischer Akt daraus, wenn der Ablauf von einem Irren mit prähistorischen Halluzinationen eingeleitet wird.
Als ich in Mittow einen Tag vor Grabungsbeginn ankam, fuhr ich sofort bei der Baustelle vorbei. Die Bauarbeiter wuselten hektisch von Ecke zu Ecke, durften sie doch in weiten Bereichen vorläufig gar nicht tätig werden, obwohl ihre Termine natürlich bestehen blieben. Ich ließ mir die Steine zeigen, schüttelte den Kopf und wusste auf der Stelle, dass die Grabung blödsinnig war. Tags darauf erklärte mir der Referatsleiter seine Vorstellungen von den vorliegenden Fundstellen, und ich war äußerst überrascht, dass ein Mann der Wissenschaft so bescheuert sein kann. Eigentlich hätte ich die Gunst der kurzen Verträge nutzen und mich schnellstmöglich aus dem Staube machen sollen, zumal sich plötzlich herausstellte, dass von Benzingeld überhaupt keine Rede sein konnte. Als ich Plankenreiter diese Trickserei später vorwarf, verteidigte er sich mit der flauen Begründung, ich hätte doch sonst die Grabung nicht angenommen. Er gab die Lüge also auch noch offen zu. Fatalerweise hatte ich sie nicht nur angenommen, sondern bin auch noch geblieben, als es nur noch schrecklich war. Ich weiß gar nicht genau, warum ich mir das Generve antat, womöglich ermangelte es einer echten Alternative, vermutlich lag es aber auch an einer guten Portion Neugierde, wie das Spielchen noch enden würde.
Ich bekam eine Horde ABMler zur Seite gestellt, alles freundliche, höfliche Menschen aus Mittow, die glücklich waren, wenigstens sechs Wochen lang Geld verdienen zu dürfen, zumal die Arbeit alles andere als mühselig war. Doch je weiter wir in der Untersuchung der Steinhaufen voranschritten, desto offensichtlicher wurde deren Befundcharakter. Zwischen den Steinen zeigte sich wiederholt Müll aus der Zeit der LPG, der schlicht deutlich machte, dass hier in den letzten Jahrzehnten Steine vom Acker entsorgt worden waren. Soweit erkennbar stammten die Steine nicht einmal von einem zerstörten prähistorischen Befund. Sie waren unbearbeitet, an ihnen waren beim besten Willen keinerlei Spuren früherer Verwendung zu entdecken.
Ich sprach mit dem Referatsleiter, der natürlich standfest bei seiner Meinung blieb. Ich telefonierte mit Senff, der sich von der Meinung des Referatsleiters überzeugt gab – oder zumindest mir gegenüber nicht zugeben wollte, was hier für eine Posse gespielt werden sollte. Gleichwohl machte Senff keinerlei Anstalten, die Steinhaufen in natura zu betrachten, um sich womöglich ein eigenes Urteil zu bilden.
Irgendwann waren die Gruben ausgegraben und die letzten Steine herausgezogen. Auf einer fußballplatzgroßen Fläche zeigte sich abgesehen von den wenigen eindeutig modernen Funden lediglich eine einzige Keramikscherbe in Fingernagelgröße, die vorgeschichtlich gewesen sein könnte. Nun mag der Laie sagen: Siehste, da war ja doch was. Dem gebe ich aber zu bedenken: Es gibt in Mitteleuropa kaum einen Acker, auf dem man nicht wenigstens mit mehreren Dutzend Scherben aus den letzten 500 Jahren herunterspaziert kommt, wenn man sie absammelt. Insofern war der Mittower Acker schon etwas besonderes, er war ungewöhnlich fundleer, praktisch archäologiefrei, als sei er zuvor von einem Fachmann penibel gereinigt worden.
Archäologisch blieb in Mittow nicht wirklich viel zu tun, gleichwohl war die Arbeit keine leichte Tätigkeit. Gegenüber dem cholerischen Polier mit sehr ausgeprägtem Kleiner-Mann-Syndrom mussten wir jeden Tag aufs Neue beweisen, dass wir nicht unnötig vor Ort waren. Ständig waren wir gefordert, das kleine bisschen Arbeit aufzublasen, das angesichts der Aufgabenstellung möglich war, um sechs Wochen Finanzierung zu rechtfertigen. Aber auch als die Grabung längst beendet war, quälte mich das Projekt noch. Denn nach jeder Ausgrabung ist es notwendig, einen Abschlussbericht über die geleistete Arbeit zu verfassen. An dieser Stelle kommen wieder Wirtschaft und Politik ins Spiel. Schließlich lässt es sich bei privaten Finanziers kaum verhindern, dass die hinterher wissen wollen, was sie finanziert haben. Da ist es natürlich dumm, wenn das Amt die Hose herunterlassen muss und nichts darunter trägt.
Ich war dreist. Der cholerische Polier war zwar aus meinem Leben verschwunden, aber ich sah nicht ein, mich mehr als unbedingt nötig zu verbiegen. Ich schrieb einen ehrlichen Bericht, in dem ziemlich deutlich stand, was untersucht wurde: nichts von denkmalpflegerischem Interesse.
Natürlich ging der Bericht direkt an Senff. Ich weiß nicht, wie er im ersten Moment darauf reagiert hat, aber er teilte mir bald mit, dass er Änderungen verlange. Ich sollte irgendein Buch aus dem 18. Jahrhundert finden, in dem etwas zur Steinentsorgung auf Äckern stand, und von dem er auf irgendeinem Kongress mal etwas gehört hatte. Mit dieser detaillierten Literaturangabe zog ich für mehrere Tage in die nächste Universitätsbibliothek und wurde in einem Haufen Microfiches tatsächlich fündig. Also blies ich meinen Bericht mit diesen wenigen Informationen auf, sträubte mich aber weiterhin, die Steingruben aus der LPG-Zeit als frühneuzeitliches Denkmal zu interpretieren. Diese Version bekam ich nicht zurück, ich bin mir aber sicher, dass Senff sie vor der Weiterleitung und Archivierung noch frisiert hat.
Seitdem machte ich mir von Denkmalpflegeämtern keine Illusionen mehr. Die waren restlos zerstört. Interessant, dachte ich damals bei mir, das weiß ich noch, je mehr Illusionen man verliert, je klarer man die Realität sieht, desto weiter distanziert man sich von der Realität. Desto weniger möchte man mit ihr zu tun haben.