Donnerstag, 30. April 2009

Kapitel 11.6

Der Weg zu Wielands Grabung führte von einem Feldweg durch eine etwa einen Kilometer lange und sehr enge Schneise, die der Bauer im Rapsfeld freigelassen hatte, damit die Fundstelle erreichbar blieb. Noch bevor wir bei den Bauwagen ankamen, sahen wir, dass Senffs Wagen bereits an den Bauwagen stand.
„Da hätte Wieland nur noch einen Moment warten müssen“, sagte ich wie beiläufig und Wernher bemerkte „Kiek ma an! Der Plankenreiter is ooch da!“ Ich parkte den vom Raps gelb gepuderten Dienstwagen, dann stiegen wir alle aus. Meine Arbeiter begrüßten das Team von Wieland, das bei unserer Ankunft auf der Grabung verteilt herumstand. Sie waren sichtlich nicht beschäftigt, schienen aber nicht bei Senff stehen zu wollen. Als ich zu Senff ging, kamen mir erst Wernher, Dieter und Jan nach, dahinter folgten uns Wielands Arbeiter.
Auf mehrere Meter Entfernung sah ich Senff und Plankenreiter an einem Ende eines großen L-förmigen Schnittes knieen, wo sie andächtig im Dreck mit Kellen herumwühlten.
„Hallo Maxim!“, sagte ich, und: „Hallo Robert!“ Beide schauten kurz auf und erwiderten einen stummen Gruß, dann bastelten sie an dem Grab wieder mit einem Gesichtsausdruck herum, wie ihn dreijährige Kinder haben, wenn sie im Sandkasten Matschkuchen backen oder Sandburgen bauen.
„Wieland war eben bei mir“, erklärte ich, „der hat schon auf dich gewartet. Jetzt ist er wahrscheinlich in der LPG, um dich im Amt anzurufen.“
„Jaja. Jetzt bin ich ja hier.“
Ich kam näher und sah, dass sie dabei waren, einzelne Funde mit den Kellen im Dreck zu fixieren. Maxim wurstelte an den Resten von Eisenringen eines Holzeimers herum, die in Kränzen um den Totenschädel lagen. Robert steckte die verrosteten Reste eines Saxes zwischen den Rippen des Toten fest.
Vorsichtig fragte ich: „Äh, habt ihr das so gefunden?“
„Jaja“, sprang Adlatus Robert sofort ein, „das war nur gerade ein wenig umgekippt.“
„Der Eimer war über dem Kopf?“
„Ja, da wollte jemand seinen Kopf malträtieren.“
„Und der Sax?“, fragte ich noch vorsichtiger mit einem zweifelnden Unterton.
„Der ist damit wie gepfählt worden. Zwischen die Rippen. Genau ins Herz. Wahrscheinlich haben sie ihn für einen Vampir gehalten.“ Ich bin mir sicher, dass mein Gesicht in diesem Moment einen überaus erstaunten Ausdruck angenommen haben muss.
Inzwischen bildeten meine und Wielands Arbeiter mit mir einen Halbkreis um die beiden. Keiner sagte ein Wort. Ich schaute mit großen Augen zu Dolores und den anderen, die ich seit den letzten Wochen zumindest vom Sehen kannte, aber alle blickten mit dem selben fragenden Ausdruck zurück. Die Stimmung war äußerst gedrückt und in der sirrenden Sonne hörte man nur das Kratzen der Kellen und das Klopfen der Hände von Senff und Plankenreiter. Die eigentlich naheliegende Landstraße lag dagegen in auffallender Stille. Am äußersten Rand des Halbkreises stand Wielands Baggerfahrer Frank. Leise fing er an, einen Arbeiter Wielands anzuflüstern: „Wo war ich stehengeblieben? Achja, bei der Western Train. Ja, das ist ein richtiges Wohnmobil, nicht nur son Bulli mit Auflieger. Drinnen habe ich Flugzeugteppich ausgelegt. Top, kann ich nur sagen. Da kannste verschütten, waste willst, da kriste keine Flecken rein!“
Unwillkürlich sah ich in seine Richtung. Obwohl ich es gar nicht beabsichtigt hatte, schien er zu denken, dass es mir lieber wäre, wenn er still bliebe. Schlagartig hielt er inne, schaute mich staunend an und schwieg. Kurz darauf steckte er seine Hände in die Hosentaschen seines Blaumanns und stiefelte langsam zu seinem Bagger, an dem er dann herumbastelte.
Senff und Plankenreiter arbeiteten weiter. Ich kann mich noch erinnern, wie erstaunt ich war, die beiden so hochkonzentriert an den Knochen und Funden herumspachteln zu sehen. Maxim hatte glänzende Augen, er muss auf der Stelle erkannt haben, dass das Grab ein Geschenk war. Es war wie ein großer Lottogewinn vor allem deshalb, weil Wieland nicht da war, um auch nur einen Anteil des Gewinnes einzustreichen. Wielands erfolgloses Warten und seine panische Reaktion, zu mir und dann zur LPG zu fahren, war Senffs Zusatzzahl.
„Können wir euch helfen?“, fragte ich.
„Ihr könnt schon mal die Fotoleiter holen und die Fotosachen bereit machen.“
Senff wollte uns merklich loswerden. Dolores ging mit einem Mitarbeiter zum Container und in den Bauwagen, um die Fotosachen und die Leiter zu holen.
Ab und zu, wenn Senff sich anders hinhockte oder wenn die schnelle Bewegung seines Armes es zuließ, konnte ich mehr von dem Grab sehen. Es war auf den ersten Blick ein erstaunlich gut konserviertes Körpergrab. Dass in diesem kalkarmen Boden Knochen so gut erhalten waren, war extrem ungewöhnlich. Auf Höhe des Beckens konnte man eine Gürtelschnalle erkennen. Auf den zusammengefallenen Rippen zeichnete sich eine schwarzsilbrige Fibel ab, die kaum vom umgebenden Boden zu unterscheiden war. Das Haupt des Toten ruhte leicht erhöht, daneben stand ein kleiner kumpfförmiger Topf. Obwohl der Topf nur sehr grob mit einem Pinsel gereinigt war, konnte man Rosetten und eingeritzte waagerechte Linien auf seiner Oberfläche gut erkennen. Auf der anderen Seite des Kopfes waren mehrere kleine stark rostige Dreiecke erkennbar. Jan merkte, dass sie mir aufgefallen waren, und drängelte sich zu mir. Vorsichtig stupste er mich an und flüsterte ausgesprochen leise: „Hier gibt es Pfeilspitzen. Ich hätte so gerne Pfeilspitzen gefunden, warum konnte ich nicht hier graben?“
Ich blickte ihn kurz an und zuckte mit den Schultern. Offenbar meinte er es ernst. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, und ließ ihn wortlos stehen. Inzwischen hörten wir leise, wie sich ein Wagen durch die Schneise im Rapsfeld arbeitete. Wieland kam zurück.
Er fuhr seinen verbeulten Bulli vorsichtig über den Weg auf dem Acker und gelangte zu der Fläche, die für die Wagen der Mitarbeiter und die Bauwagen freigelassen war. Er musste längst gesehen haben, dass Senff bereits auf der Grabung war, obwohl es für ihn kaum erkennbar gewesen sein konnte, womit sich der Leiter der Sonderprojekte gerade beschäftigte. Dennoch stieg Wieland ungewöhnlich ruhig aus seinem Wagen. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, dass er sich gemächlich über den Fahrersitz beugte und einen Moment im Fußraum des Beifahrers kramte. Dann schloss er lahm die Tür und kam gemessenen Schrittes zu uns hinüber. Ich war überrascht, dass er jetzt, wo Senff seinen Befund im Wortsinne bearbeitete, plötzlich so gelassen war. Dabei kannte er Senff einfach nur besser als ich. Ihm muss längst bewusst gewesen sein, dass er das Grab nicht retten konnte, wenn Maxim die Gelegenheit dazu gegeben wurde, es allein „auszugraben“. Er wirkte nicht einmal mehr überrascht, dass Plankenreiter mitgekommen war. Dabei verließ Senffs Adlatus das Amt damals nur selten. Ausgerechnet an diesem Tag war er mitgekommen, als Wieland die wichtigste Entdeckung seines Lebens gemacht hatte.
Wieland wirkte lethargisch. Ich ahnte es nur, er muss bereits gewusst haben, dass nichts mehr zu verhindern war. Hätte er sich in diesem Moment beklagt, wäre er nicht allein den Befund, sondern darüber hinaus auch die Stelle los gewesen. Für die Restzeit seines Vertrages wäre er wahrscheinlich per Dienstbefehl zu einem Änderungsvertrag gezwungen worden und hätte damit in der hinterletzten Ecke besonders unbefriedigende Arbeiten ausführen dürfen. Aber er hätte keine Verlängerung mehr bekommen.
Als Wieland bei uns ankam, blieb auch er im Halbkreis stehen. Er verschränkte die Arme und lehnte sich schweigend vor, um ab und an einen Blick auf das Grab zu erhaschen. Er wagte es selbst kaum, an Senff heranzutreten. Heute glaube ich, dass sich sein ängstlicher Respekt Senff gegenüber mit purer Resignation vermischte. Plötzlich ergriff er kurz das Wort.
„Ich hab schon auf dich gewartet“, funkte er Senff an. „Ich war in der LPG, um im Amt anzurufen.“
Senff schwieg und kritzte in vorgebeugter Stellung weiter mit den Maurerwerkzeugen in den sterblichen Überresten herum.
Wieland traute sich zu fragen: „Willst du es heute noch rausholen? Sollen wir uns nicht lieber um eine Bewachung kümmern und es nächste Woche in Ruhe bergen?“
Senff richtete sich auf, sah Wieland in einer Mischung aus Überlegenheit und Zorn an und sagte: „Nein! Das ist nicht drin, das wird heute geborgen.“
Ich weiß nicht, ob Wieland sich noch ernsthafte Hoffnungen gemacht hatte, als er Maxim gefragt hatte, aber er hatte es immerhin geschafft, ihn dazu zu bringen, die Sicht auf das Grab freizugeben. Jetzt konnte er seinen Befund begutachten, und als Maxim sprach, starrte Wieland auch nur auf das Grab. Mit einem Blick hatte der eigentliche Grabungsleiter gesehen, was da vor ihm passierte. Maxim riss das Grab nicht einfach an sich, nein, er zerstörte und verfälschte es. Er manipulierte es, um es noch sensationeller zu machen, bevor er damit im Amt und in der Öffentlichkeit auftrat.
Hinter uns hockte Dolores und knibbelte einzelne Ziffern aus der Fototafel, um im Anschluss die korrekten Daten aufzustecken. Wieland drehte sich von uns und ging zu Dolores. Nur aus den Augenwinkeln sah ich zu, wie beide miteinander still plauderten. Immer wieder zeigte einer der beiden zu dem Grab. Mehrfach wies Dolores auch schulterzuckend auf den Wagen von Senff. Leise atmete ich einmal tief durch und ging dann zu den beiden. Ich wollte wissen, was hier gespielt wurde.
„Kannst du mir mal sagen“, fragte ich Wieland gedämpft, als ich bei beiden hockte, „was hier passiert?“
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Wieland, „ich weiß nur, dass das Grab nicht so aussah, als ich losgefahren bin. Dolores hat mir gerade gesagt, dass Senff ausgeflippt ist, als er kam. Der war wohl keine Minute hier, nachdem ich zu dir losgefahren bin. Als er das Grab gesehen hat, hat er alle Leute weggeschickt. Sie sollten dies holen, sie sollten jenes holen. Von einem wollte er einen Eimer Sand, der andere musste die Gloria an dem Bach da hinten füllen. Der wollte alle loswerden, damit er alleine hier wirken kann. Alleine mit Plankenreiter.“
„Sowas ähnliches hab ich mir schon gedacht. Aber das ist doch nicht nur Manipulation, das ist doch sogar Schwachsinn, was der da macht. Schwert zwischen den Rippen. Eimer auf dem Kopf!“ Ich schüttelte den Kopf.
„Natürlich. Wir hatten das Grab zwar noch nicht frei geputzt, aber man konnte sehen, wo die Sachen lagen. Das Schwert war ganz normal an der Seite. Die Eimerreste zeichnete sich neben dem Skelett ab, ganz normal.“
Meine Befürchtung hatte sich also bewahrheitet: „Der spinnt doch. Der macht nicht nur den Befund kaputt und fälscht ihn, der übertreibt auch noch so, dass ihm das keiner abnehmen wird.“
„Ich weiß nichts mehr“, schüttelte Wieland verzweifelt den Kopf, „wahrscheinlich kommt er sogar damit durch.“