Mittwoch, 22. April 2009

Kapitel 11.4

Ich weiß nicht, warum es so ist, aber deutsche Supermärkte sind auf eine ganz eigentümliche Art überfüllt, wie ich es in einem Supermarché oder einem Tesco nie beobachten konnte. Mit Gehwagen bewaffnete Rentner, Väter, die für ihre Familie das erste Mal in ihrem Leben überhaupt einkaufen, und Mütter, die ihre zweiunddreißig Kinder in alle Gänge gleichzeitig ausschwärmen lassen, verstopfen ganze Läden. Diese deutsche Auffälligkeit ist völlig unabhängig von der Uhrzeit, von den Jahreszeiten oder sogar von Schulferien, und man wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch gängeblockierende Einkaufswagen und supersonderangebotplündernde Rentner antreffen, wenn man in diesem Land morgens um zwei Uhr einkaufen gehen können wird.
Micha wusste, dass der Markt einen Säulengrill im Angebot hatte. Zielstrebig schob er den Einkaufswagen Model Wanzl zu den im hinteren Mittelbereich aufgebauten Zusatzangeboten.
„Schau mal den hier“, lenkte er meine Aufmerksamkeit auf einen Karton, der fast größer war als Jan, „das ist ein Edelstahlsäulengrill.“ Flüsternd las er: „Chrombeschichteter Grillrost, hm, mit Windschutz, das ist gut, bei uns im Garten zieht’s fast immer.“ Jetzt war er sich sicher, „den nehm ich!“, und packte den Karton in den Wagen, der damit fast gefüllt war.
„Ich nehm hier gleich mal einen Sack Holzkohle“, ergänzte ich und warf einen schwarz gefüllten Papiersack dazu, dann stratzten wir zur Kühltheke. Wortlos warf ich auch ein kleines Paket mit Plastikbesteck in den Einkaufswagen, Papierteller hatten wir zum Glück noch auf der Ausgrabung. Da sollten sie eigentlich zur besseren Kennzeichnung von Pfostengruben dienen, falls wir einen Hausbefund entdeckt und fotografiert hätten. Ein Haus hatten wir aber nicht gefunden und so wurden die Teller doch noch sinnvoll verwendet.
„So, was sollten wir mitbringen“, brabbelte ich, während ich die Einkaufsliste aus meiner Jackentasche kramte, „das sind Würstchen, da können wir die hier nehmen – Wernher und Dieter wollten marinierte Koteletts, wo haben sie die denn hier?“
„Hier drüben“, sagte Micha, „hier gibt’s auch Schweinenackensteaks für Hans.“
„Da kannste mir auch mal eins einpacken.“
„Das sind sowieso immer zwei – schau mal hier! Steak-Lutscher!“ Micha wieherte durch den ganzen Markt, „Kuh am Stiel, das ist gut, das nehm ich!“
„War es das? Ich glaub, dann können wir zur Getränkeabteilung.“
Micha, jetzt ganz Lord Jim, führte das mit einem kartonierten Edelstahl-Schornstein versehene Ladenschiff durch die verwinkelten Arme des bunten Einkaufsdschungels, der die für mich so seltenen „Kauf Ost!“-Blüten trieb. Wir gelangten an die Versorgungsstation, die Hopfen- und Zuckerprodukte bereithielt. Micha packte ein normales Sixpack ein, irgendein ostdeutsches Bier. Ich griff dazu mehrere Flaschen eines alkoholfreien Bieres für Wernher und mich. Jan nahmen wir eine Cola mit. Dann suchte ich noch ein Glas Ostsenf und wir trollten uns zur Kasse.
Vor uns stand eine der obligatorischen Rentnerinnen aus dem Deutschen Pfennigsammelklub, die ihre wertvolle Sammlung spazieren führte. Als sie die beiden Doppelkornflaschen, die sie zu erstehen wünschte, aus ihren Buntmetallvorräten bezahlte, merkte ich aus dem Augenwinkel, dass Micha mit durchdringendem Blick einen jungen Mann fixierte, der vor der Rentnerin seine Sachen einpackte. Der Mann hatte sehr kurze Haare, allerdings keine Glatze, und lief bald mit einer gefüllten Plastiktüte los, die er mit beiden Armen vor der Brust umklammerte. Vorher war er mir bei den Überraschungseiern aufgefallen, wo er mit einem offensichtlichen Kennergehör hochkonzentriert zahlreiche Schokoladengehäuse durchgeschüttelt hatte, um gefragte Figuren herauszuhören. Als er nun den Supermarkt verließ, lachte Micha einmal verächtlich auf.
Ich fragte: „Kennst du den?“
„Kennen? Das kann man wohl sagen“, er verdrehte die Augen und sagte in meine Richtung, „erzähl ich dir aber gleich draußen.“
Die Kuh von einer Kassiererin bewunderte derweil die Münzsammlung der Oma und betüddelte jedes einzelne Geldstück auf ihrer Handfläche wie eine Hexe, die gerade die Warzen in jemandes Hand bespricht. Endlich war der Doppelkorn verhandelt, so dass uns die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Grundausstattung Grillen zu erwerben.
„Eyschendlisch is schön Lodnschlüss“, mokierte die Kassiererin sich breit, „oba do will isch mo gulánt seyn.“ Micha und ich sahen uns kurz an, vermieden es, eine Grimasse zu schneiden und schwiegen beredt.
Sie rechnete den Grill ab und schob die kleineren Produkte über das Band, während sie die Preise in die Kasse tippte. Ich räumte die Sachen ein, denn Micha sollte wegen des Grills insgesamt in Vorlage gehen und Grillgut und Getränke später von mir bezahlt bekommen.
Als wir aus dem Laden wollten, war eine andere Kassiererin bereits damit beschäftigt, die Ladentüren zu schließen und ein Gitterrollo herunterzulassen, ließ uns jedoch mit einem gurgelnd geschnauzten „Nu oba fix!“ aus dem Laden.
Draußen sah ich, dass der Kurzhaarige gerade den Kofferraum seines eindeutig übertunten Wagens schloss und zur Fahrertür taperte. Wieder fragte ich: „Wer ist das denn da hinten jetzt?“
„Hähä, das war mal der Obernazi im Nachbarkreis. Hat sich da aber bis auf die Knochen blamiert. Die Mutter von einem Schulfreund von mir arbeitet da in einer Videothek. Und in der Pornoabteilung sind da ständig die Hüllen geklaut worden.“
Ich glaubte zu verstehen, „ach, und das war er?“ Inzwischen packten wir die Sachen in unseren Wagen.
„Nee, nee“, verneinte Micha und lachte erstaunlich leise, „die haben den Täter nie erwischt, das kommt noch besser! Weil sie da nie einen ertappen konnten, haben sie heimlich eine Kamera installiert. Na, und da haben sie dann eines Tages aufgenommen, wie sich der Arsch da drüben vor den Regalen einen runterholt.“
Ich schaute verdutzt, Micha wurde ernst und versicherte, „Ja, wirklich! Mein Freund hat das Video von seiner Mutter bekommen, ein paar Kopien davon gemacht und im ganzen Landkreis verteilt. Der Idiot war so lächerlich gemacht worden, dass der da glatt wegziehen musste.“ Er lachte, jetzt wieder laut.
„Und jetzt ist er hier angekommen“, ergänzte ich, während wir in den Wagen einstiegen.
„Genau. Und die Glatzen hier sind schon doof genug. Einer von denen“, jetzt kam er in Tratsch- und Palaverlaune, „wohnt eine Querstraße weiter von mir, der wollte sich selber auf die Stirn ,S K I N S' tätowieren. Leider“, jetzt ähnelte Michas Zwischenlachen wieder dem Wiehern eines Pferdes, „hat er das vor einem Spiegel gemacht und nicht dran gedacht, dass er das verkehrtrum machen muss! Der läuft jetzt den Rest seines Lebens als ,SNIKS' herum!“

Bildhaft stellte ich mir die Stirn des Idioten vor und wunderte mich über die Untiefen ostdeutschen Landlebens. Dann fuhren wir los. An der Ausfahrt des Supermarktparkplatzes gewährte Micha mir mit einem „rechts ist grün“ freie Fahrt und wir gelangten bald über die Kreuzung zum Bahnübergang, der wie üblich geschlossen war.