Samstag, 4. April 2009

Kapitel 11.2

Die Grabung schleppte sich derweil von Quadrant zu Quadrant und von Befund zu Befund. Bald war ein Ende abzusehen und ich kam den Arbeitern in ihrem Wunsch entgegen, am vorletzten Freitag mittags zu grillen. Die Stunden hatten wir uns freigearbeitet, so dass wir allesamt nach dem Grillen direkt in den wochenendlichen Feierabend übergehen konnten.
Direkt morgens wurde ich von einem lachenden Dieter mit der Frage begrüßt, ob ich den Willen zum Grillen in mir verspürte. Ich bejahte und schmunzelte über den eher lauen Witz. Irgendwann kurz vor Mittag wollte ich dann zusammen mit Micha zum Supermarkt im Ort fahren, um den Grill, die Kohle und für alle zusammen Würstchen, Fleisch und Getränke einzukaufen. Zuvor schaufelten, putzten und zeichneten die Arbeiter und Micha auf dem Grabungsfeld. Baggerfahrer Stefan schob Abraum zur Seite und half beim Ausnehmen größerer Siedlungsgruben mit dem Anlegen von Arbeitsgruben. Sylvia war derweil im Bauwagen damit beschäftigt, ihre letzten Zeichnungen in den Übersichtsplan kleineren Maßstabs umzuzeichnen, den ich für die spätere Bearbeitung zur Hand haben wollte. Ich saß ihr dabei gegenüber und füllte auf dem grundsiffigen Tisch die letzten Formulare aus, die in dieser Woche noch unbearbeitet geblieben waren.
Kurz vor Mittag stand ich auf, um mich zu strecken, und blickte aus dem Fenster des Bauwagens.
„Irgendwie ist das sehr surreal, von hier betrachtet.“
„Was meinst du?“
Mit einer zweifelnden Überlegung schüttelte ich zweimal den Kopf: „Na, es wirkt wie eine Mannschaftssportart, was die draußen veranstalten. – Herzlich willkommen“, imitierte ich aus dem Stegreif einen fiktiven Radioreporter, „zum zweiten Viertel unserer heutigen Grabungsübertragung, mein Name ist Paul Eggers und ich darf Sie herzlich begrüßen zu diesem außerordentlich spannenden Spiel.“ Sylvia grinste merklich, zeichnete aber konzentriert weiter. Ich steigerte mich: „Wir sind heute auf dem Feld von Totenow in der Maxim-Senff-Gedächtnis-Arena, und es ist ein Heimspiel der Totenower Sandteufel. Für die Sandteufel sind angetreten: Als Kapitän Benny Frandsen, auch bekannt unter seinem Spitznamen Flintdolch-Micha, in der Verteidigung an der Schaufel Dieter ,Popeye' Räumer und an der Schubkarre Hans Gros, der Rasenmähermann.“ Sylvia lachte. „Gäste sind die Wossi-All Stars, eine gemischte Ost-West-Auswahlmannschaft, die heute mit Jan ,Robin Hood' Retzlaff als Kapitän spielen, Wernher Senger, die ,märkische Schaufel', verteidigt, und der ,Höllenengel' Stefan sitzt im Bagger. Die Begegnung wird übrigens gesponsort von Attila Furioso, der stärksten Motorsäge der Welt, ja und ich sehe gerade, die Mannschaften laufen wieder auf das Feld. Als Schiedsrichter pfeift übrigens ein Grabungsleiter, der bereits einige größere Grabungen gepfiffen hat, ich denke da beispielsweise an die Finals von Groß Plüggenthun und Lügwitz, das den meisten von uns sicherlich noch als Schlammschlacht und spannende Partie zugleich in Erinnerung geblieben sind. Ich fasse vielleicht kurz den Stand aus dem ersten Viertel zusammen: Die Sandteufel haben die Auslosung verloren und mussten sich mit den Befunden in den Quadranten C18 bis 20 zufrieden geben. Hier zeigten sich zwar mehr Störungen in Form von Drainagen, aber dafür waren hier auch deutlich weniger Befunde, die es zu bearbeiten galt. Trotz besserer Ausgangsbedingungen haben die Wossis dennoch im gesamten ersten Viertel abgesehen von ein paar lumpigen Abschlägen, die immerhin schon jungsteinzeitlich sein könnten, und einem einzigen kalzinierten Flint noch keinen Fund machen können. Da sieht die krumpelige Krümelkeramik, die die Sandteufel geborgen haben und die wir hier im Stadion gerade an der Videowand in einer Nahaufnahme bewundern können, doch wesentlich besser aus. Ja, das dürfte hinterher Punkte in der B-Note geben. Kein Zweifel. Allerdings hatten die Wossis natürlich auch einen ordentlichen Zeitverlust, als ,Robin Hood'-Retzlaff mit dem Schiedsrichter Witze machte und im Anschluss mit seiner gesamten Mannschaft eine Strafrunde auf dem Abraum schieben musste. Gerade höre ich, dass das Spiel wieder angepfiffen wird. Die Mannschaften versammeln sich vor den Quadranten, nehmen die Geräte in die Hand und“, ich rief laut: „JETZT ERTÖNT DER ANPFIFF!“
Sylvia erschreckte sich und lachte gleichzeitig, ich plapperte in einer tonlosen Schnellsprache weiter: „,Flintdolch'-Micha schwingt die Schaufel, das wird hart für ,Robin Hood'-Retzlaff, und da kommt ,Popeye' Räumer, er schaufelt, als sei der Teufel hinter ihm her, mit einem Bauchkippdreher holt er das Letzte aus seinem Sportgerät, dabei war er noch vor zwei Monaten mit einer komplizierten Sehnenscheidenentzündung in Behandlung, hoffentlich hat er da keinen Tierbau erwischt“, meine Stimme hetzte immer schneller, Sylvia blickte nun nach draußen, ganz so, als schaue sie Fernsehen, während ich selbst erstaunt war, wie schnell ich reden konnte, „gleichzeitig legt Senger, die ,märkische Schaufel', ein extrem gerades Profil an – das gibt Punkte! – aber was ist das? EIN FOUL! Hans Gros, der Rasenmähermann, fährt nur mit einer halbvollen Schubkarre zum Abraum, sieht denn das der Schiedsrichter nicht?“ Sylvia lachte wieder laut. „Dafür müsste der ,Höllenengel' mit seinem Bagger eine Freischaufel bekommen, um hinter einem Befund eine Arbeitsgrube anzulegen. Hans Gros, meine Damen und Herren, ist heute übrigens mit einem französischen Boliden angetreten, zu dem er mir in der Pause verraten hat, dass er ab-so-lut untauglich ist! Bei der nächsten Grabung möchte er unbedingt wieder eine Karre aus deutscher Produktion fahren, weil die Achse der französischen Konkurrenz auf Sandboden einfach keine Leistung bringt! Jetzt zieht der Höllenengel mit seinem Bagger inzwischen neuen Abraum zur Seite, oooh, da wird der Unparteiische wohl nivellieren müssen ...“
Die Zeichnerin schüttelte langsam grinsend ihren Kopf, hatte sich aber merklich amüsiert. Ich musste erst mal Luft holen, sah aber dann, dass Flintdolch-Micha zum Bauwagen kam. Unwillkürlich blickte ich auf die Uhr: „Oh, Micha und ich sollten gleich mal losfahren, den Grill und die Sachen holen.“
„Zum HO in Totenow?“, erkundigte Sylvia sich.
„Genau“, sagte ich, als Micha beidhändig in den Bauwagen kletterte: „Sacht mal, was lacht ihr denn hier so? Das hört man auf dem ganzen Planum. Trinkt ihr heimlich schon die erste Kanne Bier?“ Sein Mund schnitt ein breites Grinsen ins Gesicht. Sylvia schüttelte den Kopf, dabei blickte sie immer noch sehr belustigt und gleichzeitig ein wenig pikiert, dass der zweite Zeichner ihr Alkohol am Arbeitsplatz unterstellte. „Ich? Ich trink doch nicht, wenn ich zeichne! Du vielleicht?“, neckte sie Micha, der immer noch auf dem Absatz des Einstiegs kippelte und sich mit beiden Händen am Türrahmen festhielt. Der konterte nur knapp, „kein Bier vor Vier“, und drehte sich dann zu mir. „Soll’n wir eigentlich nich bald losfahren?“
„Ja, können wir machen. Hast du die anderen schon gefragt, was wir so alles holen sollen?“
Sylvia meldete an: „Für mich braucht ihr nur zwei Würstchen zu holen, mehr esse ich nicht.“
Micha notierte geistig: „Zwei Würstchen? Können wir machen.“ Dann wandte er sich wieder mir zu: „Nee, ich dachte, wir sammeln eben schnell die Bestellungen.“
„Ja, gut“, sagte ich mit angehobener Stimme, kramte mir einen leeren Fundzettelblock und einen Bleistift und stieg hinter Micha aus dem Bauwagen, der sich zuvor bereits aus dem Eingang gedreht hatte.
„Wir fahren jetzt runter zum Supermarkt“, rief Micha.
Alle Arbeiter kamen zusammen, Wernher ging in Richtung Bagger, um Stefan durch Zeichen zu verstehen zu geben, den Bagger abzustellen.
In der Zwischenzeit fragte Hans: „Stimmt das eigentlich mit Arnold? Wernher erzählte, der hat sich das Bein gebrochen?“
„Ja“, erwiderte ich, „der ist gestern von der Fotoleiter gefallen.“ Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Wenn das stimmt, was seine Leute erzählt haben, muss er wie ein Rohrspatz gemotzt haben.“ Ohne den Wortlaut selbst gehört zu haben, versuchte ich mit erhöhter Stimme zu imitieren: „Welche Hackfresse hatt’enn diese Leita konstruiert, los ihr Blödsenkel, holt ’en Krankenwagen.“ Alle lächelten, taten dies jedoch nicht aus Schadenfreude, sondern ob der befremdlichen Situation, die sich in unseren Köpfen abspielte.
Stefan hatte inzwischen seinen Bagger ausgemacht und Wernher rief ihm von unten zu: „Die zwee-e fahrn jetz zum Konn-summ. Solln die dir wat zum Verschnabuliern mitbringn?“
Stefan lehnte sich in seinem Bagger nach vorn, die Arme über Kreuz und antwortete: „Nee, ick hab mir doch Fisch mitjebracht.“
Dieter bestellte inzwischen bei uns: „Also, ich hätte gerne Würstchen. Und ein Kotelett“, wusste er mit erhobenem Zeigefinger.
„Ja“, freute sich Wernher, „son Kotelett is wat feinet“, er strahlte erst übers ganze Gesicht und ermahnte uns dann „aber holt bloß son mariniertet, nich son trockenen Plunda.“ Dann drehte er sich zu Hans: „Willste nich ooch ’n Kotelett?“
Hans lehnte ab, „Nein, ich nehme lieber ein kleines Schweinenackensteak, wenn die sowas haben. Ein oder zwei Würstchen aber auch.“
Jan wunderte sich: „Ihr esst ja alle nur Schwein? Ich will ein richtiges Tier. Bringt mir mal ein schönes Stück Rinderfilet.“ Mit seinen Händen und einem „Etwa so groß“ zeichnete er uns die korrekte Größe vor.
„Rinderfilet?“, wunderte sich Wernher, „dit wird ja janz trockn uff’m Jrill!“, und schüttelte den Kopf.
Mir entrutschte nur ein „suum cuique“, das ich zwar mehr für mich brummelte, von Jan aber trotzdem gehört wurde.
„Das Schwein quiekte?“, fragte er, „Ich hab doch gesagt, ich will Rind?!“, sprach er verwirrt.
Ich erklärte: „Das heißt: Jedem das seine“, und lenkte ab mit: „Was wollt ihr denn trinken?“ Dieter und Stefan fragten nach Bier, dazu wollten sie sich mit Micha ein Sixpack teilen. Der ehemalige Spediteur Wernher bestand dagegen auf alkoholfreiem Bier, was ich nachvollziehen konnte, weil ich denselben Gedanken gehabt hatte. Jan fragte nach Cola, nach Bier war ihm tagsüber überhaupt nicht. Hans winkte ab, er hatte ja seine polnische Limo, und in der Halbliterflasche war „sowieso viel zu viel!“
Als ich mit Micha zum Wagen ging, hörten wir noch im Hintergrund den Anfang der Geschichte, die Jan stets zum Besten gab, wenn das Stichwort Limonade fiel, und die jeder auf der Grabung schon mehrfach gehört hatte. Er erzählte dann in allen Einzelheiten, wie er einmal als Kind einen Finger in eine Limonadenflasche gesteckt, die Flasche geschüttelt und den Finger plötzlich herausgezogen hatte. Angeblich war dann der gesamte Inhalt der Flasche an die Decke der heimischen Küche gespritzt. Der Zeichner und ich waren froh, die Geschichte nicht ein weiteres Mal erzählt zu bekommen.