Sonntag, 22. März 2009

Kapitel 10.3

Leider war der nächste Baumarkt so weit und so umständlich anzufahren, dass ich erst zu Beginn der Mittagspause wieder auf der Grabung war. Ich war immer noch gut gelaunt. Nach der gestrigen Einladung durch Micha wollte ich an diesem Tag mal das Treiben in der Spielhölle von Totenow begutachten. Also kletterte ich kurz in den Nichtraucherwagen, nahm mit einem „Mahlzeit!“ meine Tasche mit dem Essen heraus, beantwortete die fragenden Blicke mit: „Ich geh mal rüber – gestern bin ich ins Casino Totenow geladen worden“, und schaukelte zu dem anderen Wagen, der bereits aus allen Ritzen und Löchern qualmte. Als ich die Tür öffnete, stand ich vor einer grauen Wand, es erschien mir wie eine Räucherkammer.
„Sagt mal, habt ihr hier nur Quarzuhren laufen?“, versuchte ich Stimmen hervorzulocken, um die Position der einzelnen Leute orten zu können. Ich wurde herzlich begrüßt, als hätten sie mich seit Wochen nicht gesehen: „Ah, der Scheff! Immer rinn int Kabuff! Willste dir nich setzn?“, fragte Stefan.
„Hier ’ne Herz Sieben, Dieter!“, plapperte Jan.
Ich hob ablehnend die flache Hand, „Nee danke, ich habe eben lang genug gesessen, außerdem bleib ich hier lieber bei der Tür, da ist die Luft besser.“ Ich stellte mich an die Wand des Bauwagens neben Dieter und sah, wie er mit einer lässig aus dem Mundwinkel hängenden Zigarette zwei Karten vom Stapel zog.
Die Räuchermännchen plapperten weiter. Jan und Dieter spielten gerade noch das Ende einer Runde aus, Micha und Stefan hatten die Partie bereits gewonnen. Vor Micha lag der Fundzettelblock, auf dessen Rückseite sie die Punkte notierten. Ich zog einen Apfel aus meiner Tasche und Stefan fragte. „Wat issten da? ’n Apfel? Willste nich ma wat richtijet? ’ne Schrippe mit Maurermarmelade?“
Ich verneinte wortlos, nahm meinen Apfel und biss krachend hinein. Jonas vertilgte ein Skinkost-Brot, er saß schräg vor dem Kopfende. Micha drehte sich wieder zu Stefan: „Wo war ich?“ Nur kurz schraubte er den Kopf zu mir und zwischenerklärte: „Ich erzähl grad ’ne Geschichte, die mir ein Raubgräber erzählt hat, den ich kenne“, dann wandte er sich wieder Stefan zu, „die haben also in dem Maisfeld eben son Bronzedepot aufgemacht, da war’n dann Beile, Schwerter und so Bronzeringe drin“, er unterstrich die Ringe, in dem seine Zeigefinger einen Ring um seinen Hals zeichneten. „Und irgendsone vernietete Blechplatte“, seine Fäuste hoben sich neben seinem Kopf, und öffneten sich schlagartig, „da gehen plötzlich so Flutlichter an, und eine Stimme ertönt“, er hielt die rechte Hand hohl vor den Mund, „hier spricht die Polizei. Keine Bewegung.“ Micha lachte. „Da haben sich dann alle auf den Boden geschmissen, sind mit den Funden aus dem Feld gerobbt und schnell ab nach Hause.“ Wieder lachte er. „Mein Bekannter hat sich tagelang nicht vor die Tür getraut, weil er immer dachte, er wird gleich abgeholt.“ Ich setzte meinen strengsten Ausdruck auf, um zu verstehen zu geben, dass ich solches Gebaren natürlich nicht gutheiße, und Micha begriff sofort: „Sowas mach ich natürlich nich“, versuchte er zu beschwichtigen und hob unterwürfig die Hände, „ich geb immer alle Funde ab.“
„Und eine Kreuz Sieben“, Jan freute sich merklich und betonte langsam: „letz-te Kar-te!“ Stefan feixte: „Ja, jib ihm Sauret!“ Dieter zog zwei weitere Karten, man sah, dass er das Spiel nicht an sich heranließ.
„Und ein Kreuz König – Mau! Na, alter Mann? Was haste denn noch auf der Hand?“
„Du Hund, bevor du deine Siebenen gespielt hast, hatt ich nur zwei Neuner – und jetzt das:“
„Haha, nur noch Bilder! Das macht, dreißig, vierzig, achtundfünfzig“, Micha notierte die Punkte, „da hat Jan dich aber noch ganz schön abgezogen. Wer ist mit Mischen dran?“
„Immer der, der fraacht!“, befahl Stefan.
Micha fragte mich: „Willst du mitspielen?“
Ich verneinte, „Nee, es reicht mir, wenn ich zugucke“, und grinste kauend.
Stefan motzte: „Boah, Kerle, dit is doch echt n Scheißspiel. Kann denn keena von euch wat Anständijet wie Arsch uff Eis oda Könich von Moabit?“ Alle schüttelten den Kopf, Micha schob die Karten zusammen und begann sie zu mischen. Ich sah Stefan an wie ein unbedrucktes Buch. „Is eem noch keena von euch im Knast jewesen.“ Wieder schüttelten alle den Kopf, Stefan fragte: „Noch nie wat ausjefressn, wa?“ Micha und Jonas schmunzelten. Micha zog die querliegenden Karten mit dem linken Daumen vom Stapel in seiner rechten Hand.
Dieter fragte: „Du, der Micha hier erzählte, die dicke Orka hat gestern angerufen? Die kommt heut nich, weil die ’n Tennisarm hat?“ Falten gruben sich in die Haut unter seine lachenden Augen, mit denen er einen nach dem anderen kurz fixierte: „Die spielt doch nie im Leben Tennis!“ Die meisten lachten dumpf auf, dann wurde es ruhig und man hörte einen Moment lang nur Michas Schlippschlippschlippschlippschlipp.
Es war offenbar ruhig genug, dass Stefan sich traute, nach Marions Spitznamen zu fragen: „Warum nennta die Dicke einklich Orka?“
„Na, das ist doch der Wal. Kennste die nich? Die schwarzweißen Killerwale?“, erklärte Dieter, und seine Hände umschrieben in der Luft etwas Großes, Dickes. Stefan nickte unwissend, blickte auf den Tisch und ließ seine Zigarettenschachtel mit der linken Hand immer wieder nervös auf den Tisch plumpsen. Da erwachte der Seemann in Dieter: „Habt ihr denn schon mal gesehen, wie ein Orka eine Robbe jagt und frisst?“ Anfangs war sein Gesichtsausdruck noch einfach nur erfreut: „Na, du stehst an der Rehling und siehst, wie sich ’ne Herde Seelöwen in den Wellen tummelt. Dann taucht immer so langsam bogend“, seine Hand beschrieb Bögen in der Luft, „eine schwarze Finne aus dem Wasser. PLÖTZLICH!“, seine Hand zuckte, „stößt der augenlose Kopf – man sieht beim Orka die Augen nämlich nicht“, erklärte er dem staunenden Jan und machte mit der Hand eine schnappende Bewegung, „und packt sich einen Seelöwen im Genick.“ Mit seiner rechten Hand fasste er sein linkes Handgelenk. Es ähnelte der Mischbewegung von Micha, der weiter schlippte. „Dann windet sich dieser riiiesige, spindelförmige Körper“, Dieter dehnte die Wörter ein wenig, um die Größe zu unterstreichen und drehte seine Fäuste zur Erklärung, während seine Augen bei jeder Silbe blitzten, „und schraubt sich mit dem Seelöwen herum. Du siehst nur zwei Körper, der eine schwarzbunt, wie ’ne Kuh, der andere dunkelbraun. Und dann schlägt der Orka den ungelenken Fettbalg auf dem Wasser hin und her, das klatscht nur so“, seine Hand klatschte einmal flach auf den Tisch, drei Feuerzeuge sprangen kurz hoch, „und das Wasser, die Gischt, das spritzt nur noch, das schäumt alles vor Blut.“ Dann biss Dieter beherzt in seine Wurststulle und steckte sich, noch während er kaute, eine Zigarette in den Mund.
Seine bildhafte Beschreibung eines Orka-Angriffs weckte Assoziationen und Bilder in meinem Kopf. Vor meinem geistigen Auge spannte sich automatisch eine trübe Leinwand, auf der sich die letztwöchigen Begegnungen mit unserer Orka projizierten und sich mit der geschilderten Attacke zu Wasser vermischten. All ihr Unvermögen, ihre Lügen und Unverschämtheiten fielen mir wieder ein. Es kam mir vor, als habe unsere Orka ihr zahnbereihtes Maul zu voll genommen. Sie hatte mit den Protzereien über ihre Fähigkeiten versucht, einen ausgewachsenen Pottwal anzugreifen, der ihr einfach über war. Die Fett gewordene Diana war zur Gejagten geworden und hatte die Flucht ergriffen.
Ich kehrte von meinen Gedanken zurück in den Raucherwagen und entdeckte erst jetzt, wie speckig und trauerrandig der Satz Baustellenkarten war. Dieter bemerkte meinen abschätzigen Blick: „Das war’n neue Karten. Die hab ich neu mitgebracht.“
Stefan lehnte seinen rechten Unterarm, an dessen Ende ein Tabakröllchen rauchte, auf den Tisch und beugte sich mit ernster Miene vor: „Ick hab neulich in de Zeitung jelesn“, so ernst wie es der Aufträger des Gesichtes von James Joyce eben konnte, „det sich in Bärlin eena totjemischt hat.“
Stefan lachte selbst am meisten über seinen „Witz“, Dieter lachte die typische Altherrenlache einer klassischen Skatrunde, und Jan bereitete sich tief konzentriert auf das nächste Spiel vor. Micha tat nur so, als ob er lachte, stoppte aber dann das Interludium und teilte aus.
Ich wunderte mich währenddessen über den vielen Qualm und darüber, dass Dieter gleichzeitig essen, rauchen und spielen konnte: „Reicht dir eigentlich nicht der Rauch von den andern? Hier ist doch so viel Rauch im Wagen, dass ihr total eingeräuchert seid.“
Stefan klinkte sich krächzend ein: „Na, dit is ja ooch jut so. Meen Opa hat immer jesacht, ’ne Bude, in die nich jeroocht wird, stinkt nach Pisse.“ Dann lachte er. „De hatte immer son Lungentorpedo int Maul jehappt.“
Micha warf die Karten einzeln vor jeden Spieler.
Ich dachte laut nach, „ich weiß nicht, mir wär das schon zu teuer.“ Die vier Spieler griffen sich nach und nach ihre Karten, dabei veranstaltete Jan ein Brimborium um jede Karte, die er erhielt.
„Das kommt ganz darauf an“, schmunzelte Jonas, „man kann auch Glück haben.“ Jan zog jede Karte einzeln über den Tisch und fluppte sie dann von der Tischkante mit katzenartiger Geschwindigkeit vor sein Gesicht. Micha stockte und unterbrach das Austeilen kurz, um dem Schweden zuzuhören. „Auf einer Grabung kamen wir mal morgens auf die Fläche. Da war alles kaputt. Der Bagger stand auf der Fläche, bei den Bauwagen waren die Dächer eingedrückt und die Wände eingerissen, und auf der Fläche lag ein kaputter Zigarettenautomat. Hähä.“ Micha ahnte die Geschichte und verteilte langsam weiter. Jan kämpfte noch immer darum, niemandem die Gelegenheit finden zu lassen, in seine Karten zu linsen. „Da haben irgendwelche Idioten im Dorf einen Automaten aus der Verankerung gerissen, den aber nicht aufgekriegt. Also sind die nachts auf unsere Grabung gefahren und haben den Bagger geknackt. Die waren aber erst zu doof, den Bagger zu bedienen, also haben die die ganzen Bauwagen auseinandergenommen. Irgendwann haben die es dann geschafft, mit der Schaufel den Automaten zu knacken, waren aber wieder zu doof, die haben nämlich nur das Geld mitgenommen“, Micha lachte jetzt beim Austeilen. Jan drückte inzwischen seinen Kopf so weit gegen die Wand des Bauwagens, dass sein Gesicht beinahe platt wurde. Der Schwede redete zu Ende, „und die Zigaretten in dem kaputten Automaten gelassen. Haha! Da hat das Grabungsteam erst mal alle Päckchen rausgenommen und gerecht geteilt. Erst danach haben wir die Bullen gerufen“, er schaute die Leute an, denen er gestern Abend von den Randalen erzählt hatte, um zu erklären: „wegen der Versicherung!“
Alle lachten – mit Ausnahme von Jan. Ich hatte bereits beim Austeilen bemerkt, dass ausgerechnet er hochkonzentriert immer wieder den Versuch unternahm, in Stefans Karten zu kiebitzen, der neben ihm saß. Dabei merkte Jan nicht einmal, dass sich alle Karten in Stefans dicken Brillengläsern spiegelten.
Stefan motzte: „Mannmannmann, wat haste mir denn da fürn Scheißblatt jejebn?“ Micha lachte jetzt aus Trotz. Dieter stimmte in das Geberbashing mit ein: „Das stimmt. Aus jedem Dorf ’n Köter. Geh mal raus, dir die Hände waschen, Micha!“
Jonas zündete sich eine Zigarette an, kramte seinen Taschenascher heraus, öffnete ihn und platzierte ihn vor sich. Er legte die Zigarette hinein, zog seine Snus-Dose aus einer anderen Tasche und knetete sich eine große Portion des schwedischen Tabakpulvers zu einem kleinen Kissen, das er sich unter die Oberlippe schob. Micha zog die oberste Karte vom Stapel, einen Herz Buben, und legte sie neben den Stapel. Stefan kommentierte: „Nu kiek ma an!“
„Dieter fängt an, was wünscht du dir?“
Dieter schaute kurz in sein Blatt: „Ich wünsch mir Kreuz, dann eröffne ich mal mit ’ner Dame.“
Jan warf stillschweigend eine Neun auf die Ablage, Stefan folgte ruhig mit einer Herz Neun. Micha legte ein Herz Ass drauf und Jan begann Streit: „Jetzt darfste doch noch eine spielen.“
„Nach ’nem Herz Ass?“ Michas Stirn runzelte sich zusammen. Stefan schnippte: „Von wegen!“ Dieter stimmte zu: „So ein Quatsch!“, und spielte ein Kreuz Ass.
„Ja natürlich nach einem Ass! Wie spielt ihr denn? Was sind das denn für Regeln? Kein Mensch spielt so.“
„Wir haben uns doch vorher drauf geeinigt. Solln wir die Regeln etwa aufschreiben?“ Alle schüttelten den Kopf.
Jan murmelte irgendetwas von „bei uns spielt man das richtig“ vor sich hin. Im Gesicht wurde er vor Wut rot, dann spielte er ein Karo Ass. Kein Wunder, dass nach dem Ass eine weitere Karte gespielt werden sollte.
„Ick kann nich“, plapperte Stefan und zog eine Karte.
„Deine Erfolge im Schlafzimmer interessieren hier nich“, amüsierte sich Micha und wieherte los. Dieter lachte ächzend mit. Dann spielte Micha eine Karo Sieben, und Dieter hörte mit dem Lachen auf. Er zog zwei Karten vom Stapel. Jans Wut verflog bei dieser Vorgabe, und er spielte feixend eine Herz Sieben. Stefan patzte ihn mit freundlicher Stimme von der Seite an: „Na, mit volln Hosen is jut stinkn“, und zog zwei Karten.
„Dann kommt jetzt meine Herz Dame!“, sagte Micha und patschte die Karte aus der Höhe auf die Ablage.
„Na, da kann se mit meiner Karierten ja Káffe trinken“, freute sich Dieter.
Jan warf eine Karo Neun hin, Stefan ließ Micha mit einer Acht aussetzen („Da biste baff, wa?“) und Dieter spielte eine Zehn.
„Ich wünsch mir Pik“, schrie Jan und spielte einen Buben dieser Farbe.
Stefan ließ Micha wieder aussetzen, dann verschlechterte Dieter Jans Laune mit einer Sieben, die der nicht weiterreichen konnte, und reizte den kleinen Jan dazu: „Wort mit X – war wohl nix!“
Jan saß mit langem Gesicht, vor das er sich weiterhin angestrengt die Karten klemmte. Er hatte die letzten beiden Karten des Stapels genommen, daher nahm Dieter inzwischen die gefüllte Ablage, legte die Sieben zur Seite und mischte die restlichen Karten neu. Dazu teilte er sie dreimal in zwei Stapel und ließ sie mit einem klingenden: Prrrrrrt! abwechselnd ineinanderflattern. Stefan spielte währenddessen stumm eine Neun. Aus den gewölbten Händen Dieters echote ein gekonntes: Flllllit!
„Ach du grüne Neune“, sagte Micha und warf eine Zehn auf den Stapel.
Dieter sammelte sich seine Handkarten wieder zusammen und rief: „Hier! Ein Ass!“
Jan parierte mit einer Dame, die Stefan mit einem Kreuz Buben deckte: „Herz!“
„Na super!“, jetzt motzte Micha und zog eine Karte.
„Echt spitze!“, schimpfte Dieter und zog eine Karte.
Jan brummelte erstaunlich leise „Eigentlich spielt man ja die Farbe vom Buben.“ Die Gesichter der anderen Spieler verdüsterte sich aber bereits, da zog er still eine Karte. Stefan verlängerte inzwischen das Elend mit einer Herz Acht. Dieter zog noch eine Karte, Jan auch. Mit einer Kreuz Acht überstrapazierte der Baggerfahrer jetzt sein Glück. Micha setzte bereits das zweite Mal in Folge aus.
Doch auch Jan musste leiden: „Hier! ’ne Kreuz Sieben“, rief Dieter fröhlich und ließ Jan zwei weitere Karten ziehen. Jetzt musste auch Stefan eine Karte vom verdeckten Stapel nehmen: „Ick kann wieda nich!“
Micha grinste still und warf einen Karo Buben auf den Stapel. „Karo!“
Sein Nachbar, der Seemann, war anscheinend bereits in leichten Mittagsschlaf verfallen und versuchte einen Pik Buben zu installieren, da ging ein Aufschrei durch die Bänke.
Stefan drohte: „Haste keene Oogn in Kopp?“, und Micha ermahnte streng: „Hey, das geht nicht! Bube auf Bube stinkt!“ Man merkte, dass er das nicht zum ersten Mal zu Dieter sagte. Dieter nahm verwirrt seinen Buben auf die Hand, stierte auf seine Karten und fragte sich selbst: „Ja, was mach ich denn dann? Dann muss ich eine ziehen.“
Der erbarmungslose Jan ließ Stefan mit einer Acht aussetzen. Micha warf einen König auf die Ablage und sprach süffisant: „Letzte Karte!“
In Jans Augen entstand nun Panik, dann fluppten eine verschwiegene Zehn, eine Neun und eine Kreuz Neun, die Micha gekonnt mit einem Herz Buben unterwarf: „Mau-Mau! Ich wünsch mir Herz.“
„Sag mal“, fragte ich Stefan, „was is’n das für Abzeichen an deinem Lederbändchen? Ein Totenschädel mit Flügeln?“ Dieter spielte inzwischen eine Herz Sieben und sorgte damit bei Jan für tiefgehende Unstimmung.
Stefan warf eine Herz Zehn ab. „Letzte Karte – wat? Ach so, du meinss mein Boulo-Tei? Meine Westannkrawatte?“, und hielt das dünne Bändchen mit dem Abzeichen vor seine Nase. „Dit is der Dess-hätt! Ick bin doch Ehrn-Hells Eyndschel!“
Dieter spielte jetzt ruhig seinen Buben: „Da! Jetz kommt aber mein Junge. Karo. Letzte Karte.“ Jan grummelte missmutig und spielte einen Karo König.
Zweifelnd betrachtete ich Stefan, das schmächtige Hemdchen, das ein Kopf kleiner war als ich: „Ehrenmitglied?“
Stefan beantwortete erst die gespielte Karte „Da, ’ne Karo Tante – Mau!“, und erklärte dann: „Ja, natürlich, ick jehör doch zum Kopp der Bick Rett Mäschien. Ick kann sofort die janze Prätorianerjaade antanzn lassn, wenn ick se brooch. Aber einklich brooch ick keene nischt, ick hab doch selba den janzen Keller voller Em-Jes und Knarren. Wenn ick nich uff Arbeet bin, denn ha’ck immer ’ne Wumme dabei.“
Dann beendete auch Dieter das Spiel: „Hier Jan: ’ne Sieben, zwei ziehen! Mau!“, und freute sich erkennbar. Ich betrachtete Stefan mit einem wahrscheinlich recht ungläubig aussehenden Blick: „Jonas erzählte gestern Abend, du hast mal in Brasilien gearbeitet?“
„Ja, natürlick!“ Stefan lehnte sich mit dem linken Ellbogen auf seinen Oberschenkel, während er mit der linken Hand die Zigarette hielt, „Da ha’ck doch ooch meene Zähne verlorn! Weeßte, ick bin doch einklich Sprengmeester. Vor zehn Jahrn bin ick russ aus Bärlin, ab nach Südamerika, nach Brasilljen. Da ha’ck denn ’n paar Jahre so Tunnels inne Berje jesprengt jehappt.“
„Aha. – Und wie hast du deine Zähne verloren?“, fragte ich, Jonas schmunzelte mit seiner ausgebeulten Oberlippe.
„Na, dit war bei eim Projekt, da jing dit dem Indscheniör nich schnell jenuch. Dit wa son Backpfeifenjesicht, dit wolltie Arbeet’n partu abkürzn. Deshalb sollt ick son jannnz jewagtet Sprengmanöver durchziehn. Damit er Zeit und Jeld sparn kann, der Fatzke.“ Er hob seine andere Hand und bildete ein schiefes Dach. „Det musste dir so vorstelln, dit dit uff son jannnz bestimmten Winkel ankommen tut. Un wenn der stumpfa wird“, das Dach seiner Hände wurde flacher, „wird det imm-mma jefährlicha. Ick hab jesacht, ja bitte, jut, kann ick machen, batt ei du itt on jur res-ponsillity.“ Da Stefan um die Englisch-Kenntisse Dieters, Jans und Michas wusste, drehte er sich jovial in die Runde und erklärte, „Also: nur uff den seine Verantwortung. Außerdem, sarick, such ick mir die fümf Arbeeta aus, die ick dafür brooch. Denn bin ick durche Reihn von die Arbeeta, fast allet nur so ausjehungerte Fijuren, so halbnackte Indianass“, er lachte, „weeßta, nur son Lendenschurz wie Tarzan um un son jammlijet Ti-Schört, und denn ha’ck mir die Leute ausjesucht, die keene Familie nich ham. Also: du, du, du, du und du.“ Stefan führte uns mit gestrecktem Finger vor, wie er die Arbeiter ausgewählt hatte. „Denn sinn wa in dem Berch und ham die Sprengladungen anjebracht – naja und wat soll ick saa’n. ’türlick is et schief jeloofn. De halbe Berch is zusammjebrochn. Ick wurd vaschüttet. De janze Felsen bricht zusamm, un ick mittenmang. Hätten ma lieba ne Herrenknecht genomm’. Nach zween Tagn hamse mir dann russjeholt. De Indianers warn alle tot jewesn. Un ick? Ick hatte alle Zähne kaputt, fast alle Knochen jebrochn jehappt, die Beene, die Rippn, allet. Ick hab ja n halbet Jahr in Brasilljen im Spitaal jelejn. Det kann ich euch saa’n, dit wa jar nich schön. Ewich diese Hitze. Det jloobt-a nich. Un der Jestank. – Bah!“ Seine Gesicht drehte sich mit geschlossenen Augen zum Fenster, als spucke er angewidert aus. „Weeßta, ick hab ma in Kaschmir, da wa ick mit meina Harley jewesn, da ha’ck son Lepra-Laga jesehn – det hat lang nich so jestunkn, wie det Spitaal da in Brasilljen. – Na, un seitdem bin ick Frührentna. Ick muss ja nischt arbeetn jehn. Ick hab ooch so mein Auskomm. Aba wenn ick noch son bissken nebenbei bagga, denn kann ick mir dit in die Tasche steckn, weeßte.“ Er machte mit der rechten Hand eine drehende Bewegung zur Hosentasche.
Die Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Spielkarten auf dem Tisch.
„Was haste noch auf der Hand?“, fragte der große Micha den kleinen Jan.
„Hier, fünf Bilder, macht fünfzig.“
Dieter mischte sich ein: „Nee, ich hab dir noch ’ne Sieben gespielt, du musst noch zwei ziehen!“
„Was?“ Jan wurde ungehalten, man merkte, er fühlte sich ertappt. Er hatte gehofft, Stefans Geschichte hätte uns vom Spielende abgelenkt.
„Natürlich, du musst doch Dieters Zug noch beenden“, pflichtete auch Micha bei, und Stefan nickte nachdrücklich, „Du musst noch ziehn!“ Micha zog die obersten Karten vom Stapel, es waren zwei Asse.
„WAS? Das ist doch Betrug! Erst krieg ich eben die ganzen Siebenen und muss ständig aussetzen und jetzt das! Wie spielt ihr denn? Ihr habt euch doch die Regeln ausgedacht, das spielt man nur bei uns richtig!“
„Wenn du meinst“, ließ Micha Jan schwatzen und rechnete ihm siebzig Punkte an.
„Das ist Betrug! Mit euch spiel ich nich mehr!“, schrie der kleine Mann, packte seine Sachen und stiefelte wutentbrannt aus dem Bauwagen. Als er draußen war, sagte Micha „Na, hoffentlich“, Stefan sekundierte noch: „Son kleena Stänkafritze – den ha’ck jefressn!“, und alle lachten gedämpft.
Ich blickte auf die Uhr: „Na, dann lasst uns mal weitermachen.“ Die Raucher räumten den Kram vom Tisch und standen auf. Jonas und ich machten Platz, damit die vier Spieler sich aus den Bänken drängeln konnten. Dann trotteten wir nach und nach aus dem Bauwagen.