Donnerstag, 12. März 2009

Kapitel 9.6

Ich lenkte das Gespräch von den Blutrünsteleien zurück auf die Grabung: „Na, eigentlich bin ich ganz froh, dass du mitbaggerst. Stefan ist fast so katastrophal wie Orka. Ich hab noch nie einen so miesen Baggerfahrer erlebt. Der reißt ja nur Löcher ins Planum.“
„Er sagt, das kommt von den Steinen.“
„Ich weiß, Jonas, aber das ist doch Schwachsinn. Der Boden ist weich wie Butter in der Sonne und die paar Klumpen hebst du doch auch problemlos aus dem Sand, obwohl du kaum über so viel Erfahrung verfügst wie er.“
Micha lachte: „Ja, der Stefan ist schon ein Schlawingel. Hat er dir mal von seinen Sprengversuchen in Brasilien erzählt?“ Ich verneinte. „Dann musst du ihn morgen mal fragen, der erzählt Geschichten, das glaubst du nicht.“
Im Hintergrund verabschiedete sich Dolores gerade mit sehr seltsamen Geräuschen von ihrem Gesprächspartner. Als sie wieder zum Tisch kam, schauten alle sie mit einem tief verwunderten Ausdruck an.
„Dass varren meine Katssen“, erklärte sie, „iss ’ab nok sswai Katssen in Espanja. Die muss iss immä grüßen, sonss sint die traurick.“ Um zu erklären, wie traurig ihre Haustiere sind, machte sie kurz ein trauriges Gesicht.
„Na, ich geh dann mal duschen“, verabschiedete Wieland sich. „Mach das“, rief Jan ihm nach, als ob Wieland es besonders nötig gehabt hätte.
Kaum war Wieland draußen, beschwerte sich Micha: „Der geht mir so auf den Senkel.“
„Man merkt’s.“
„Ach, dieser Idiot, der hat sich mal vor mir aufgebaut und mir ins Gesicht gesagt ,Alle Ossis sind faul. Du auch!' Der kann mich mal.“
„Na, Wieland ist zwar ein bisschen bekloppt, aber irgendwie hält man es doch mit ihm aus.“
„Ach, der kann Ossis wahrscheinlich deshalb nicht leiden, weil er bei seiner ersten Grabung hier so verarscht wurde. Ein paar von uns haben in der Pause so nebenbei vom großen Plan gesprochen. Da wurde er natürlich neugierig, hat nachgefragt und dann haben sie ihm weisgemacht, dass es einen großen Plan zur Übernahme der BRD gibt.“ Micha lachte trocken, Jan und Jonas amüsierten sich, während Dolores dem Gespräch nicht so recht folgen konnte. Sie hielt sich so lange plappernd an Arnold, der die Geschichte offenbar schon kannte.
„Nach dem Plan haben wir Honecker nur kurzzeitig weggeschickt und uns von eurer Wirtschaft übernehmen lassen, damit der Westen pleite geht. Danach kommt Honecker wieder und wir übernehmen glorreich den Westen.“ Er machte eine Pause, die Spannung erwecken sollte. „Und Wieland, der Idiot, hat jedes Wort geglaubt. Vor allem, als sie ihm am Ende sagten, dass sie eigentlich nicht darüber sprechen dürfen und er jetzt zu viel weiß. Der hat echt Muffensausen gekriegt.“
Wir lachten, dann blickte Jonas auf einen kleinen Haufen irgendwelcher Notizzettel. „Ihr macht immer so komische Zahlen“, fiel ihm auf.
„Was für komische Zahlen?“, fragte Jan, der sich wie üblich sofort angegriffen fühlte.
„Na, eure Zwei sieht in Deutschland immer ganz komisch aus. Immer mit so einem Kringel unten. Und die Eins sieht aus wie eine Sieben. Wir machen immer nur einen Strich.“
„Das ss-timmt“, schaltete Dolores sich ein, „und die Vier, die makt ihr immä aus sswei Vinkeln. Bei unss ssreibt man die Vier mit einem Ss-trich.“
Schnell entstand ein kleiner Wettkampf darum, wo man welche Zahlen wie schreibt. Fast jeder war davon überzeugt, die einzig richtige Schreibweise zu nutzen, bis auf Jan, der deutlich überzeugter als alle anderen war: „Was? So schreibt man aber nicht!“, wusste er bei jeder Variante, die nicht der seinen entsprach.
Irgendwann fing Jonas an, ein paar Runen zu kritzeln und Dolores war schwer erschrocken über die heidnischen Zauberzeichen: „Vasse makst du da? Villst du Lussifer rufen?“
„Nein, das sind Runen, die kennt in Sweden jedes Kind“, er schrieb ihren Namen auf ein Blatt Papier.

Dolores staunte mit großen Augen und faltete das Blatt geheimnisvoll, das sie später auch mit in ihr Zimmer nahm.
„Ich kann auch noch Geheimrunen“, vermeldete Jonas stolz und wischte auf das Papier zahlreiche X-e, an deren Ästchen er unterschiedlich viele Zweige packte. Als hätte er seine Zukunft damals schon gekannt, erklärte er: „Das ist für den Fall, dass ich mal ins Gefängnis muss, dann kann ich mir sicher sein, Kassiber noch ungelesen herausschmuggeln zu können.“
Eine dunkle Gestalt in einem kackbraunen Bademantel betrat die Küche und schrubbelte sich den Kopf mit einem Handtuch. Dolores erschrak sehr, ihr entfuhr ein spitzer Schrei. Dann atmete sie schwer, machte große Augen und wedelte mit ihrer flachen Hand abgeknickt vor der Brust, während sie sich mit einem Schluck Bier beruhigte: „Iss dakte eine Ssekund, da kommt der Vendigo!“
Alles lachte, Wieland zog sich das Handtuch vom Kopf: „Ich wollte nur gute Nacht sagen.“ Ein bisschen grinste er aber auch. „Dann werd ich mich mal auf meine selbstaufblasbare Matratze hauen.“ Der Chor antwortete im Kanon „Gute Nacht!“
„Oh, ich hab ’ne Idee, kennta dat Paperspiel?“, fragte Arnold.
„Pampersspiel?“, wunderte sich der mittlerweile deutlich angeheiterte Jan.
„Nee, Paper, mit Paper für selbstgedrehte Zigaretten. Jeda schreibt ’ne bekannte Person auf ein Paper und klebt sie dem Nachbarn auf die Stirn. Der muss dann erraten und erfragen, wer er is, und die Runde darf immer nur mit Ja oder Nein antworten.“
„Das klingt lustig“, ahnte Jan, „wer hat denn Paper dabei?“
Bestausgestatteter Tabakkonsument war grundsätzlich Jonas, der bereitwillig mehrere Paper zur Verfügung stellte. Ich hob ablehnend die Hände und stand auf: „Ich muss in die Federn. Aber ich möchte noch wissen, wer welchen Namen kriegt.“
Mit großem Vergnügen sah ich, wie die fünf neue Identitäten verpasst bekamen, die zum Teil gar nicht so neu waren. Arnold klebte Dolores ein Paper mit der Aufschrift „Elisabeth I.“ auf die Stirn, in schöner Anspielung auf das Ende der Armada. Dolores verabreichte Jan einen Zettel, auf dem in großen Buchstaben „Napoleon“ stand, und verursachte die ersten länger anhaltenden Lachanfälle. Es fiel leicht, sich Jan mit einer Hand in der Jacke und einem Zweispitz auf dem Kopf vorzustellen. Jan klebte Micha dafür „Yvonne Jensen“ auf die Stirn, das ist die hochtoupierte Rothaarige aus den Olsenbandefilmen, die Frau von Kjeld. Ich schmunzelte in mich hinein, offenbar hatte Micha nicht nur mir erzählt, dass seine Familie der Olsenbande entsprach. Auch Jonas bekam einen passenden Part. Micha klebte ihm „Karl Marx“ auf die Stirn und alle lachten. Jonas, ganz in seinem Element, adelte Arnold schlicht zu „Gott“ – sicherlich nicht die am leichtesten zu erratene Figur in dieser Runde.
Dann verließ ich den Raum und wünschte allen eine gute Nacht. Jonas, Jan und Micha ermahnte ich noch: „Denkt dran, wer abends saufen kann, kann morgens auch arbeiten.“
Micha lehnte sich zurück und rief mit künstlich ernstem Gesichtsausdruck und erhobenem Finger: „Im Gegenteil. Wer abends säuft, kann morgens nicht arbeiten!“ Dann lachte er wieder wie ein Pferd. Ich hörte noch die ersten Fragen und gelachte Antworten über den Gang hallen, dann schloss ich die Tür, legte mich hin und schlummerte selig ein.