Freitag, 6. Februar 2009

Kapitel 7.5

Wenn er zu Grabungen kam und die Fortschritte begutachtete, kam er grundsätzlich zur Mittagspause. Damit stand er in der guten Tradition aller Amtsarchäologen. Deren Befähigung, diese Stelle auszufüllen, scheint nämlich vornehmlich daran gemessen zu werden, ob sie in der Lage sind, fünf Ausgrabungen am selben Tag gleichzeitig zur Mittagszeit zu besuchen. Vielleicht werden sie aber auch nach der Stellenbesetzung einfach in einer aufwendigen Initiation in das Geheimnis eingeweiht, diesen temporalen Hattrick zu beherrschen.
Sowohl die Arbeiter im Chefwagen als auch die Raucher reagierten auf die Ankunft Senffs, ohne dass sie ausdrücklich ermahnt werden mussten. Bis auf Sylvia, die noch im Bauwagen die Köpfe und Legenden mehrerer Zeichnungen beenden musste, trollten sich alle unaufgefordert nach draußen, suchten dort die Arbeit auf, die sie zuvor unterbrochen hatten, und setzten sie fort. Ich winkte lediglich Dieter zu mir und bat ihm, das Pony auf die Koppel zu bringen, auf die es gehörte. Dieter suchte sich daraufhin ein Seil im Werkzeugcontainer, bastelte daraus mit Seemannsknoten eine Trense und brachte das ruhige Tier zu seinem Herkunftsort.
Ich ging auf den schwer übermüdet wirkenden Senff zu, der wie üblich albern gekleidet war. Nach allgemeiner Meinung hatte er diesen unbewussten Drang, die Öffentlichkeit unfreiwillig mit einer clownesken Erscheinung zu belustigen, bereits in frühester Kindheit angenommen. Als er und Nicole zu Unizeiten ein Paar geworden waren, hatte sie zumindest verschiedenen Kommilitonen stolz alte Fotos von ihm als 12-Jährigen herumgereicht, die ihn auf Geheiß der lieben Frau Mama mit einem Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und einer viel zu engen Seppellederhose zeigten. Inzwischen hatte Nicole den Platz von Maxims Mutter eingenommen. Sie ermutigte den Mittdreißiger dazu, auch noch die lächerlichsten Klamotten zu tragen, was seinem Ansehen kaum förderlich war. Denn durch diesen Aufzug, der stets für großes Amüsement sorgte, bewies Maxim von vornherein, dass man ihn als Person nicht ernst nehmen konnte. Und das dachte einfach jeder Arbeiter, mit dem ich mich im Osten unterhalten habe. Nur von einen einzigen Arbeiter weiß ich, dass er Senff nicht einmal lächerlich fand, sondern schlicht dermaßen blöde, dass er sich bis zu dessen Weggang beharrlich geweigert haben soll, Maxim die Hand zu geben.
Wir waren derweil von dem Aufzug des Projektleiters nur amüsiert, seine Garderobe war wirklich unglaublich. Seine meist kurzärmeligen Hemden waren entweder mit Hawaii-Mustern bedruckt oder mit den roten oder grünen Karos gestaltet, die bis in die schlimmen 80er Jahre Tischdecken und Bettwäsche zahlloser Jugendherbergen zierten. Die dazu passenden Hosen waren bunt karierte Bermuda-Shorts, oder wiederholt pumpbeinige Dreiviertelhosen in Beige, wie er sie auch an diesem Besuchstag trug. Um das Ganze abzustimmen, hatte er sein Erscheinungsbild außerdem mit an den Hacken offenen Turnschuhen gekrönt, deren modischer Ursprung fraglos in ethisch nicht zu rechtfertigenden Genexperimenten an Pantoletten zu finden ist.
Ich grüßte Maxim und führte ihn in den Bauwagen, um ihm die Pläne zu zeigen, bevor wir auf die Flächen gingen. Dass Sylvia im Bauwagen arbeitete, gab ihm anschließend Anlass, mich außerhalb des Bauwagens vor ihrer angeblichen Faulheit zu warnen. Tagelang, so beschrieb er ihre Arbeitsweise während einer anderen Grabung, habe sie über demselben Plan gebrütet und immer nur hin und her geblättert. Mich wunderte diese Kritik, da ich ausgerechnet Sylvia als sehr intensive und konzentrierte Arbeiterin erlebte. Dabei nahm sie gleichzeitig zu ihren Pflichten als Zeichnerin zusammen mit Jonas den Posten als Vorarbeiterin ein und achtete verantwortungsvoll auf die anderen Arbeiter.
Dagegen war mir ja längst bekannt, wie intrigant und unfähig Senff war. So schwieg ich zu den Anwürfen. Senff war aber kaum gefahren, da warnte ich meinerseits Sylvia davor, dass er sie ganz offensichtlich auf dem Kieker hatte.
Man merkte damals schon, dass Maxim es zusehends genoss, Macht inne zu haben, obwohl er sich gleichzeitig auf unterschiedlichsten Wegen freiwillig der Lächerlichkeit preisgab. Eigentlich glich sein Wirken ohnehin der Terrorherrschaft eines Clowns. Das zeigte sich in jedem seiner Schritte, in all seinen Handlungen. Das galt bis ins letzte Detail, vom Anfang bis zum Ende. In dieser Zeit war er allerdings besonders ungehalten. Das weiß ich noch genau, denn dieser Tag ist mir schon deswegen im Gedächtnis haften geblieben, weil ich völlig neue Grenzen des Unwohlseins erfahren hatte.
Die Ringe unter Maxims Augen konnte man nicht zählen und er war so unaufmerksam, freiwillig aus seinem unseligen Leben zu plaudern. Es war nämlich die Zeit, in der seine Frau Nicole kurz davor war, den Senff-Stammhalter zu werfen – oder wie Dieter sich eines Tages aufgrund Nicoles Herkunft aus Braunschweig versprach: „die Sächsin ist niederträchtig ...“
Maxim war in dieser Zeit ein nervliches Wrack. Das lag aber keineswegs daran, dass er mit so viel Mitgefühl bei der Sache war, sondern weil er unter den Launen seiner besseren Hälfte zu leiden hatte, was er selbstverständlich überhaupt nicht einsah. Er kam zwar immer noch nur an den Tagen in ihre gemeinsame Wohnung, an denen er am Institut arbeitete. Aber die wenigen zugehörigen Nächte wurde Maxim ständig geweckt, weil Nicole im Fünfminutentakt aufs Klo trippelte. Darüber hinaus zwang sie ihn zu den Kursen der Schwangerschaftsgymnastik, wo er mit wildfremden Menschen eine verstümmelte Abart des Sirtaki zu tanzen hatte. Um das letzte Bisschen häuslichen Segens zu retten, war er als Ausgleich für seine heißgeliebten Sportsendungen quasi verpflichtet, Sonntags mit seinem Weib regelmäßig die damals schon unsäglich klebrig-pilchrigen und ewig-gleichen ZDF-Filmchen im Fernsehen zu verfolgen und schlimmer noch: gutzuheißen! Da galt auch die Ausrede nichts, dass am Vorabend sowohl sein Handballverein als auch sein Fußballverein wichtige Ligaspiele verloren hatten. Infolgedessen quälte der völlig übermüdete Senff jeden Untergebenen an der Universität und im Denkmalpflegeamt, als zöge ein jähzorniger Rachegott durch die Lande. Er belästigte einfach jeden mit seinen eingebildeten Leiden. Wie es seiner Frau ging, war ihm egal. Alles in allem war es für niemanden eine gute Zeit, weder für die beiden, noch für den Rest der Welt.
Vor seiner Abfahrt wusste ich ihn aber noch zu treffen, indem ich ihm mitteilte, wie katastrophal Marions Fähigkeiten waren. Als ich von ihren „Künsten“ erzählte und zum Beweis ihre Kritzelei vorzeigte, die ich als Beleg für schlechte Arbeit heute noch aufbewahre, wurde Senff vor Wut still. Er hatte mir Marion aufgedrückt, hatte sich von ihr weismachen lassen, dass sie als Zeichnerin arbeiten könne. Wahrscheinlich fühlte er sich betrogen, und das waren wir ja beide. Er versprach, mir in der Folgewoche einen neuen Mitarbeiter zu besorgen. Er wollte einen ehrenamtlichen Denkmalpfleger namens Micha aus der Gegend aktivieren, der ab und zu bereits für das Amt gearbeitet hatte.
Senff war kaum gefahren, da ging ich zu Sylvia und Hans, und erzählte ihnen, wer zum Team stoßen würde. Beide kannten Micha, Sylvia schien durchaus erfreut, wusste sie doch wenigstens, dass er besser als Orka arbeitete und ihr somit bei den Zeichnungen zur Hand gehen konnte. Hans dagegen war entsetzt. Er verdrehte die Augen, drehte sich zur Seite und setzte seine Arbeit stöhnend fort. Ich wunderte mich, befürchtete natürlich die nächste personelle Katastrophe, aber Hans ließ sich lediglich entlocken, dass ihn Michas „Pferdelache“ störte, wie er sie nannte. Sie sei auf der gesamten Grabungsfläche zu hören.
Die „Pferdelache“, von der Hans gesprochen hatte, ließ nicht lange auf sich warten, als Micha in der Folgewoche auf unserer Grabung mitzuarbeiten begann. Der große Micha mit dem überbreiten Mund war eigentlich immer gut aufgelegt. Er erzählte viel von seiner Familie, beispielsweise verriet er mir, sein Vater, sein Bruder und er sähen zusammen wie die Olsenbande aus (Micha entsprach dabei Benny). Er besaß genügend Humor, dass er sogar weiter Witze erzählte, nachdem er während der Grabung erfahren hatte, dass bei seinem Bruder, dem Kjeld-Pendant, ein Hirntumor festgestellt worden war.
Natürlich führte er sich sogar mit einem Witz ein. Wir hatten uns kaum begrüßt und gegenseitig vorgestellt, als er von sich aus erzählte, dass Maxim Senff versucht hatte, ihn zum 20. April einzustellen. Micha erwiderte am Telefon erbost, er könne „doch nicht an Führers Geburtstag arbeiten!“, und lachte sich über seinen Einfall und mehr noch den verdutzten Senff tot. In Wirklichkeit betreute Micha an diesem Tag das Volleyballturnier einer von ihm trainierten Jugendmannschaft, aber Senff fiel natürlich auf den bösen Scherz des bekennenden Antifaschisten herein. Ich amüsierte mich dagegen köstlich, dass Senff so hereingelegt worden war.
Andererseits war Micha auch ein kleiner Pyromane. So fragte er mich eines Tages, ob er nicht einmal eine sowjetische Phosphorbombe auf der Grabungsfläche zünden dürfe. Ich verneinte natürlich und war etwas verwirrt über sein tatsächlich ernst gemeintes Ansinnen.
Dass er ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger war, hatte ich ja bereits zuvor von Senff gehört, und auch Dieter kannte ihn. So erfuhr ich aber, dass er auch regelmäßig sowjetische Übungsplätze absuchte, um Munition und alle möglichen Sprengstoffe zu sammeln. Ich weiß nicht, ob er auf pyrotechnische Experimente dieses Ausmaßes weitgehend verzichtete, weil wir uns gut verstanden, oder ob er selbst zu viel Angst vor der eigenen Courage hatte.