Samstag, 21. Februar 2009

Kapitel 8.4

Das Waschen der Keramikscherben gehört erfahrungsgemäß mit zu den aufwendigsten Arbeiten, die auf einer Ausgrabung anfallen, obwohl es natürlich auch immer wieder vorkommen kann, dass man auf einer vier Hektar großen Fläche lediglich eine Handvoll kümmerlicher Tonbrösel entdeckt.
Auf der Totenower Grabung füllten die aus den Befunden geborgenen Keramikscherben bereits mehrere große Kartons, daher kam es mir durchaus entgegen, einmal einen Nachmittag in die Unterkunft zu verlegen, um diese Nacharbeit wenigstens zu beginnen.
Hans, Wernher, Dieter und Orka suchten sich eines der weiterhin leerstehenden Zimmer, bauten sich zwei Tapeziertischen auf, suchten aus anderen Räumen Stühle und füllten viereckige Plastikschalen mit Wasser.
Sylvia setzte sich mit mir in mein Zimmer, das zugleich mein Büro war, und arbeitete an den Zeichnungen, während ich die eben abgelesenen Nivellierwerte durchrechnen und eintragen wollte.
Das Scherbenwaschzimmer lag meinem Büro schräg gegenüber, im Hintergrund hörte ich beständiges Geplätscher und das typische Gekritze, wenn mit Wurzel- und Zahnbürsten unterschiedlicher Stärke und verschiedenen Alters über den Ton gefegt wurde. Der einheitliche Geräuschteppisch wurde nur unterbrochen, wenn Scherben oder Bürsten platschend in das Wasser getunkt wurden oder jemand aufstand, um einzelne Keramikecken in die mit Zeitungen ausgelegten Bananenkartons oder andere Kisten zu legen. Dazu plapperten Dieter und Wernher mit Orka. Hans schwieg die meiste Zeit, trotzdem war es selbst aus meinem Büro merkbar, dass sich seine Laune wieder weitgehend normalisiert hatte. Von draußen drappelten dicke Regentropfen an die Fenster der LPG.
„Die Sonnenstrahlen klopfen an“, schmunzelte Sylvia dazu und blätterte mir gegenüber die Zeichnungen durch, vervollständigte Zeichnungsköpfe und Legendenteile, fragte mich zwischendurch nach Zeichenblattnummern und ergänzte Daten. Währenddessen rechnete ich die von mir gemessenen Nivellierwerte nach. Anschließend begann ich damit, sie in die Zeichnungen einzutragen. Dabei stellte ich fest, dass es mehrere Überschneidungen mit den bereits von Orka nivellierten Befunden gab.
Das allein wunderte mich nicht so sehr, schließlich kann so etwas leicht passieren, wenn man mal nach dem Nivellieren vergisst, den einen oder anderen Befund abzuhaken. Ich stolperte aber, als ich merkte, dass sich unsere Werte zum Teil stark voneinander unterschieden. Und es erschreckte mich sehr, plötzlich zu erkennen, dass einige dieser von Orka abgelesenen und gerechneten Werte sogar in sich unstimmig waren. Befunde, die in der Realität auf nahezu ebenen Boden aufgenommen waren, stiegen nach ihren Messungen auf einer äußerst kurzen Strecke unvermittelt um einen Meter an.
„Das kann doch nicht sein!“, stöhnte ich wiederholt und nannte Sylvia einzelne Abweichungen.
„Hat die sich vielleicht verrechnet?“
„Das hab ich auch erst gedacht, obwohl sie sowieso die meisten Subtraktionen mit dem Taschenrechner gemacht hat. Deshalb hab ich mir ihre Rechnungen angeguckt“, glücklicherweise hatte ich stets darauf bestanden, alle Schmierzettel und Kritzelpapiere einzusammeln, um mit etwas Mühe alle Rechnungen nachvollziehen zu können, „und die stimmen! Kuck dir aber mal die Werte an, die sie von der Latte abgelesen hat. Kuck mal, wie falsch die zum Teil sind!“ Die Ausreißer waren teilweise derartig deutlich fehlerhaft, dass es mir jetzt geradezu peinlich war, sie nicht früher bemerkt zu haben.
Zusammen mit Sylvia ging ich Fehler und Zeichnungen durch. Wir schauten uns Orkas Höhenwerte an und verglichen sie mit umliegenden Höhen. Jetzt zeigte sich die Tragik in ihrem ganzen Ausmaß: Einzelne Nivellements auf der Fläche schwebten sogar über der früheren Ackerkrume. Es zeichnete sich am Horizont der Tropfen ab, der das Fass zum Überlaufen bringen sollte. Ich war äußerst verblüfft und wurde sowohl auf Orka als auch auf mich wütend, weil mir ihre miserable Messleistung erst so spät aufgefallen war. Sylvia schüttelte nur den Kopf.
Gleichzeitig war ich unsicher genug, auch die von mir gemessenen Werte nicht als endgültig anzusehen. Immerhin konnte auch ein Fehler im Nivelliergerät vorgelegen haben. Ich beschloss, mir für den nächsten Tag das Niv von Arnold oder Wieland zu leihen und zusammen mit Micha besonders strittige Werte zum dritten Mal zu messen.
Im selben Moment klappte die Eingangstür am Ende des Ganges. Drei Gestalten raschelten in Regensachen und plapperten unverständlich. Micha lachte dazu laut, Jonas hö-hö-te und Jan schien der Stimme nach etwas unentschlossen zwischen Freude und leichtem Ärger zu pendeln. Sylvia und ich sahen uns stumm an. Die drei Nachzügler stapften den Flur zu meinem Büro und blieben vor der Tür stehen. Jetzt konnten wir sehen, dass sich auch in ihren Gesichter die Laune widerspiegelte, die uns akustisch angekündigt worden war. Micha lachte: „Haha, das hättet ihr sehen müssen.“
„Hätten sie nicht“, widersprach Jan bellend.
„Doch, doch“, waren sich Micha und Jonas in einem Atemzug einig.
Der geistige Herbst in meinem Büro hatte meinen Schreibtisch mit Bergen von vollgekritzelten Blättern bedeckt, Sylvia saß mir gegenüber gerade aufgerichtet. Ihre Unterarme ruhten aufeinander, so dass ihre Arme ein Dreieck bildeten, das von ihrem Kopf gekrönt wurde. Wir blickten uns fragend an.
„Hähä, ihr hättet Jan sehen müssen!“ Michas Gesicht zog eine Fratze, „Ihr kennt doch seinen Poncho.“
„Dieses schwarze Ku-Klux-Klan-Ding mit der spitzen Kapuze?“
„Genau! Das Ding, das man auch als Zelt nutzen kann.“
„Ich weiß.“
„Aber eben auch dann“, lachte Micha, „wenn ihn jemand trägt.“ Er deutete auf den grinsenden Jonas. „Jan hockte noch, um ein Stück Planum sauber zu machen, da hat Jonas ihm den Poncho mit Heringen festgetackert.“ Jan blickte wie ein verwirrtes Haustier, das nicht recht wusste, warum es ausgelacht wurde. Sylvia freute sich: „Nu, da is er ja wenigstens nicht nass geworden.“
„Habt ihr denn die Fünfzehn fertig gekriegt?“, fragte ich etwas ernster.
„Ja, alles kein Problem“, beruhigte Micha.
Von hinten kam Wernher an: „Da seitta ja wieder, Mönsch, wat müffelt hier denn so?“
Jetzt sah Jan seine Chance, die Schmach wieder gutzumachen: „Das is Jonas hier.“ Er hielt sich die Nase zu: „Die Rastalocken riechen wie nasser Hund!“
„Ist der Bagger schon wieder fertig?“, erkundigte ich mich.
„Nee, der is bis Feierabend beschäftigt. Morgen soll er aber wieder laufen.“
„Dann könnt ihr euch ja eben umziehen und dann auch noch ein bisschen Scherben waschen.“ Die drei, die ebenfalls in dem früheren LPG-Gebäude wohnten, zerstreuten sich in ihre Zimmer.
Wernher nutzte die Gunst: „Kann ick dich ma kurz sprechn?“
Sylvia stand auf: „Ich muss sowieso mal wohin“, und ging aus dem Zimmer, Wernher rotierte in mein Büro hinein und schloss die Tür.
„Ick wollt noch ma wejen heute mit dir reden. Det war ja eijentlich keene schöne Sache nich, aber det hat mir jezeicht, det du menschlich urst knorke bis. Det ha’ck dir nur ma sa’n woll’n.“ Wernher hielt mir die Hand wie zum Dank hin. Das war meine letzte Überraschung an diesem unseligen Tag. Diesmal positiv.