Freitag, 13. Februar 2009

Kapitel 8.2

Eines Tages musste ich jedoch einsehen, dass nicht einmal diese zivilisatorischen Grundfähigkeiten von Orka zu erwarten waren. Der Vormittag verlief noch verhältnismäßig ruhig, abgesehen davon, dass der Bauer die umliegenden Felder mit irgendeinem ominös stinkenden Giftzeug bespritzte, das in Schwaden auf unsere Grabungsfläche herüberzog. In der Mittagspause bedankte sich der gutgelaunte Hans noch bei mir für die Empfehlung jugoslawischer Fleischgerichte. Erst am Vortage hatte er im Supermarkt entdeckt, dass es gefrorene Ćevapčićis in Tüten gab. Er hatte gleich eine davon gekauft und ihren gesamten Inhalt noch am selben Abend verspeist.
Nach der Pause verschärfte sich die Gemengelage allerdings schlagartig. Micha nervte vor allem die älteren Arbeiter Wernher, Dieter, Hans und Sylvia, indem er am Werkzeugcontainer plötzlich mehrere Silvesterraketen zündete. Ich fand die Aktion lange nicht so schlimm wie das, was er ja ursprünglich vorgehabt hatte, ermahnte ihn aber mit erhobenem Finger vor der Grabungsöffentlichkeit, um den Personalfrieden weitgehend wiederherzustellen.
Der noch gut gelaunte Hans hatte zuvor so viel von der Fläche geputzt, dass ich ihn nun ein paar Befunde schneiden lassen wollte, während ich im Bauwagen Befundbeschreibungen in Formblätter übertrug. Nach einer Zeit schneite Sylvia zusammen mit Wernher in den Bauwagen, er hatte einen größeren Befund zu Ende geschnitten und erkundigte sich nach dem weiteren Vorgehen, Sylvia war mitgekommen um anzumerken, dass sie doch überraschend schnell mit dem Zeichnen der Quadranten vorangekommen war. Ohne mir viel Gedanken zu machen, entschied ich mich für das Naheliegende und bat Wernher, so lange das Planum zu putzen, bis Hans mit dem Schneiden des von ihm bearbeiteten Befundes fertig würde.
Es waren kaum fünf Minuten vergangen, dass die zwei den Bauwagen verlassen und mich über meine Formblätter brüten ließen, als plötzlich ohne jede Vorwarnung Hans zu mir in den Wagen sprang.
„Sag mal, das kann doch nicht sein“, Wernher strauchelte in seinem Schlepptau hinterher, „ich schneide Befunde und der da“, Hans wies auf Wernher, „macht jetzt meine Arbeit?“ Hans schrie zwar nicht, seine Stimme zitterte aber. Man merkte, dass er aufs Äußerste erregt war und größte Mühen aufwandte, sich noch halbwegs zu bändigen.
„Jetzt im Moment, ja“, sagte ich verdutzt.
„Wie kann das sein, ich habe immer das Planum geputzt, mache ich die Arbeit nicht gut?“
Wernher, der sichtlich genervt war, und den Hans offenbar bereits auf der Fläche angefahren hatte, stieg jetzt laut ein: „Ick brauch mir von dir jar nüscht sa’an lassn!“ Im Gegensatz zu Hans versuchte er sich aber nicht einmal zurückzuhalten. Seine kräftige Stimme biss, als er sich erst an den Kopf, dann an die Brust tippte: „Ick jloob, ick spinn! Ick bin ooch schon über fuffzich. Un wenn der Scheff sacht, mach det, denn mach ick det.“
Hans hatte seine Sache vorgetragen, seine Wut blieb grotesk groß. Er drehte sich, winkte mir ab: „Ach!“, sprang aus dem Wagen und lief zurück zu seinem Befund. Ich lief ihm nach, weil ich es selbstverständlich fand, diesen gleichermaßen unbegründeten wie unseligen Streit zu schlichten. Wernher trapste wie ein Terrier mit uns. Er versuchte zwischen Hans und mich zu kommen und zeterte keifend weiter: „Det brauch ick mir nich jefalln zu lassn! Ick hab ooch schon ’n paar Jahr jearbeit’t. Ick weeß, wo der Hase schnalzt!“
Jetzt musste ich nicht allein mehr Hans beschwichtigen, sondern auch Wernher zur Räson bringen: „Du brauchst nicht noch nachzutreten!“, fuhr ich ihn durchaus angemessen an.
Hans stapfte schnell zu seinem Befund, griff sich seinen Spaten, rammte ihn in den Boden und trat auf die Kante des Blattes und sprach zu sich selbst: „Die woll’n mich nur verheizen!“ Er sah mich an und schnaubte: „Ich arbeite hier, und der da hinten steht nur rum!“, wies er auf Jan, der vor dem Bagger stand.
„Ja und?“, fragte ich, „Der macht auch nur seine Arbeit.“
„Ach!“, motzt Hans nur noch. Er schien langsam zu begreifen, dass er einen unnötigen und heillos übertriebenen Sturm verursacht hatte, wollte es aber noch nicht zugeben. Wernher stand neben uns, ich blickte ihn ermahnend an, dass er auch ja nichts mehr sagen solle.
„Hört mal, sowas will ich auf meiner Grabung nicht haben. Das ist hier kein Kindergarten. Und jetzt gebt euch die Hand!“, widersprach ich mir selbst. Hans knirschte mit den Zähnen.
Wernher erkannte schneller die Chance, wieder Punkte gut zu machen, die er durch sein verbales Nachtreten verloren hatte: „Also, ick hab damit keene Probleme nüscht. Det war ja eh bloß ’n Missverständnis. Hier Hans!“, und reichte Hans die Hand.
Hans sah von seinem Befund hoch. Jetzt galt ihm mein strenger Blick. Und ich starrte ihn auch noch an, als ich zu dem neben uns stehenden Wernher sagte: „Du kannst Hans ja gleich mal beim Schneiden helfen, Wernher.“
Dann hob auch Hans seine rechte Hand und griff zögerlich nach Wernhers Hand. Beide schüttelten ihre Hände kurz, ließen sie aber schnell wieder schlapp fallen. „Ich hoffe, das ist damit erledigt“, betonte ich ernst, drehte mich um und trottete aus dieser unwirklichen Szene.