Sonntag, 1. Februar 2009

Kapitel 7.4

Unrhythmisch-schmatzende Geräusche, als schritte jemand im Sumpf Kreise ab, holten mich zurück in die schreckliche Realität. Es machte sich allgemein bemerkbar, dass mir weder der blutige Rülpsgeruch dieser Gorgozilla noch die Vorstellung gefiel, Blutbuletten zu verzehren. Jan wunderte sich: „Bist du etwa son Vegetarier?“
„Nee“, antwortete ich, „ich hab einfach ’ne natürliche Ekelgrenze.“
„Na, ich dachte nur, weil die meisten Archologen sind doch Vegetarier.“
„Sind sie?“
„Hast du schon mal mit Archologen gegrillt?“
„Natürlich.“
„Da war doch immer ein Vegetarier dabei, oder?“
„Jo“, musste ich einräumen, „ein oder zwei schon.“
„Siehste! Und ich hab mal mit einer archologischen Vegetarierin gearbeitet, die hat sich nur von Erdnussriegeln und Limo ernährt. Außer abends, da hat’se dann Pizza gegessen, Salat hat’se nich gemocht. Bis ich ihr mal erzählt hab, wo das Lab für den Käse herkommt, aus Kälbermägen nämlich!“ Die Mundwinkel in Jans Gesicht zogen sich fratzenartig nach oben. Er freute sich sichtlich: „Danach hat’se nur noch Pizza ohne Käse bestellt. Davon abgesehen is das sowieso total blödsinnig. Jeder isst Tiere.“
Ich setzte unwillkürlich ein verwundertes Gesicht auf: „Wieso?“
„Na, im Schlaf. Hast du mal überlegt, wie viele Spinnen du isst, wenn du mit offenem Mund schläfst?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Da gibt’s so wissenschaftliche Berechnungen. Das sind pro Woche wenigstens ein bis zwei Spinnen, die nachts von der Decke fallen und die du aus Versehen verschluckst. Ob du willst oder nicht.“
Sylvia unterbrach: „Hänschen, jetzt hör auf, an deinem Daumen zu knibbeln!“ Die Aufmerksamkeit war augenblicklich auf Hans gelenkt. Der hatte während unserer Unterhaltung ein kleines Taschenmesser aus seiner Hosentasche gezogen, es aufgeklappt und an seinem linken Daumennagel herumgepult, der schwarz und dick war, weil er sich einige Tage zuvor beim Schrauben den Daumen geklemmt hatte.
„Das ist doch nich steril. Das geht doch nicht, Hänschen. Was würde deine Mutti dazu sagen?“ Hänschen grummelte, schwieg ansonsten aber und kramte aus seiner Tasche ein Kabel, das er morgens von einem entsorgten Toaster abgeschnitten hatte, schnitt mit dem Messer die Isolierung ein und zog sie vom Kupfer.
Unvermittelt fragte er mich: „Du kennst Wieland noch von der Uni?“
Inzwischen war ich wieder weitgehend zu mir gekommen: „Ja.“
„Hm.“ Hans überlegte kurz, dann fragte er weiter: „War er da auch schon so ungeschickt?“
„Naja“, ich pustete einmal tonlos, „manchmal ’n bisschen nervig.“ Nach einer kleiner Pause ergänzte ich: „Also, er hat gerne mal die Leute in der Bibliothek zugeschwatzt und ihnen zu jedem erdenklichen Thema kurze Vorträge gehalten.“
Hans schaute verständnislos: „Tja, und hier hat er sich erst mal auf die Knochen blamiert.“
„Wieso?“
„Die erste Grabung, die er hier gemacht hat, war ’ne größere Flächengrabung. Da sollte er genau wie hier die Fläche in 10-Meter-Quadranten unterteilen und bearbeiten.“
„Ja. Und?“
„Rate mal, wie er versucht hat, ein Quadrat mit einer Seitenlänge von zehn Metern auszupflocken.“ Ich blickte verwirrt. „Er hat einen Pflock gesetzt, ist mit dem Maßband zehn Meter in eine Richtung gelaufen, hat da den zweiten Pflock gesetzt, ist Pi mal Daumen zehn Meter senkrecht dazu nach rechts gelaufen“, ich merkte, worauf Hans hinauswollte, „hat den nächsten Pflock gesetzt und wollte dann wieder senkrecht dazu beim ersten Pflock auskommen.“
„Der natürlich sonstwo stand“, lachte ich.
„Genau. Und Wieland hat einfach nicht begriffen, was er falsch gemacht hat.“ Er ahmte Wielands Stimme nach: „Das kommt einfach nicht aus, Hans! – Am Ende habe ich meine Schnur hier genommen“, Hans kramte ein Bündel Maurerschnur aus der Tasche, „und hab ihm die Pflöcke in Nullkommanix gesetzt. Und die stimmten.“
„Ich nehme an, die Schnur hat Knoten bei zehn Meter und bei vierzehn Komma, was sind das noch?“, überlegte ich, „eins ... vier ...“
„Genau, Pythagoras. So einfach ist das. Aber unser adeliger Archäologe ist zu doof dazu.“
„Grabungsleiter! Du wirst staunen“, sagte ich, „was ich da schon für Idioten erlebt habe. Ich war mal als Student auf ’ner Stadtgrabung, da hat der Chef Telekomleitungen gezeichnet und fotografiert. Von allen Seiten. Von oben, von links, von rechts und von unten. Es ist ja alles Befund, dozierte der ständig. Als das zuständige Amt merkte, dass er auch noch Plastikrohre ausführlich dokumentierte, war er die Grabung ganz schnell wieder los.“
„Telekomleitungen!“, lachte Hans, „Das ist gut. Wir hatten schon mal eine Archäologin, weißt du noch Sylvia? Die Klamm, die immer klamm war, die hat doch bei den kleinsten Pfostenlöchern noch Kreuzschnitte gemacht.“ Ich musste laut lachen.
Nach einer kleinen Pause kam Hans zurück zu Wieland: „Aber damals hat Wieland sich ja sowieso immer festgespielt.“
„Festgespielt?“
„Ja. Er macht alles selber, lässt keinen irgendwo ran, und vergisst jede Zeitplanung. Die Trasse hier und die Windkraftanlage sind die ersten größeren Projekte, die er seitdem macht. Zwischendurch hat er nur Voruntersuchungen für Radwege begutachten dürfen. Damit er sich da nicht festspielt.“ Hans freute sich: „Hehe, und er wusste nicht einmal genau, warum. Einmal hab ich ihn gefragt, Mensch Wieland, ist dir schon mal aufgefallen, dass du immer nur Radwege machen darfst? Da hat er wild genickt und zurückgefragt: Habt ihr das auch schon bemerkt?“
„Ja, du hast ihn immer geärgert, Hänschen“, unterbrach Sylvia, „auch mit deinen Wetten.“
„Mit was für Wetten?“, zwischenfragte ich.
„Ha! Das war immer lustig“, amüsierte er sich, drehte sich zu Sylvia und ermahnte sie, „außerdem hast du auch immer von dem Kuchen gegessen!“, dann wandte er sich wieder mir zu, „na, wenn wir einen Befund hatten, irgendein Steinpflaster oder so, denn hab ich mit Wieland immer gewettet. Da ist noch ’ne Urne drunter, hab ich dann gesagt. Und Wieland hat gesagt, nee, da kommt bestimmt nüscht mehr. Denn hab ich gesagt, um was wettest du? Wenn ich recht habe, backst du dem ganzen Grabungsteam einen Kuchen, hab ich gesagt. Na, und er hat eingeschlagen.“ Seine Mundwinkel wuchsen in neue Höhen. „’türlich hat er verloren. Aber er kann selber nicht backen, also musste seine Frau Britta einen Kuchen backen. Und er wollte natürlich schlau sein. Bei einem Wasserloch hab ich gesagt, da kommt noch ein Brunnen. Wieland sagte: Nein, da kommt nüscht mehr. Was wettest du, wieder einen Kuchen?“ Er malte mit den Händen einen Kuchen in die Luft. „Und er war sich so sicher. Hähä. Als der Bagger einmal reingriff, waren wir mitten im Brunnen, ’n schöner Kastenbrunnen. Und Wieland jammerte“, er drehte sich wieder Sylvia zu, die ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte, außerdem hob sich seine Stimme und singsangte, „Wie soll ich Britta das beibringen, dass sie am Wochenende schon wieder einen Kuchen backen muss?“ Hans lachte laut, der Bauwagen stimmte mit ein.
„Habt ihr den Brunnen denn noch graben können? War doch bestimmt ’ne gute Plackerei, wenn der noch unter Wasser stand?“
„Das kannst du laut sagen. Da brach ständig was ein, aber es hat sich auch gelohnt. Da haben wir ein paar schöne Holzfunde rausgeholt.“
„Mit den Einbrüchen muss man echt aufpassen. Ich hab mal ’ne Grabung erlebt, auf der der Grabungsleiter noch seine besten Freunde in drei Meter tiefe Schnitte geschickt hat, die offensichtlich einsturzgefährdet waren, weil er keine Spundwände gesetzt hatte.“ Ich setzte mein wichtigstes Gesicht auf, um die Bedrohung zu unterstreichen. „Es hatte vorher wochenlang nicht geregnet und plötzlich schüttete es in ein paar Stunden knapp siebzig Liter pro Quadratmeter. Als wir am nächsten Tag wieder zur Grabung kamen, sind um uns herum die Bäume umgefallen, weil der Boden das Wasser gar nicht aufnehmen konnte.“ Ich stützte beide Ellbogen auf den Tisch und imitierte mit den Unterarmen umfallende Bäume.
Jetzt schaltete Wernher sich ein: „Manche Leute kennen eben jar nüscht. Die sind als Archologe un ooch als Scheff unter aller Kanone.“ Er blickte zu Sylvia und Hans: „Ihr zwee kennt doch ooch den Fritz, der hat doch immer zusamm mit dem Carlo jearbeit’.“
„Der Carlo, der son bisschen zurückgeblieben ist?“, fragte Hans.
„Ja, jenau den meen ick. Der hat den Carlo der-ma-ßen aus-je-nutzt“, er dehnte die Silben und tippte im Rhythmus dazu auf den Tisch, „det jlobt man nich. Einmal ha’ck jesehn, det der Fritz sich vor den Carlo jestellt hat, als der jrad ’n Befund bearbeit’ hat“, Wernher streute zwischen die einzelnen Worte mehr und mehr Pausen, die immer länger wurden, „sich .. vorbeucht .. und ... dem ... Carlo .... mitten .... int ..... Jesicht ..... forzt.“ Jetzt schüttelte er den Kopf. Wir anderen stimmten in diese Geste mit ein – bis auf Orka, die mit ihren letzten Tollatschen beschäftigt war.
„Das kann man sich gar nicht vorstellen“, erwiderte Sylvia entsetzt und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Det war aber so, so wahr ick hier sitz“, schwor Wernher mit erhobener Hand.
Hans holte zum letzten Schlag gegen Fritz aus: „Soll der Fritz nich neulich in der Stadt im Mini und mit so Schminke im Gesicht rumgelaufen sein?“
„Stimmt“, erinnerte Sylvia sich, „das hab ich auch gehört.“
„Mit Schminke?“, fragte Wernher, Hans und Sylvia nickten. „Im Minirock?“ Sylvia und Hans bestätigten auch das. „Aber der wiecht doch bestimmt seine ... nu ja ... hundertzehn Kilo ... und is kleena als wie unsa Jan hier.“
Alle blickten zu Jan, der inzwischen eine Tafel Schokolade mit 60% Kakao aus seiner Tasche gekramt hatte, und sie nun auf den Tisch schlug als Zeichen dafür, dass der Nachtisch begonnen hatte. Die rohe Gewalt, die er dabei wirken ließ, atomisierte die gute Tafel leider zugleich.
Wernher kramte jetzt einen Apfel hervor, Sylvia wühlte zwei Plastiktöpfchen mit Pudding aus der Tasche und stellte einen Becher vor Hans, der sich bedankte. Orka entnahm ihrem Fresssack einen Halbliter-Topf vollgezuckerten Joghurt und riss mit einer fließenden Bewegung den jungfräulichen Deckel von der Öffnung. Ihr dicken Finger schlängelten sich um den Deckel und führten ihn an den Puttenmund, aus dem ein warziges und langgeschquetscht fleischiges Etwas entfuhr, das das Aluminium geräuschvoll abraspelte. Danach griff dieser weibliche Gargantua einen Esslöffel und vergewaltigte damit das Plastikfass, als wäre der Becher eine Glocke und der Löffel ein Klöppel, mit dem sie als Glöckner das baldige Ende der Welt anzuschlagen versuchte. Der zugehörige Blick wirkte dabei so konzentriert, wie das Gesicht eines siebzigjährigen Einsiedlers, der im vierzigsten Jahr über die Weltformel brütet.
Das Geklöppel Orkas klang noch nach, als der gemütliche, leider zu kurze Teil der Pause begann. Sylvia kramte eine Ostillustrierte hervor und schlug sie auf, Hans knispelte weiter an seinem Kabel.
„Schau mal Hänschen“, wies sie auf eine Anzeige, „Fuchs und Elster“, und blätterte weiter. Wernher verschränkte derweil die Arme vor seinem Bäuchlein, schloss die Augen und entspannte sich tief.
„Naschkatze. Hmm. Vanillesoße. Die ist lecker“, kommentierte sie die nächste Anzeige und klappte die Seite um. Jan legte seine Arme parallel auf den Tisch und bettete seinen Kopf darauf.
„Mensch“, murmelte die Zeichnerin erschreckt, „ich muss ja noch einkaufen!“
„Ich brauch für heute Abend auch noch was“, meinte Hans.
Sylvia pflückte inzwischen ein Blatt vom Fundzettelblock, der stets auf dem Tisch lag und missbrauchte die leere Rückseite als Einkaufsliste: „Was brauch ich denn?“
„Is heut nich Dienstag?“, fragte Hans in den Raum. Ich nickte. „Da steht doch der Vietnamese immer vor’m Supermarkt, ich glaub, da hol ich mir heute einen Broiler, da hab ich richtig Hunger drauf. Meine Mutter isst ja so gerne Broiler, die freut sich bestimmt. Und ich mich erst.“ Hans freute sich jetzt schon sichtlich.
Jan erwachte wieder, stand auf und fragte den quasi-schlafenden Wernher, während er nach dessen Apfelkitsche griff: „Darf ich?“
Sylvia dachte im Gegensatz zu Hans über den Abend hinaus: „Hm, erst mal brauch ich noch Äpfel, vier Äpfel, Elstar vielleicht, Erwin wollte außerdem noch, dass ich ihm TV Guck mitbringe ...“
„Natüürch“, erwiderte der noch schläfrig blickende Wernher, „natüürch darfste den entsorjen.“ Jan schritt mit dem Apfelrest zur Tür, öffnete sie und warf den Apfel auf ein Ziel außerhalb des Bauwagens, das wir nicht sehen konnten.
„... da kann ich auch gleich die neue SuperIllu einpacken ...“
„Zwar nicht getroffen, aber die Richtung stimmt!“, rief Jan erfreut und erwartete anscheinend eine Bestätigung von uns, die wir doch alle sein Ziel nicht sehen konnten.
„... für den Milchreis brauche ich noch Milch, einen, nein besser gleich zwei Liter, für die Haferflocken brauchen wir ja noch mehr ...“
„Wisst ihr, das kommt vom instinktiven Bogenschießen.“
„... ich glaub fast, Wurst-Käse ist auch alle ...“
„Instinktiv?“, fragte Marion, ich schwieg, um mir die Fotos nicht noch einmal ansehen zu müssen.
„... da hole ich gleich noch ein bisschen Mortadella ...“
„Ja, instinktiv. So trifft man am besten.“
„... Margarine ist auch schon fast alle, was ist mit Papiertempo?“
„Ich hab mal als Kind dem Hausmeister einen Schneeball ins Gesicht geworfen ...“
„... die brauchen wir doch bestimmt auch schon wieder, der schnieft vielleicht im Moment, das glaubt man nicht ...“
„... der kam gerade um die Ecke, das konnte ich nicht wissen, aber trotzdem hab ich ihn mitten ins Gesicht getroffen.“
„... für Toni brauche ich noch Fleisch, war nicht Nero im Angebot? Da nehme ich doch gleich vier große und acht kleine mit ...“
„Das ist noch son Steinzeiteffekt, dass man besser trifft, wenn man einfach drauflos wirft, als wenn man zielt.“
„... sollte ich nicht noch Rosinenbrot mitnehmen? Da hole ich besser gleich mal zwei, dann brauche ich noch Brötchen, Erwin braucht ja auch noch drei.“
„J-ja. D-das hat mein Vater auch gesagt“, bestätigte Orka Jans Theorie. „Der war ja Sportschütze in der D-DDR. Der hat mit einer D-dragunov geschossen und war Bezirksmeister.“
„Mit einer Dragunov?“, fragte Jan ehrlich interessiert.
„J-ja. Er hat auch eine kleine K-k-kanone. Mit der schießt er immer zu Silvester. Dafür darf er im Jahr f-fünf Pf-pfund Schwarzpulver kaufen.“
„Das gibt es doch nicht“, zweifelte Hans.
„D-doch. Er zieht auch selber M-musketenläufe und sch-schießt damit. Er darf auch ein Pf-pfund Sprengstoff kaufen.“
„Das kann doch nicht sein“, Hans blickte kopfschüttelnd in die Runde, „was ist das denn für ein Land, in dem ein Privatmann Sprengstoff kaufen darf?“
„Det würd ick ooch ma jerne wissen, Hans“, sagte Wernher, während er die Reste seines Mahls verstaute, und ergänzte, „so – jetzt muss ick ma dahin, wo der Kaiser zu Fuß hinjeht.“ Er stand auf, quetschte sich an Jan vorbei durch die Tür und war kaum aus dem Bauwagen gestiegen, als er uns auch schon herausrief: „Mönsch, kommt ma raus, det jlaubta nich, da steht ’n Pferd vor’m Bagger!“
„Ein Pferd?“, fragte Sylvia und blickte mit mir aus dem Fenster des Bauwagens. Wernher hatte nicht gelogen, es stand tatsächlich ein Pony vor dem Bagger und war offenbar glücklich darüber, ein wenig Gesellschaft zu haben. Es blieb dem Pony allerdings nicht vorbehalten, unsere Pause zu beenden, denn kaum hatten wir das Tier gesehen, als auch schon der Wagen von Senff auf den Acker fuhr.