Donnerstag, 26. Februar 2009

Kapitel 9.1

Für den nächsten Tag hatte ich mir von Arnold das Nivelliergerät ausgeliehen. Auf seiner Grabung war es an diesem Tag gerade nicht notwendig, außerdem hatte ich Micha abends bereits davon unterrichtet, dass ich zusammen mit ihm ein paar Höhenwerte prüfen musste. Mehr hatte ich ihm noch nicht verraten.
Er wohnte zwar wie Dieter in relativer Nähe zu der Grabung, weil er weder eine so günstige Bahnanbindung wie der Seemann hatte noch über ein Auto verfügte, übernachtete er während der Grabung ebenfalls in der LPG. Morgens fuhr er gewöhnlich bei Jonas, selten bei Wernher mit, manchmal, so wie an diesem Tag, auch bei mir.
Sylvia und Hans warteten wie jeden Morgen in ihrem Auto, bis die Arbeitszeit begann. Stefan kam mit seinem Pick-up angeeiert und brachte Dieter vom Bahnhof mit, Wernher tuckerte mit seinem Franzosen über die verfahrenen Furchen und Jonas schmierte mit seinem Strich Acht über den schwachbrüstigen Schlamm. Heute tönte „Bo-dooo, ge-nannt der Ro-te!“ aus seinen Boxen. Als letzte legte Orka ein weiteres Mal ihren Japaner tiefer (war er nicht sogar jeden Morgen ein Stück tiefer?) und ächzte mit der blechernen Reisschüssel auf das Gelände. Ihr Getriebe krachte, und Dieter rief lachend: „Oh, Liebestriebe vom Gegrüße!“
Die anderen setzten ihre Arbeit fort, die sie am Vortag wegen des Regens abgebrochen hatten, nur Micha und ich nivellierten alle Befunde nochmal, soweit sie noch messbar oder rekonstruierbar waren, die Orka bereits gemessen hatte.
Stefan baggerte mehr schlecht als recht, Jan schaufelte vor dem Bagger und verteilte die nummerierten Plastikfähnchen, Dieter und Jonas setzten ein paar neue Pflöcke, Hans putzte das regenverplästerte Planum, Sylvia zeichnete hinter ihm her und Wernher schnitt mit Orka die in der Fläche gezeichneten Befunde.
Bis auf Sylvia, die Bescheid wusste, und Hans, den sie sehr wahrscheinlich informiert hatte, wunderten sich alle sichtlich, das Micha mit mir all die Arbeit wiederholte, die bereits erledigt zu sein schien. Jan und Jonas dachten sich ihren Teil allerdings vermutlich, da sie sich bereits darüber lustig gemacht hatten, wie lange Orka an der miserablen Zeichnung des ersten Pillepallebefundes gewerkelt hatte. Schließlich waren Micha und ich fertig mit dem Messen, er begann seine Profilzeichnungen, ich ging in den Bauwagen, um die Werte auszurechnen und mit Orkas Ergebnissen zu vergleichen. Natürlich war das Resultat verheerend. Alle gemessenen Werte stimmten mit den von mir am Vortag erhobenen Daten überein. Orkas Messungen waren falsch.
Ich ging auf die Fläche und bat in harschem Ton Orka zusammen mit Sylvia als Zeugin in den Bauwagen. Außerdem teilte ich Micha mit, dass ich ihn im Bauwagen sprechen möchte, wenn das Gespräch beendet wäre.
Orka stratzte rotzfrech als erste in den Wagen, Sylvia ließ mir den Vortritt und betrat den Wagen als letzte.
„Marion“, eröffnete ich den Anschiss, „ich hab gestern festgestellt, dass ein paar Unstimmigkeiten bei den von dir gemessenen Höhen vorliegen.“ Ich biss mir auf die Zunge.
„D-das sind b-b-bestimmt nur ein p-p-paar Fehler vom Taschenrechner.“
„Nein! Da sind Fehler, die können einfach nicht sein, manche Höhen sind einen halben Meter zu hoch, bei einigen Befunden multiplizieren sich die Fehler noch, weil eine Fehlmessung zu hoch, die andere zu niedrig liegt.“
Orkas Gesicht fiel zu Boden: „K-kann ich d-die W-werte nochmal sehen? Ich w-würde die g-gerne n-nochmal rechnen!“
„Das hab ich gestern Abend schon gemacht und hier auf der Grabung hab ich für solche Sperenzchen keine Zeit mehr!“
„K-kann ich die F-f-formulare dann mit nach H-hause nehmen?“
„Nein!“ Ich sah, Sylvia staunte still über meine Strenge, Orka hatte die Grenze aber inzwischen zu oft überschritten, um auch nur noch einen Funken Freundlichkeit von mir erwarten zu können. Die Zeichnerin schwieg. Orka blickte geknickt auf den Tisch. Sie hatte ihre hingeklatschten Schinkenarme darauf verteilt und wurstelte nervös mit ihren Parodien auf wohlgestaltete Finger.
„Du wirst nicht mehr messen und du wirst nicht mehr zeichnen. Du kannst Befunde schneiden, da hast du genug, was du noch lernen musst!“
„A-aber ich b-bin doch f-fast f-fertige A-a-archologin!“
„Das glaubst du!“
„I-ich h-hab doch sogar sch-schon ein Diplomt-t-thema!“
„Aha, was denn?“
„Ich w-wollte die Gr-größen von Siedlungen ho-hochrechnen. D-das k-kann man mit d-dem Ge-ge-gefälle des Geländes errechnen.“
Ich blickte sie mit einer hähmischen Miene an: „Mit dem Gefälle?“ Sie nickte, dann machte ich wortlos ein höhnisches Geräusch und kontrapunktierte mit „Na, denn viel Spaß.“
Orka musste endgültig gemerkt haben, dass sie jede Gunst verspielt hatte. Vermutlich fühlte sie sich ungerecht behandelt. Schmollend grollte sie sich aus dem Bauwagen. Wenig später tapste Micha zu uns hinein.
„Du kannst dir denken, wie die Ergebnisse von Orka waren.“
„So, wie sie gerade auf die Fläche kam: ja.“
„Sie ist raus aus dem Rennen. Sie zeichnet nicht nur nicht mehr, sie misst auch nichts mehr. Sie wird nur noch schneiden. Schaffst du das Nivellieren neben dem Zeichnen noch?“ Micha nickte. „Dann liegt das jetzt bei dir.“
Er stimmte zu: „Gut, kann ich machen“, und ging wieder raus auf die Fläche. Sylvia schüttelte den Kopf. „Die ist so dreist, das gibt es nicht. Hatte Wernher dir eigentlich erzählte, dass sie hier die Macht übernehmen wollte?“
Verdutzt schaute ich Sylvia an.
„Na, als du letzte Woche zum Baumarkt musstest, neues Flatterband holen. Da hat Orka tatsächlich versucht, hier das dicke Mäxchen zu machen. Weil sie ’ne Studierte ist, war sie der Meinung, dass sie direkt nach dir kommt.“
„Das ist nicht dein Ernst?“
„Doch, du kannst Wernher fragen. Der hat ihr gesagt, sie soll den Ball mal ganz flach halten, Vorarbeiterin sei ich und fürs Technische wäre erst mal Jonas da.“
„Te, das gibt’s gar nicht, warum habt ihr mir das nicht erzählt?“
„Na, ich hab gar nicht mehr daran gedacht. Als du wiederkamst, war’n wir grad so beschäftigt. Mich wundert nur, dass Wernher auch nichts erzählt hat.“
Damit versickerte noch der letzte Rest von Ansehen, das ich gewöhnlich jedem Menschen zugestehe. Orka war Geschichte. Wir gingen aus dem Wagen. Ich kontrollierte an diesem Tag auf der Fläche nur noch ihre Arbeit und achtete ständig darauf, dass sie wenigstens nicht noch mehr zerstörte.
Irgendwann sprach Micha mich von der Seite an: „Sach mal, Orka ist echt geknickt, kann ich nicht noch mal mit ihr zur Übung messen? Sie will wissen, woran es liegt.“
Ich war sauer, und mein Zorn sprudelte weit über sein Ziel hinaus: „Nee, nicht während der Arbeitszeit. Davon hat sie schon genug verbraten und mich zu viel genervt.“
Micha versuchte weiter zu beschwichtigen: „Hm. Und wenn ich mit ihr nach Feierabend noch mal messe? Lässt du uns das Niv da?“
„Dann stehst du mir aber für das Gerät gerade!“, patzte ich weiterhin grundlos den Falschen an.