Samstag, 14. Februar 2009

Kapitel 8.3

Wernher ging Werkzeuge holen, um Hans zur Hand zu gehen, während ich zu Sylvia lief. Sie hatte hatte von dem Streit offenbar nur wenig mitbekommen. Ich schilderte ihn ihr kurz und fragte: „Sach mal, was ist denn mit Hans los? Ist der heute mit dem linken Bein aufgestanden?“
„Keine Ahnung. Vielleicht liegt’s ja auch daran, dass er erst vor dieser Grabung mit dem Rauchen aufgehört hat. Ich weiß es nicht“, sie unterbrach sich selbst und lenkte ab, „du, kuck dir mal Orka an.“.
Ich drehte mich in die entsprechende Richtung und wurde Zeuge einer Sitzgelegenheit, die ich anatomisch bislang für unmöglich gehalten hätte. Die Körperhaltung, die die massiv-passive und passiv-massive Orka gerade einnahm, hätte bei normalförmigen Menschen einem Hocken entsprochen. Orka dagegen gelang es, auf ihren aufgeblähten Unterschenkeln regelrecht zu sitzen, ohne erst in die Hocke gehen zu müssen.
„Jetzt kuck dir mal die Gummistiefel an, die werfen ja Falten“, staunte Sylvia. Richtig, Orka hatte ihre roten Gummistiefel passend zur Schuhgröße gewählt. Und so wie die meisten Dicken überproportional häufig besonders kleine Füße haben, entsprach die Stiefelgröße nicht ihrem Beinumfang. Sie muss sichtliche Mühen dabei gehabt haben, den Kautschuk über das gedunsene Gewebe zu rollen. Nun schlugen ihre Stiefel Falten.
„Haste den Dieter heut morgen gehört?“, fragte Sylvia. Ich schüttelte den Kopf. „Als sie mit ihr’m tiefergelegten Japaner ankam, hat der Seemann ,Da bläst er!' gerufen.“
Im nächsten Moment wälzte Orka ihre Beine herum und akrobatierte am halb ausgenommenen Befund. Dabei trat sie ungelenk in das Profil und entriss dem Planum den rechten der beiden Nägel, die ich bei jedem Befund setzte, um die Schnittrichtung festzulegen.
„Jetzt kuck dir das an“, sagte ich zu Sylvia und stemmte die Hände in die Hüften, „jetzt rammt sie nicht nur den Nagel raus, sondern steckt ihn ’n Stückchen weiter wieder rein. Das gibt’s doch nicht. Mal gucken, ob sie zu dir kommt, damit du den Nagel auf der Zeichnung korrigieren kannst.“
Sylvia schüttelte den Kopf: „Die kommt nicht. Das hab ich schon ein paar Mal gesehen und ich hab es ihr jedesmal gesagt. Die kommt nicht von allein.“
„Das hat sie schon ein paar Mal gemacht?“, verdutzte es mich, „Das kann ja wohl nicht sein. Ich denk, die hat schon mal gegraben? Wie kann man denn so blöde sein? Da passt doch keine Profilzeichnung mehr zu den Plana!“, regte ich mich auf.
„Die hab ich ja schon korrigiert“, beschwichtigte Sylvia noch, dann ging ich zu Orka.
„Marion? Hör mal, ich hab gerade gesehen, dass du den Nagel rausgerissen hast und einfach neu gesetzt hast. Ich weiß, dass das mal passieren kann, dann musst du aber Sylvia Bescheid sagen, dass sie das auf den Plänen korrigiert.“ Ich sah nun aus der Nähe, wie sie sich im Sandboden an die Schnittkante vorarbeitete. „Außerdem wäre es hilfreich, wenn du dich den Nägeln vorsichtig annäherst und erst mal fünf bis zehn Zentimeter davor stehen lassen würdest.“
„D-das ist mir gerade zum ersten Mal p-passiert.“
„Aha?“ Es war einfach unmöglich, dass sie von meinem Gesicht nicht ablesen konnte, dass ich es besser wusste.
„Ich p-pass jetzt auf.“
„Und das Eintreten des Profils macht übrigens einen Kasten Bier fürs Team. Alte Grabungsregel.“ Marion schwieg. Ich war sauer und ging wieder zu Sylvia. Die Zeichnerin stand inzwischen bei Hans und Wernher, die gerade mit ihrem Profil fertig waren.
„Als ob es nicht reichen würde, dass irgendwelche Idioten am Wochenende Profile eintreten!“, motzte ich.
„Na, immerhin fahren sie nicht mit Motorrädern über die Fläche“, erwiderte Hans.
„Stimmt, Arnold erzählte auch schon so was, dass die bei anderen Grabungen hier schon mal mit ’ner Enduro oder mit diesen Quads herumeiern. Das soll’nse hier mal machen, bei der Fünfzehn können se sich schön den Hals brechen“, empfahl ich.
Für die Untersuchung des Befundes Nummer Fünfzehn hatten wir ein besonders tiefes Loch anlegen müssen. Die Laune von Hans und Wernher war inzwischen wieder merklich gestiegen.
„Sowas hätt’s früher nich gegeben“, war Hans sich sicher, „kuck dir nur mal die Wiesen an den Straßen an. Heute wuchert das alles, zu Ostzeiten war’n die alle schön gemäht.“
„Stimmt“, bestätigte Sylvia, „weißte noch, Hänschen, da stellten alle ihre ,Hier mähe ich'-Schilder auf.“ Ihr Gesichtsausdruck verklärte sich, ihr Gemüt versank in Ostalgie, blieb aber doch so in der Jetztzeit hänge, dass sie mir erklärte: „Mit dem Gras haben wir immer unsere Kaninchen gefüttert.“
„Na, und heute“, drängte sich auch Wernher in die schönen Erinnerungen, „heute ham die Jemeinden nich ma jenuch Benzin, det se im Mai noch mähen könn. Ihr müsstet ma zu mir komm. Vor mei’m Haus mäh ick jetze schon selber. Det is doch keene Art!“
„Ja, aber dafür darf die Jugend im Frühsommer Silvesterraketen zünden, und Privatleute kaufen sich Sprengstoff“, ereiferte sich Hans.
„Ah, stimmt, gut, dass du darauf kommst“, klinkte ich mich ein, „ich hab am Wochenende mal mit einem alten Schulfreund telefoniert, der studiert Jura, dem hab ich von dem Sprengstoff erzählt und der wunderte sich gar nicht, der erzählte, dass man nach dem STGB sogar nur mit fünf Jahren Bau bestraft wird, wenn man eine Atombombe zündet.“
„Fünf Jahre?“, fragte Sylvia nach.
„Fünf Jahre ist die Höchststrafe. Das ist die gleiche Höchststrafe wie bei Eigentumsdelikten. Du kannst also genauso lange verknackt werden, wenn du auf dem Campingplatz ’n Zelt klaust. Das heißt, vielleicht kriegste noch was extra, wenn bei der Atomexplosion jemand draufgeht.“
„Na, das glaub ich fast nicht“, schüttelte Sylvia den Kopf, „bei uns im Ort hat letztens der geschiedene Sohn von irgendeinem Hotelier drei junge Mädchen totgefahren, weil der besoffen und unter Drogen in einer Kurve überholt hat. Der hat nur ein Jahr auf Bewährung bekommen.“
Hans bestätigte kopfnickend: „Dem ist fast nix passiert. Nur ’n Beinbruch. Der hat noch im Krankenhaus wieder mit seinen Drogenpartys angefangen. Das hätt’s damals auch nicht gegeben.“
Meine Vorstellung über den behördlichen Ablauf bei einem durch einen SED-Funktionär verursachten Unfall behielt ich für mich. „Tja, es ist eben lange nicht alles Gold im Westen“, grinste ich, „eure Propaganda hat nicht immer gelogen.“
„Das stimmt“, bestätigte Hans.
„Aber was soll’s. Gerade als Archäologe seh ich das ziemlich abgeklärt, irgendwie fatalistisch. Es ist schließlich noch jedes Imperium untergegangen. Alle Systeme sind irgendwann gescheitert, und trotzdem geht es irgendwie weiter.“ Ich zuckte die Schultern, Hans verstand meine Haltung.
Von der Seite hörte ich, wie Jonas Micha zuquatschte. Jonas sprach ziemlich gut deutsch, er redete aber auch immer gerne sehr viel. Gerade unterbrach er seine Arbeit, um vor Micha herumzukaspern. Der Profilzeichner lachte tiefhalsig. Der Schwede präsentierte seinen Spaten und rief: „Das hier ist mein Spaten, es gibt viele andere, aber dieser ist meiner, mein Spaten ist mein bester Freund. Ohne meinen Spaten bin ich nutzlos, ohne mich ist mein Spaten nutzlos.“
Ich grinste, als ich das Filmzitat hörte. Sylvia wackelte mit dem Kopf: „Der redet auch nur die ganze Zeit.“
„Ha“, ich musste schmunzeln, „der ist doch nur die Ausnahme von der Regel.“
„Welche Regel?“
„Mein Doktorvater hat in Seminaren immer gefragt, ob Anthropologen anwesend sind. Wenn sich jemand meldete, dann hat er gefragt, woran man am Skelett Frauen und Männer unterscheiden kann. Die Anthropologen erzählten dann immer vom unterschiedlichen Becken, von den Überaugenwülsten und den stärkeren Kiefern.“ Ich wies auf die entsprechenden Körperteile und -stellen. „Und erst hier hakte mein Doktorvater dann ein. Kiefer stimmt, sagte er dann, und dann schob er den Unterkiefer vor und zeigte mit den Zeigefingern auf das Unterkiefergelenk“, ich machte die Geste nach, Sylvia grinste erwartungsvoll, „und erklärte, dass das Unterkiefergelenk bei Frauen stärker abgenutzt ist. Nach einer kleinen Pause sagte er dann: Weil Frauen die ganze Zeit plappern, rabrabrabrabrab.“ Ich machte mit der Hand die sprechende Geste, mit der auch mein Doktorvater das sinnlose Sprechgeräusch jedes Mal unterstrich.
Hans und Sylvia lachten, dann lenkte Sylvia unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit: „Orka muss bald wieder nivellieren, da fehlen noch Werte.“
„Nee, die kann erst mal weiter schneiden, da kann sie noch ’ne Menge lernen. Hans? Du kannst wieder Planum putzen, Wernher, wir zwei nivellieren, holst du schon mal Stativ und Latte?“
„Ja, marick.“ Wernher drehte sich im Sprechen und ging zum Werkzeugcontainer. Hans freute sich, wieder mit Sylvia zu arbeiten. Ich lief zum Bauwagen, kramte die Pläne hervor, auf denen noch unnivellierte Befunde waren und suchte mir dazu ein paar leere Formulare.
Bevor ich wieder auf die Fläche ging, nahm ich das Nivelliergerät aus dem Kofferraum des Dienstwagens und stieg zu Wernher, der bereits das Stativ an strategisch günstiger Stelle aufgebaut hatte. Ich schraubte das Niv fest, richtete es waagerecht aus und fertigte zusammen mit Wernher eine Skizze an, auf die ich die Befunde kritzelte, die wir nivellieren mussten. Ich markierte ihm genau die Punkte, die ich gemessen haben wollte, und zeigte sie ihm. Bevor wir mit dem eigentlichen Nivellieren anfangen konnten, ging er mit der Latte auf den Höhenpunkt, für den wir ja glücklicherweise einen TP am naheliegenden Soll hatten. Dann klapperte Wernher die Befunde nach meiner Skizze ab, und ich notierte die Ablesewerte. Die Rechnung wollte ich erst später im Bauwagen machen.
Kaum hatten wir die zwanzig Befunde nivelliert, als auch schon wieder irgendein Auto von der Landstraße zu den Bauwagen abbog. Wernher kannte den Wagen nicht, Sylvia und Hans auch nicht. Aus dem Wagen stieg ein grauhaariger Mann, der eigentlich nur aus Bauch bestand, an den jemand zwei Arme und zwei Beine gesteckt hatte.
Genervt über den ungebetenen Besuch bat ich Wernher: „Baust du schon mal das Niv ab, ich kümmer mich um den Idioten. – Wer immer das ist.“
Der Grauhaarige hielt sich nicht damit auf, vor der Fläche stehenzubleiben, sondern stakste direkt auf die Grabung.
„Hallo“, rief ich ihn an, „bleiben Sie mal bitte draußen.“
„Jaja“, versuchte er zu beschwichtigen, „ich kenn das, ich war schon oft auf Ausgrabungen.“
Ich kletterte aus dem Schnitt auf den stinkenden Acker: „Tach, kann ich Ihnen helfen?“
„Ja“, er streckte mir seine Hand wie bei einem Messerangriff entgegen, „mein Name ist Fornefett. Jürgen Fornefett. Sind Sie der Vorarbeiter?“
„Ich bin der Grabungsleiter, ja.“
„Ich bin ehrenamtlicher Denkmalpfleger. Ich hab die Ausgrabung hier angeleiert.“
„Hm.“, staunte ich, schließlich kannte ich die Hintergründe, das reguläre Prozedere mit Bauanträgen und Genehmigungen.
„Ja, wenn ich keinen Leserbrief an die Zeitung geschrieben hätte, dann wär hier einfach alles weggebaggert worden. Mein Vater hat hier schon immer gegraben, ich kann Ihnen mal meine Ordner zeigen, ich hab ja den ganzen Keller voller Ordner.“
Er versuchte, mich zu seinem Wagen zu leiten. Dämlicherweise ging ich mit und stand neben ihm, als er den Kofferraum öffnete. Der rollende ,Keller' war mit anderthalb Dutzend Ordnern gefüllt, blind griff er einen aus der Menge.
„Schaun Sie mal hier. Mein Vater war ja Dorfschullehrer. Der musste immer gegen den Paster, der ist immer mit seinen Konfirmanden auf Raubzug gegangen, da musste mein Vater mit seinen Schülern immer die Grabhügel in der Umgebung retten.“
„Retten?“, fragte ich skeptisch.
„Jaja, der Paster hätt sonst alles ausgegraben. Schaun Sie mal, kennen Sie das hier?“, keuchte er und versuchte mich zu testen.
„’ne Urne“, antwortete ich gelangweilt und bemüht, „vorrömische Eisenzeit, scheint“, ich betrachtete das stockfleckige Bild und zögerte, „unverziert.“ Er blätterte die vergilbten Pappseiten weiter, auf denen sich unscharfe Schwarz-Weiß-Fotos mit überaus krakeligen Kugelschreiberskizzen abwechselten.
„Genau, keine Verzierung. Sehen Sie den Boden? Da sind Sie mit ihrer Grabungsfläche genau auf der richtigen Höhe. Hier können Sie Funde erwarten.“
„Ach“, machte ich überrascht.
Nun sagte er einen Moment nichts und kam dann schwer atmend auf den Punkt: „Sagn Sie mal, können Sie mir einen Detektor empfehlen?“
„Einen Detektor?“
„Na, son Metalldetektor, dann kann ich mal mit ’nem Detektor über die Felder gehen. Die sind zum Teil ja ganz schön teuer, da möcht ich doch gleich das Richtige kaufen.“
„Ähem, Sie wissen schon, dass das verboten ist?“
Er hm-te mehrfach, legte den Ordner zur Seite und öffnete einen Karton in der hinterletzten Ecke des Kofferraums. Daraus griff er ein grünweiß gebundenes Buch, das er vorsorglich in eine vergilbte Prospekthülle gesteckt hatte, und hielt es mir direkt vor die Nase. „Wolln Sie das Buch kaufen? Das ist die Chronik von Totenow, die hat mein Vater geschrieben.“
„Kann ich vorher mal reingucken?“, ich hielt meine offene Hand in die Richtung des Buches.
Erbost zog er das Buch mit beiden Händen zur Seite: „Nein, Sie haben ja dreckige Hände.“
„Dann kauf ich das auch nicht.“
Er wurde sichtlich wütend und steckte das Buch wieder in den Karton. Dann drehte er sich um und zeigte auf den Soll: „Da oben war ja mal ein Überwachungsturm vom Arbeitslager.“
Ich blickte zu dem Soll, sagte aber nichts, Fornefett nervte mich und sollte das auch merken. Von der Fläche kam Dieter, er war auf dem Weg zum Bauklo. Als er Fornefett sah, grinste der Seemann, grüßte ihn kurz von der Seite und marschierte an uns vorbei. Fornefett grüßte noch kürzer und verbissen zurück. Er schwieg und hatte inzwischen offenbar erkannt, dass er störte. Also verabschiedete er sich und fuhr endlich los.
Dieter stieg aus dem Klo, als ich noch am Bauwagen stand und Fornefett auf die Landstraße abbiegen sah. Dabei verursachte der beinahe einen Unfall, weil er sehr gewagt vom Acker in den fließenden Verkehr schleuderte.
„So ein Arschloch“, sagte ich, und Dieter amüsierte sich: „Na, da haste ja unsern Maurer kennengelernt.“
„Maurer?“
„Ja, der hat früher gemauert, inzwischen ist er in Rente und hat noch mehr Zeit zum Raubgraben. Ich kenn einen vom Bauamt, der sagte, dass Fornefett die Grabungen hier machen wollte. Alle.“ Dieter grinste schnippisch.
„Er sagte, er sei Ehrenamtlicher?“, fragte ich.
„Ja, was man so nennt. Früher in der DDR, da hat er immer gemauschelt, da konnte er irgendwie besonders gut mit dem Bezirkarchäologen, keine Ahnung warum. Aber er hat immer nur raubgegraben. Der muss den ganzen Keller vollstehen haben. Und bei sich im Garten hat er ein Hünengrab nachgebaut. In klein. Daneben hat er noch eine Urne als Vogelbad stehen.“
Ich glotzte Dieter erstaunt an: „Der hat mir gerade die Dorfchronik angeboten.“
„Von Totenow?“ Ich nickte. „Und – hast du sie gekauft?“
„Nee, ich durfte vorher nicht reingucken.“
„Glückwunsch. Ich kenne zwar nicht viele Dorfchroniken, seine dürfte aber so ziemlich die schlechteste sein, die ich jemals gesehen habe. Die ist total beschissen.“
„Sein Vater hat die geschrieben?“
„Nee, nur vorbereitet. Der is vorher gestorben, da hat sein Bruder die Unterlagen abgetippt und dann haben’se das auf eigene Kosten drucken lassen. Aber da sind nur Listen mit Vereinsmitgliedern drin. Schützenverein, Kaninchenzüchter, Kleingarten, Trachten – alles seit neunzehnhundertirgendwann. Und immer steht irgendein Fornefett auf den Plätzen eins bis drei. Die wohnen in Totenow schon seit Menschengedenken. Aber gut, hier guckt ja sowieso über jeden Zaun son Wasserkopp.“ Dieter verzog den Mund zu einer verächtlichen Mimik. „Hoffentlich kommt der nicht wieder.“
„Das hoffe ich auch.“
„Vor allem nicht, wenn mal die Presse kommt. Da spielt er sich immer ganz besonders auf und erfindet irgendwelche Räuberpistolen.“
„Eben erzählte er irgendwas von einem Wachturm auf dem Soll?“
„Wachturm?“, fragte Dieter.
„Von einem Arbeitslager?“
Dieter winkte ab, „Das war doch auf der anderen Seite von Totenow. Das weiß hier jeder. Da steh’n sogar noch die Ruinen. Der spinnt!“ Dieters rechter Zeigefinger drehte Kreise an seiner Schläfe. Dazu streckte er die Zunge raus und schielte.
„Siehste den Hof da unten?“, fragte er dann und zeigte an den Dorfrand.
„Mit dem grauen Haus?“
„Nein, den Hof neben dem Strommast. Da, links.“ Ich nickte. „Den hat letztes Jahr ’n Wessi mit seiner Frau gekauft. Als die da eingezogen sind, kam ’ne alte Frau vorbei, die wohnt jetzt ein Dorf weiter im Altersheim und die war da geboren. Als die Wessis da eingezogen sind, ist die dahin und erzählte, das wär ihr Geburtshaus und sie wollt sich das nochmal ankucken. Die Wessis freuten sich, zeigten ihr das Haus, und sie erzählt zu jedem Raum irgendwelche Geschichten. Irgendwann quatschte Fornefett die Wessis dann im Dorf an und bei der Gelegenheit erzählten sie von der alten Frau. Da ist der total ausgeflippt, das würde ja gar nicht stimmen, die käme gar nicht daher. Die Wessis staunten, haben aber nicht weiter darauf reagiert. Ein paar Tage später stand die Neunzigjährige dann wieder vor deren Tür und heulte. Da hat der Idiot doch tatsächlich bei der Frau angerufen und sie beschimpft, warum sie denn erzählt, dass sie da geboren ist, das könnte ja gar nicht sein, er weiß genau, wer hier wo geboren ist und sie is doch bestimmt ’n Bastard. Naja, und darum rief sie jetz die Wessis an, um sich zu entschuldigen und weil sie Angst hatte, dass sie glauben, sie hätte die beiden angelogen.“
Ich ließ meine Kopf verstehend nach hinten kippen und machte große Augen.
„Natürlich ist die da geboren, er kann das ja auch gar nicht wissen, ist schließlich ’n Vierteljahrhundert jünger. Der hat sonen Dachschaden, der Idiot. Das ist einfach ein Arschloch!“, geringschätzte Dieter. Ich nickte und wir gingen beide zurück auf die Fläche.
„Übrigens muss das Klo bald mal geleert werden“, sagte er dann, „das ist schon wieder eine Woche überfällig.“
Ich nickte und erwiderte: „Darum kümmere ich mich nachher noch.“ Für ein Telefongespräch war ich eindeutig zu aufgeregt wegen des Zoffs zwischen Hans und Wernher, der Profilzerstörung durch Orka und jetzt auch noch wegen dieses Fornefetts. Ich musste mich einfach körperlich betätigen und ein paar Befunde schneiden und ausnehmen.
Oben auf dem höchsten Punkt der Grabung arbeiteten Wernher und Micha konzentriert. Wernher schaufelte um einen Findling herum, bei dem nicht klar war, ob er zu einem anthropogenen Befund gehörte, Micha hockte daneben in einer Grube und zeichnete. Ich hatte von der Fläche einen unbenutzten Spaten genommen und stellte mich leise neben Micha.
„Gut sieht das aus“, bewertete ich seine Zeichnung.
Sein ganzer Körper zuckte: „Hast du mich erschreckt!“
„Na, so hässlich bin ich nu auch wieder nicht!“, schlagfertigte ich ihn ab, und Micha pferdelachte so laut, dass Hans mit einem genervten Blick zu uns herüberschaute.
„Was willste denn mit dem Spaten?“, fragte Micha dann.
„Ich muss mich abreagieren, ich muss ein paar Befunde schneiden“, sagte ich und begann zu graben.
„Aha“, grinste der Zeichner, „soll’n wir unten ein Schild aufstellen ,Hier gräbt der Chef'?“
Ich schmunzelte, „Das ist hier irgendwie nicht so üblich bei dem Amt, dass der Leiter selber mitgräbt, kann das sein?“
Wernher meldete sich leicht ungehalten zwischen, „Naja, das nimmt uns ein wenig Arbeit ab. Dann sind wir zu schnell fertig.“
Micha rechtfertigte mich: „Ist aber immer noch besser als der Knochen, der immer von der Grabung weggefahren ist, um uns dann vom Gebüsch zu beobachten.“
„Jochen meinst du.“
„Aus dem Gebüsch?“, fragte ich.
„Ja, der is immer weggefahren und irgendwann haben wir dann mal gesehen, dass er nur den nächsten Feldweg rein is, um zu gucken, ob wir arbeiten. Auf der Grabung hat er sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Wusste aber immer, was wir getan haben.“
Wir hörten das Gepinge der Bahnschranke. Es war erstaunlich laut, erst jetzt registrierte ich, dass der Bagger nicht mehr lief. Ich rief zu Stefan und Jan: „Was is’n los? ’n Raucherpause? Getankt hat er doch gestern?“
Jan rief zurück: „Nee, der Bagger is kaputt.“ Stefan fügte hinzu: „Hier is’n Schlauch von der Hydraulik im Arsch. Ick muss ma int Dorf, meinen Scheff anrufen, der soll ’n Techniker rausschicken.“ Er ging zu seinem Wagen, um zum Telefon zu fahren. Jan kam zu uns rüber, um beim Schneiden zu helfen.
Ich schwieg, griff zum Spaten und begann den nächsten Befund zu schneiden.
„So wie du da reinhackst, musst du dich wohl abreagieren“, merkte Micha.
„Das kann man sagen. Eben war son Heimathirsch da, der Fornefett, kennste den?“
„Ach, der war das eben“, Micha nickte, Wernher auch.
„So ein Vollidiot. Ich hab ja schon viele Ehrenamtliche erlebt, aber der –“, ich machte ein möglichst verächtlich klingendes Geräusch. „Kennt ihr die Inga Abelt?“ Beide verneinten wortlos. „Die spielt die rothaarige Ärztin in der Lindenstraße und die ist auch Ehrenamtliche. Ich war mal auf ’ner Grabung im Norden von Düsseldorf, da kam die immer an. Die hat wirklich Ahnung und setzt sich für die Archäologie ein. Besonders lustig war mal ein Tag“, lachte ich, „an dem wir einen geologischen Schnitt in die alten Rheinauenböden gesetzt haben. Da ist sie dann auch rein mit ihren rosa Kindergummistiefeln und kam alleine nicht mehr raus.“ Ich malte mit der flachen Hand die Größe der Schauspielerin in die Luft, um die verpatzte Pointe zu erklären: „Die ist ja nur so groß. Naja, der Grabungsleiter war ganz Kavalier alter Schule und hat ihr dann rausgeholfen.“
„Na, mit den Ehrnamtlichen is det sone Sache, det stimmt schon“, nickte Wernher und sah zu Micha, „du kennst doch det Kläuschen.“
„Den Goldsammler?“
„Jenau den. Det is son Sondenjänger, der rennt den janzen Tach über die Äcker mit sei’m Apparat. Der hat aber ooch een janz feinet Näschen“, Wernher setzte sein Katergesicht auf und tippte sich auf die Nase, „der findet allet. Na, und um an seine Sammlung zu kommen, ham’ se ihm die Funde mit Arbeetsverträjen abjekooft. Der durfte monatelang seine eijene Sammlung katalojisier’n und hat dafür noch Jeld jekricht. Nu sach mal“, wandte Wernher sich zu mir und zeigte mir seine leeren Handinnenflächen, „is det nu jerecht? Unsereiner immer ehrlich, hat nüscht jestohln, und der wird noch mit Arbeit belohnt!“
Ich verneinte und ergänzte: „Aber ich weiß, dass es oft schwer ist, manche Heimathirsche einzubinden.“ Dann spatete ich meinen Befund wortlos weiter.
„Ha!“ machte Wernher plötzlich, „ick musste jrad an Besuch denken, den ick mal uff ’ner Jrabung hatte.“ Zur Erzählung stützt er sich auf den Stiel seiner Schaufel. „Det war ooch son linearet Projekt wie dit hier jetze. Da musste der Jrabungsleiter ma kurz zum Baumaakt und sacht zu mir, Wernher, ick muss ma e’m los, du übernimmst so lang die Leitung. Der is kaum wech, da kommt uff eenmal son Hubschrauber und landet mitten uffem Planum. Ick denk bei mir, det kann doch nich wahr sein, ham die noch alle Tassen im Schrank, oder wat, da steicht uff eenmal son Schlipsträjer aus dem Hubschrauber und hat so zwee weißrussische Schränke ne’m sich.“ Wernher zeichnete erst einen Schlips auf seiner Brust und formte dann mit beiden Händen zwei Schlägertypen in der Luft. „Ick sach, moment mal, det jeht aber nich, Sie können doch nich hier uff det Planum landen – da stellt der sich vor, Juten Tach, ick bin der Sowieso vom Straßenbauamt, det is mein Projekt, zeijense mir doch ma bitte, wat Se hier schönet jefundn ham. Nu, ick erklär ihm allet, führ ihn über die Fläche, immer diese beiden Schränke anbei, er ist janz bejeistert und fliecht irjendwann wieder mittem Hubschrauber los.“ Seine Hand machte eine schraubende Bewegung nach oben. „Ick sach dir“, wandte Wernher sich an mich, „der hatte jrad abjehoben, da kam der Scheff wieder. Da sarick dem, du hass jrad wat verpasst. Da war ’n Hubschrauba uff die Fläche. Der zeicht mir natürlich ’n Vogel – bis die andern uff de Jrabung meine Jeschichte bestätijen. Det war ’n Ding!“ Wernher freute sich, Jan lachte.
Micha stand inzwischen auf und blickte an mir vorbei. Ich hielt inne und drehte mich um: „Son Mist, da zieht ja ’ne Front auf! Heute sollte doch den ganzen Tag die Sonne scheinen.“
„Das tut sie ja auch – da drüben.“ Micha zeigte mir die Wetterscheide zwischen unserer Untersuchung und der Grabung von Wieland. Die Regenwand zog nur zu uns.
„O.K.“, ich rief so laut, dass mich alle hörten, „es ist zwar sowieso bald Feierabend, aber wir fahren noch zur LPG, da können wir noch ein paar Scherben waschen.“ Sylvia und die Arbeiter waren inzwischen auf mich zugelaufen. Ich ergänzte: „Ich brauch aber noch ein paar Freiwillige, die den Befund von Or-, Marion fertigmachen, der ist schon so weit, der geht sonst kaputt.“
Jonas und Jan erklärten: „Das machen wir, Micha kann ja zeichnen.“
„Gut, der Rest packt dann ein. Jonas? Wenn der Techniker für den Bagger schnell genug fertig werden sollte, soll Stefan den Abraum bewegen. Nicht, dass einer vom Amt vorbeikommt und Stunk macht.“
„Sag ich ihm.“
Wernher half derweil beim Almabtrieb und forderte die anderen auf, die Werkzeuge zusammenzukramen: „Dawai-dawai, ihr habt ja jehört, wat der Scheff jesacht hat, det jeht zum Scherbenwaschn!“, und machte weit ausholende Scheuchbewegungen mit beiden Armen. Wir verteilten uns auf die Wagen und fuhren zur LPG, zum Scherbenwaschen.