Donnerstag, 11. Dezember 2008

Kapitel 2.1

Senff saß in seinem Büro auf seinem ledernen Chefsessel und hielt inne. Von draußen hörte er Gelächter und Gejuchze. Er gab seinem Sessel einen faulen Stoß und drehte seinem Schreibtisch die Rückenlehne zu, so dass er bequem aus dem Fenster blicken konnte. Er zupfelte seinen geliebten Kamm aus der linken Gesäßtasche und kämmte sein dünnes Haar. Im Park vor seinem Fenster erblickte er eine Hochzeitsgesellschaft. Das Schloss, in dem er heute noch als Landesarchäologe residierte, diente oftmals als Kulisse für Hochzeitsfotos. Senff sah das glückliche Paar und gedachte seiner eigenen Hochzeit.
Sie war möglich geworden, nachdem er promoviert worden war. So hatte ihm seine Promotion nicht allein zwei halbe Stellen verschafft, sondern auch in die Lage versetzten, endlich seine langjährige Verlobte Nicole zu heiraten, mit der er zuvor in wilder Ehe gelebt hatte. Mit Stolz und Freude blickte er daher auf seine Promotion zurück. Sicher, er fand es nicht so schlimm, eine Zeit lang unverheiratet mit einer Frau zusammen zu leben, solange beide sich darüber einig waren, eines Tages auch wirklich zu heiraten. Aber Senff wusste, dass am Institut getuschelt wurde. Das Institut war fest in der Hand von Katholiken in der Diaspora, die ihre direkte Umgebung also um so strenger kontrollierten. Und ihn, der er nur der Sohn eines protestantischen Popen war, missachteten sie ohnehin schon! Wie viel schlimmer also war da das Getuschel darüber, dass beide in Sünde miteinander lebten! Nach der Heirat aber konnte er unbeschadet an den regelmäßigen Teepausen der Institutsangestellten teilnehmen, ohne sich weiterhin aufziehen lassen zu müssen. Ach, dann erzählte er so gerne von seiner Frau. Wie sie sich auf einer Exkursion kennen gelernt hatten.
Es war eine berüchtigte, am Institut legendäre Exkursion gewesen. Die Exkursion führte nach Frankreich, was direkt an der Grenze für ein spannendes und gleichzeitig unglückliches Ereignis sorgte. Einer der Teilnehmer hatte nämlich wenige Jahre zuvor die Jugendsünde begangen, sich bei der französischen Fremdenlegion zu verpflichten. Schnell hatte er die Erkenntnis gewonnen, dass ihm das Kriegspielen doch keinen Spaß macht, und war desertiert. Als der Fahnenflüchtling nun am Schlagbaum auftauchte, wurde er geschnappt und wieder eingezogen. Das ging so schnell, dass die anderen Studenten und Pickenpack nicht erfuhren, ob er einfach nur so viel Chuzpe hatte oder ob er es einfach nicht bedacht hatte. Zumindest wird er in der nächsten Zeit wohl nicht mehr viel zu lachen gehabt haben. Anders als Pickenpack – kaum war der Fremdenlegionär „ausgestiegen“ worden, zuckte der Professor die Schultern und bemerkte zur allgemeinen Erheiterung „Zehn Prozent Schwund ist immer!“
Professor Pickenpack bevorzugte Campingexkursionen. Mit der Familie fuhr er jedes Jahr mit einem alten T2-Camper in den Urlaub und so mussten auch die Studenten mit ihm stets zelten. Dazu besaß er ein hundehüttenähnliches Zelt, in das er abends mit mindestens einer Flasche Wein verschwand. Senffs spätere Frau Nicole kam mit einer Kommilitonin Heidrun in einem Zelt unter, das aufgrund der Menge und der unterschiedlichen Färbungen der Flicken vom ersten Aufbau an als „Villa Kunterbunt“ bezeichnet wurde. Wegen der zahlreichen Flicken war das Zelt natürlich auch nicht besonders wasserdicht, so dass Nicole und Heidrun bei dem auf dieser Exkursion nicht seltenen Regen kaum eine trockene Nacht verbrachten. Heidrun war ohnehin etwas seltsam, schlief sie doch stets en naturelle, was die prüde Nicole auch nicht gerade aufmunterte. Besonders ungehalten wurde Nicole aber, als eines Nachts ein Ohrenkneifer in ihr linkes Ohr kroch und dort den Heldentod starb. Ihr morgendliches Gekreische erzeugte nicht wenig Belustigung unter den Studenten. Allein der völlig humorlose Senff nahm sich ihrer an und entfernte den Ohrenkneifer mittels der Pinzette seines Schweizer Taschenmessers.
Auf dem Rückweg nach Deutschland war Nicole dann nach einer Pinkelpause von einem der draufgängerischen Studenten getriezt worden. Professor Pickenpack hatte die Studentengruppe vorher zu einem eimergroßen, inzwischen verfallenen Loch in irgendeinem Wald geführt. Dazu fragte er die Studenten, um was für eine archäologische Sensation es sich handele. Die Studenten schwiegen bedächtig und blickten in alle Richtungen, nur nicht zum Professor oder auf das Loch. Pickenpack begann mehr und mehr zu grinsen, freute sich über die verlegene Unwissenheit und eröffnete der staunenden Gruppe, sie stünden vor seiner ersten Raubgrabung, die er als 12jähriger durchgeführt hatte. Solche Situationen machten ihm stets eine besondere Freude. Von dieser historischen Raubgrabung ging die Gruppe wieder in Richtung zum Bus. Bevor die Fahrt weitergehen sollte, hatte Pickenpack jedoch noch eine wäldliche Pinkelpause veranschlagt, die auch Nicole nutzen wollte. Bevor sie zum Bus ging, pflückte sie noch einen Ast mit Eichenlaub, um ihren Sitzplatz mit Fenster ein wenig zu schmücken. Doch kaum war sie eingestiegen und hatte den ersten Schritt in den Gang getan, da wurde sie von Mark, einem Draufgänger und unibekannten Schürzenjäger, grinsend gefragt: „Was zahlst du für die Fotos, Nicole?“
Nicole blieb stehen, schaute erst dumm in Marks Richtung mit einem Blick, der verriet, dass sie einen Moment zu lange auf dem Schlauch stand, bekam dann schlagartig einen roten Kopf und verschwand schweigend mit ihrem Eichenlaub auf ihrem Platz.
Das war die Gelegenheit, in der Maxim die letzte Hürde nahm, um Nicoles Herz zu gewinnen. „Du ehrloser Schuft!“, beschimpfte er den nun noch lauter lachenden Mark mit einer Beleidigung, die er sich in der Schundliteratur angelesen hatte, die er heimlich in den Seminaren las. Niemals zuvor war Maxim so aus sich herausgebrochen und er tat es auch niemals wieder. Dabei half dieser Ausbruch natürlich wenig in dieser Situation; genauso gut hätte Maxim „Du Flur!“ persönlich werden können, aber es lenkte immerhin ein weiteres Mal Nicoles Aufmerksamkeit auf ihn. Dann setzte er sich zu der tief betrübten Nicole, um sie erfolgreich zu trösten. Doch es sollte auch belohnt werden: Nach der Exkursion waren Nicole und er in ein Studentenlokal gegangen, wo er ihr ein Mineralwasser ausgeben durfte. Er staunte, eigentlich war sie gar nicht sein Typ, sie war sehr mager und hatte einen Brustumfang wie eine typische Volleyballspielerin. Ihre Haare waren brünett und wie ein Treppenabsatz geschnitten. Maxim erkannte aber, dass sie nicht die hellste war, und sah hierin offenbar frühzeitig die Möglichkeit eines leicht zu lenkenden Heimchens.
Er verfestigte die Eroberung vor allem dadurch, dass er sie nicht auslachte, wie die anderen Studenten und zeitweise sogar die Dozenten es taten. So berechnete sie als Doktorarbeit die „Transportmengen auf mitteleuropäischen Flüssen der Antike“. Dazu hatte sie von Pickenpack ein mehrmonatiges Stipendium in den Niederlanden vermittelt bekommen, was leider den Nachteil mit sich brachte, dass sie die dasige „fremdländische“ (sic!) Literatur nicht lesen konnte. Doch Nicole war darüber hinaus auch so dumm, diese Tatsache beim Doktorandenkolloquium zuzugeben, in dem sie ihr „work in progress“ vorstellen sollte. Damit hatte sie die ersten Lacher auf ihrer Seite. Die nächsten erntete sie, als sie auf der Deutschlandkarte nicht einmal den Rhein nicht zu finden vermochte. Damit rief sie nicht allein Gelächter und Unmut hervor, sondern auch die Neider auf den Plan, die gar nicht einsehen wollten, warum diese Person ein Stipendium – oder wie es bei ihr fortan hieß: ein Stupendium – erhalten hatte. Für weitere Heiterkeit sorgte sie übrigens unter den Studenten, als sie in der Caféte von der hochgeschossigen Zweitwohnung ihrer Eltern in Bremen zu erzählen wusste, wo sie morgens stets „mit Blick auf die Elbe frühstückte“. Bald schon machten die Studenten einen weiten Bogen um Nicole, bis auf Maxim, der eben – wie ihr immer aufgefallen war – nicht über sie lachte. Sie konnte damals natürlich nicht wissen, dass Maxim eigentlich nie lachte. So hängte sie sich an ihn, und war schneller mit ihm verlobt als man es sich vorstellen konnte. Und ihre Familie war sehr stolz auf die Verbindung: Eine Pastorssohn! Das musste ja eine gesegnete Ehe werden!