Montag, 22. Dezember 2008

Kapitel 3.3

Noch mehr Streit verursachten allerdings bereits im ersten Jahr die Studenten, die in der Tat allermeist von Hirnlosigkeit angetrieben waren. Ihre Bewegungen auf der Grabung wirkten, als imitierten sie ein extrem vergrößertes Modell quantenphysikalischer Ereignisse innerhalb eines Teilchenbeschleunigers – allerdings erheblich verlangsamt. Krzysztof radebrach bereits am ersten Tag über sie, sie liefen auf der Grabung herum, „wie eine Herde verirrter Labyrinder.“
Sie waren völlig erstaunt gewesen, hier im südlichen Mittelgebirge körperliche Arbeit leisten zu müssen. Zuvor waren sie ernsthaft davon ausgegangen, je einen persönlichen Arbeiter an die Seite gestellt zu bekommen, um diesen zu kommandieren. Dass sie sich nun selbst mit Muskelschmalz betätigen mussten, erboste sie bereits am zweiten Tag so schwer, dass sie sich beschwerten, als Archäologen (!) mit einer Schaufel (!!) zu arbeiten!!! Ein Student namens Peter versteifte sich gar darin, später Sitzarchäologe zu werden. Er müsse also nicht seine Muskeln anwenden, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Daher spazierte er so oft es während der Arbeitszeit möglich war, in den Wald. Er trainierte dort mit schweren Steinen Bi- und Trizeps, da er sehr wohl das Bedürfnis verspürte, ein athletisches Aussehen zu besitzen. Wenn Krzysztof diesen aufgrund seiner Kleidung auch „Top Gun“ bespitznamten Studenten mal wieder zur Grabung zerren musste oder sogar Diskussionen über die Zweckmäßigkeit körperlicher Arbeit aufkamen, diskutierte der Techniker jedoch nicht lang, sondern ermahnte die Studenten streng, dass sie noch viel zu lernen hätten und drohte nachhaltig mit der Nichtausstellung der Seminarscheine.
So legte sich die Haltung zur Arbeitsverweigerung irgendwann, bis den Studenten auffiel, dass nur noch die etwas füllige Katrin sich weigerte, die Schubkarre zu bedienen. Die Bösartigsten unter ihnen begannen nun damit ihr weiszumachen, dass es nicht allein den Seminarschein über die Lehrgrabung geben sollte, sondern dass auch eine Fahrerlaubnis für Schubkarren zu erwerben sei. Als Grund für die inzwischen häufigen Schubkarrenfahrten zum Abraum nannten sie das willkommene Training am Gerät für die am Ende der Grabung stattfindende Prüfung. Krzysztof hatte trotz seiner Sprachschwierigkeiten genug Humor, das üble Spiel mitzuspielen. Katrin wurde panisch und übernahm umgehend ihre Entsorgungspflichten. Wenn sie nun das einrädrige Gefährt auf dem Abraum hebelnd leerte, riefen die anderen Studenten ihr böse zu, die Karre gut zu leeren, damit sie auch ja das Häschen sehen könnte!
Eines Tages entdeckte Katrin auf dem Weg, über den jede Schubkarre in Neuweiler bugsiert werden musste, ein kleines Fuchshäuflein. Mit den Fußspitzen häufte sie eine kleine Staubpyramide auf das Exkrement und steckte als Hinweis auf die Gefahr ein fingerdickes Stöckchen in ihr Bauwerk. Jedem, der ihr über den Weg lief, schilderte sie fortan Horrorgeschichten über den gemeinen Fuchsbandwurm, der nur darauf wartete, von dem Häufchen einen Menschen anfallen zu können! Mit der Auffindung einer neuen Gefahrenquelle aus dem Reich der Tiere traf es Katrin besonders hart, weil sie ohnehin vom ersten Tag an von der Phobie besessen war, irgendwelche Keime könnten sie angreifen. Bei jeder Arbeit außerhalb der Baracken trug sie tagtäglich geblümte Gartenhandschuhe und nutzte darüber hinaus jede freie Minute, ihre Hände mit Desinfektionstüchern zu reinigen. Der Nutzen der Tücher lag auf der Hand, bereits nach wenigen Tagen pellte sich die Haut von den Handinnenflächen, so dass ihr jede Arbeit umso mehr verleidet wurde. Es waren jedoch nicht ihre rohfleischigen Hände, die sie in die Ohnmacht trieben, sondern eine ihrem Gekreisch nach „FÜNFMARKSTÜCKGROSSEZECKE!“, die sie auf ihrem linken Bein entdeckt haben wollte. Krzysztof und einige anwesende Studenten versicherten mir später, es habe sich um einen einfachen Weberknecht gehandelt. Daher konnte er es sich auch bedenkenlos ersparen, Katrin zu einem Arzt zu fahren, zumal er diesen Tort bereits hinter sich hatte.
Dafür hatte der täppische Top Gun gesorgt, der sich schon der ersten Woche beim Zusägen eines Balkens im Wortsinne beinahe umgebracht hatte. Die ungelenken und unzweckmäßigen Bewegungen hatten Krzysztof zwar belustigt, er hatte dennoch geflucht, keine Videokamera zur Hand zu haben. Bei Top Guns nächsten Aktion fluchte er dagegen, weil er mit ihm in die Notaufnahme rasen musste. Der Unmotoriker hatte das Unmögliche möglich gemacht und sein Antlitz mit Archäologens liebstem Werkzeug verstümmelt. Bei diesem Gerät handelte es sich nun nicht, wie der landläufigen Meinung durchs Fernsehen eingetrichtert wird, um Pinsel oder Zahnarztsonde, sondern um eine Kelle. Diese muss für den korrekten Arbeitseinsatz mit Raspel, Feile und Schleifstein an ihren Seiten gehörig angeschärft werden. Und mit einer solchen sehr, sehr scharfen Kelle war es Top Gun gelungen, von dem Stein einer antiken Feuerstelle abzugleiten, so dass sie in sein Gesicht glitt und ihm ein Stück seiner Nasenspitze abtrennte. Leider vermochte es der zuständige Arzt nicht, den leicht verdreckten Fleischkegel wieder anzunähen, daher muss Sitzarchäologe Peter sein Leben mit einem plattwulstig-vernarbten Gesichtsvorsprung verbringen.
So dämlich sich die Studenten auch anstellten, von einem weiteren Besuch der Notaufnahme wurde Krzysztof im ersten Jahr der Kampagne freundlicherweise verschont. Erst im Folgejahr zwang ihn Tilo, ein glatzköpfiger Student, der mehr an Halbedelsteinen interessiert war als an Archäologie, zu einer erneuten Visite der nächstliegenden Klinik. Tilo hatte abgesehen von seinen Augenbrauen bereits mit 26 Jahren kein Haar mehr auf dem Kopf und plärrte jedem die Ohren voll, der nicht schnell genug woanders hinlaufen konnte. Sein größtes Erlebnis war ein zweiwöchiger Trinidad-Urlaub gewesen, den er zum Steinesammeln genutzt hatte. Da er nun dort in Äquatornähe seiner Meinung nach an extreme UV-Strahlung gewöhnt war, weigerte sich der dürre Spiddel trotz der großen Sommerhitze, die in diesem Jahr in Neuweiler herrschte, seine Glatze mit irgendeiner Kopfbedeckung abzuschatten. Tilo ging sogar so weit, die Sonnenstrahlen allmorgendlich mit weit ausgebreiteten Armen zu begrüßen, offenen Auges in die güldene Scheibe zu blicken und die seltsame Anbetung mit der Rezitation eines kühn prononcierten vedischen Mantras zu würzen. Womöglich war dies bereits ein erster Eindruck des sich abzeichnenden Sonnenstichs, denn natürlich kam es, wie es kommen musste, und die Sonne verbrannte ihm die letzten Reste im und auf dem Kopf. Schon in der zweiten Woche konnte Tilo nachts nicht mehr schlafen, weil die Brandblasen auf Glatze und Ohren es ihm unmöglich machten, den Kopf niederzulegen. Der Arzt der Notaufnahme schrieb ihn zwei Wochen krank, und Senff tobte. Doch Tilo hatte auch nach den zwei Wochen mit Kopfverband nichts gelernt und verweigerte auch während der restlichen drei Wochen jeglichen Kopfschutz. Aber sonst wäre Tilo ja auch nicht Tilo gewesen.
Die ausgesprochene Dummheit aller anderen Studenten zeigte sich dagegen wenigstens nur darin, dass sie Fragen stellten, die jeder Sittich nach ausgiebiger Sprechperlentherapie hätten beantworten können. Und wenn man ihnen antwortete, nützte es nicht einmal etwas, mit ihnen zu sprechen, denn sie hörten nie zu und fragten wenige Minuten nach einem ausführlichen Vortrag genau nach den Dingen, die ihnen gerade lang und breit erklärt worden waren. Als typisches Beispiel führte Krzysztof mit Vorliebe einen Studenten an, den er nur die Made nannte. Ihren Kopf beschrieb der Techniker als kahlköpfig und faltig, die Hautfarbe nannte er „gletscherweiß, aber nicht so lebendig, eher wie Wachs.“
Die Made bearbeitete Stellen, die ausnahmsweise ausdrücklich mit dem Pinsel bearbeitet werden sollten, mit der Spitzhacke und griff zum Pinsel, wenn es darum ging, mit dem Spaten ein tiefes Loch anzulegen. Täglich belästigte sie Krzysztof durch das tausendfache Herantragen unansehnlicher, aber eindeutiger Steine, um sich zu erkundigen, ob es sich nicht vielleicht doch um Knochen handelt. Einen gloriosen Erfolg erreichte sie jedoch in der Kategorie „Erst nachdenken, dann fragen“, als sie Krzysztof mit ihren Überlegungen zur Entstehung antiker Siedlungsgruben nervte. Tagtäglich hatten die Studenten nun an diesen Befunden gearbeitet. Dennoch blinzelte die Made den Techniker eines Tages durch ihre Pilotensonnenbrille und fragte voller Wissensdurst, ob die Germanen erst Gruben gefüllt und danach den Lehm um die Gruben herum geschmiert hätten.
Krzysztof raufte sich die Haare und verweigerte die Antwort. Er hatte es aufgegeben, die Studenten mehr als das Nötigste zu lehren, zumal Senff als Dompteur ein Totalausfall war. Besonders in dieser Konstellation mit dem dümmsten Ausgrabungsleiter war mit den Studenten kein Krieg zu gewinnen. Geschweige denn ein Forschungspreis. Und selbst die wenigen denkenden Studenten merkten, dass Krzysztof der eigentliche Leidtragende war, wenn er von einer Studentengruppe zur anderen eilte, um die schlimmsten Zerstörungen zu vermeiden. Er war schlicht von zwei Seiten eingekeilt. Von oben trat der geistlose faule Senff, von unten drückten die desinteressierten Studenten – arbeitsscheu wie die Stirnersche Masse. Als Krzysztof das eingesehen hatte, verschlechterte sich die Stimmung auf dem Plateau um ein Vielfaches. Und dennoch ließ er sich ein zweites Jahr auf die Lehrgrabung ein, in dem dann aber auch endgültig Funkstille zwischen ihm und Senff eintrat. Das verdankte er dem Hinterträger Robert Plankenreiter, den es im achten Semester endlich auf seine erste Ausgrabung gezogen hatte, und der aus unbekannten Gründen von Senff fasziniert war.
Robert bekam eines schlechten Tages mit, als Krzysztof anderen Studenten gegenüber Neuweiler als eine ungeordnete Zirkusgrabung bezeichnete. Robert plankenritt schnellstmöglich zu dem Chef-Bauwagen, um Senff die Entwürdigung der Ausgrabung zu hinterbringen. Das war nun endlich der Beweis der Insubordination, die Senff stets bei Untergebenen suchte und die er nicht dulden konnte. Gerne hätte er Krzysztof sofort gekündigt, musste aber feststellen, dass das wegen des Vertrages nicht vor dem Ende der diesjährigen Kampagne möglich war. So lernte Senff für die Zukunft, nur noch sehr kurzfristige Verträge abzuschließen. Denn nur so war er in der Lage, Mitarbeiter innerhalb einer Woche loszuwerden. In Neuweiler musste er noch ein paar Wochen gute Miene zum verhassten Techniker machen. Er war jedoch unverschämt genug, den Personalwechsel für das kommende Jahr bereits einzuleiten, indem er Krzysztof umgehend befahl, Plankenreiter den Umgang mit Nivelliergerät und Totalstation zu lehren. So wurde Robert im Folgejahr Techniker, ohne zu ahnen, wie sehr sich diese Beförderung für sein weiteres Leben auszahlen würde. Als er auch im späteren Amt Senffs Stellvertreter wurde, konnte keiner die Gründe für diese Besetzung nachvollziehen. Seine fachlichen Fähigkeiten überzeugten jedenfalls niemanden außer Senff.