Samstag, 6. Dezember 2008

Kapitel 1.1

Maxim Senff fuhr mit seinem undefinierbar blauen Kleinwagen auf den Parkplatz des Landesamtes für Bodendenkmalpflege. Grimmig musste er feststellen, dass einer der Wichtigtuer, die im Amt mit einem kurzfristigen Zeitvertrag angestellt waren, seinen Lieblingsparkplatz unter der Linde blockiert hatte. Er stellte seinen Wagen daneben, stieg aus, kramte sein zerwetztes Aktenköfferchen aus dem Kofferraum und lief über den Parkplatz zum Schloss, in dem er residierte.
Der alt aussehende Mann trug seine fisseligen Haare noch immer fast schulterlang. Heimtückisch schlurfte er zur schweren, sich nach außen öffnenden Eingangstür des Schlosses. Auch von Ferne war er an seinem Markenzeichen gut zu erkennen, hatte er sich doch wie stets seinen roten Lieblingsschal um den in den letzten Jahren aufgequollenen Hals gepackt. Wie jeden Morgen würdigte der verhärmte Dr. habil. das Backsteinschlösschen mit seinen verdrehten Schornsteinen und dem brüchig gemauerten Landeswappen keines Blickes.
Bald ist es hiermit vorbei, dachte er grinsend bei sich, als er vor der Tür stand, es war schön, aber die Karriere geht weiter. Er war sich doch seit jeher so sicher gewesen, zu höherem bestimmt zu sein. Er befingerte das Codeschloss an der Eingangstür. Niemand verstand, auf welcher Grundlage er die Kombinationen für das Schloss auswählte. Diesen Monat war es das Erscheinungsjahr seiner Dissertation, die 1 dann die 9 dann noch mal die 9 und zuletzt die 3. So. Das grüne Licht leuchtete, der Mechanismus brummte krächzend. Senff öffnete die Tür und stolperte in den Flur.
So baufällig das Schloss auch war, es gefiel ihm trotz der quietschenden Türen, der schwammigen Tapeten mit vergilbten Wölkchen vor ehemals blauen Himmelchen und den unangenehmen Fluren mit ihren verfilzten, aber abgetretenen Teppichen. Senff schlurfte über den Flur des Erdgeschosses, meist standen die Türen der Büros hier offen, leicht schieläugig kontrollierte er bei diesem Gang sogleich, wer bereits zur Arbeit erschienen war. Wer schon am Arbeitsplatz saß, war dringend angehalten, den Amtsleiter Senff zu grüßen, bevor der das als erster tat. Wer in diesen Momenten nicht darauf achtete, dass das große Tier an seinem Büro vorbei schlich, musste sich darauf einstellen, den Morgen nicht allein mit einem gehörigen Anschiss zu beginnen, sondern auch den Wochenrest mit allerlei Fronarbeiten zu verbringen. Heute war es anders. Es war der letzte normale Arbeitstag von Dr. habil. Maxim Senff.
Im ersten Büro, an dem er vorbeikam, hockte der kleinbebrillte Matthias Spasst. Der aufgrund seiner klassisch-archäologischen Ausbildung notorisch fehlbesetzte Wasserträger krümmte sich wie üblich vor dem Bildschirm seines Computers. Matthias verbrachte an dem Gerät die meiste Arbeitszeit, um es mit Daten zu füttern oder neue Namen in sittenwidrige Knebelverträge einzutragen. Er war ein typisch deutscher Vertreter der skrupellosen Schreibtischtäter. Wer mit ihm zu tun hatte, wusste, dass Spasst siebzig Jahre zuvor gewiss eine glanzvolle Karriere bei dem Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der Schutzstaffel gemacht hätte, wenn er nicht zu religiös gewesen wäre. Heute gab er mit dem Intellekt einer Ameise und dem Verständnis einer Zuse 3 weitere Myriaden von Zahlenkolonnen in Excel-Tabellen ein.
„Guten Morgen, Maxim!“, sprang Matthias auf, als er seinen Chef in der Tür erblickte, der schon ein Büro weiter geschritten war, bevor er ein blasses „Morgen“ erwiderte. So wichtig es Maxim war, dass nicht er die Leute zuerst zu grüßen hatte, so selbstverständlich war es ihm, wenn sie es taten.
Im nächsten Büro saß Osiw Racled, ein russischstämmiger Schweizer, den es aus privaten Gründen nach Deutschland verschlagen hatte. Racled arbeitete bereits seit mehreren Jahren in dem Amt. Er war zuständig für die Inventarisierung und Prüfung der Meldeformulare. Entdeckte er, dass Informationen fehlten, reichte er die Unterlagen weiter. Nie wäre es ihm in den Kopf gekommen, selbst Informationen zu ermitteln. Erst im letzten Monat hatte es Osiw geschafft, ein begehrtes Büro im Erdgeschoss zu ergattern. Vorher war er dazu verdammt gewesen, in einem Kabuff in den trocken-staubigen Kellergewölben des Schlosses zu arbeiten. Nun wurde endlich auch sein Arbeitsplatz von natürlichem Tageslicht erhellt. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm „Morgen, Herr Doktor Senff!“ zu rufen, bevor dieser mit gesenkten Augenbrauen einhakte mit einem „Morgen! Ist die Akte Ferment schon rausgeschickt?“
„Die liegt bei Müller!“, gelang es Racled sich herauszureden. Senff nickte stumm und ging in seinem federnd-schlurfenden Schritt weiter. Mehrere Büros und Besprechungszimmer im Erdgeschoss standen noch leer, erst im letzten Raum vor der Treppe saß Volkmar Keulenkotz, eine teetrinkende Schwatzdrossel, dessen Arbeitsleistung niemandem wirklich klar waren. Obwohl er mehr oder weniger regelmäßig einen Einlauf verpasst bekam, ließ Senff ihn gewähren.
Senff stierte in das Büro, Keulenkotz saß kerzengerade vor seinem Computer und spielte Solitär.
„Morgen Keulenkotz“, motzte Senff.
„Morgen Herr Doktor Senff“, speichelte Keulenkotz und bemühte sich, das digitale Kartenspiel zu verbergen.
Doch so einfach machte es Senff sich nicht. Er blickte kurz im Büro umher und blinzelte zornig: „Was soll das eigentlich hier?“
„Was?“
„Na, der Mülleimer!“
Keulenkotz blickte verwirrt.
Mit gedrückter Stimme schimpfte Senff: „Der ist doch viel zu groß! Ich habe mich gerade gestern bei den Rotariern mit Staatssekretär Doktor Lange darüber unterhalten, was in Ämtern alles verschwendet wird.“
Keulenkotz wusste weiterhin nicht, worauf der Chef hinauswollte.
Senff kläffte jetzt gedämpft: „Jetzt stellen Sie sich mal vor, Doktor Lange kommt hierhin zu Besuch. Wenn der sieht, was Sie für einen großen Mülleimer haben, dann denkt der doch, Sie produzieren nur Müll!“
Keulenkotz machte große Augen.
„Jetzt entsorgen Sie diesen Mülleimer und bestellen Sie sich in der Arbeitsmittelbeschaffungsstelle einen neuen Mülleimer. Aber einen kleinen!“, hängte Senff mit Nachdruck an seinen Satz. Senff ging aus dem Büro und lief zur Treppe.
Nachdem Senff die Treppe hinaufgestiegen war, ging er rechts um die Ecke und gelangte in das Vorzimmer von Amelie Scheckow, seiner Sekretärin.
„Guten Morgen, Herr Direktor!“
„Morgen, Frau Scheckow. – Sie können gleich der Jensen Bescheid geben. Sie kann die Dias wieder abholen.“
„Ist der Luftbild-Vortrag nach ihren Wünschen verlaufen, Herr Direktor?“
„Naja, wenigstens stand kein Dia auf dem Kopf, obwohl die Hornochsen bei den Rotariern es sowieso nicht gemerkt hätten. Nächstes Jahr muss Robert –“, er hielt inne, ihm wurde bewusst, dass es höchstwahrscheinlich kein nächstes Jahr mehr geben sollte, in dem er irgendwelche Arbeit an Robert Plankenreiter delegieren konnte. „Es ist schon gut, Frau Scheckow, sagen Sie ihr nur Bescheid“, beendete er das Geplänkel und freute sich über seinen nächsten Karriereschritt hin zum Kultusministerium.
Schulterzuckend drehte er sich um und öffnete die schwere Flügeltür zu seinem Büro. Im Gegensatz zu den verkommenen Büros seiner Angestellten hatte er stets darauf bestanden, dass sein eigenes Büro anständig renoviert und eingerichtet war. Daher residierte er in einem Turmzimmer mit einem überdimensionalem Feldherrenschreibtisch aus massiver Eiche, einer edlen, noch von seinem Vorgänger übernommenen Holzvertäfelung und zahlreichen Bücherregalen, die gefüllt waren mit all den gedruckten Schenkungen, die ein Wissenschaftlerleben so begleitet. Er legte seine Tasche auf den Schreibtisch, schritt zu dem Schrank, in dem sich seine private Garderobe befand und hakelte zwei Kleiderbügel heraus.
Er zog Mantel, Schal und Sakko aus und hängte das Ensemble auf die Bügel, die er im Schrank verstaute. Auf der Innenseite der Schranktür hing ein halbhoher Spiegel. Einen Moment stellte er sich leicht gekniet davor, um seine Haare zu richten, dazu zog er aus der linken Gesäßtasche seinen Kamm. Kaum hatte er die kümmerlichen Reste dessen, was er früher selbst so gerne als Mähne angesehen hatte, über den Kopf gefurcht, da fielen ihm im Spiegelbild zwei unschöne Details auf.
Auf seiner sprungschanzenartigen Nase hatte sich wieder ein dicker Pickel gebildet. Maxim konnte machen, was er wollte, den Pickel zu verhindern war er seit seinem 12. Lebensjahr nicht imstande. Allerdings hatte er es irgendwie geschafft, damit leben zu können. Wesentlich peinlicher war ihm dagegen der andere ä-Punkt der Kreation Senff. Es war der tägliche Fleck, der sich morgens bei der erstbesten Gelegenheit auf seinem Hemd oder seiner Jacke bildete.
Mal war es ein Tropfen Kaffee, mal war es Milch. War es gestern noch Rotwein, der die gebundene Fliege verunzierte, konnten es heute Spritzer vom frühstücklichem Spiegelei oder morgen auch Marmelade sein. Die eine Woche trug er Zahnpasta auf seinem Hemd, in der Woche zuvor war es noch Senf, ausgerechnet. Damals, als er Leiter der Abteilung Sonderprojekte im Osten war und oft genug ehemalige LPG-Gebäude abklappern musste, zog er mit seiner schwarzen Sportjacke automatisch Kalkreste von den ungepflegten Wänden an. Streifte er in einem weißen Segeltuchanzug durch die Landschaft, so dauerte es keine Minute, und ein Ölfleck zierte das Ensemble.
Mit diesen Flecken verbrachte Senff seine innigsten, aber auch ärgerlichsten Momente, konnte er doch stundenlang an ihnen herumknibbeln und sich selbstvergessen mit dem erfolglosen Versuch beschäftigen, sie von den Textilien zu lösen. Besonders groß war dieser Drang stets an solchen Tagen, an denen sich die Presse angekündigt hatte, selbst in der Zeit, als es ihm bereits gelang, mit den Journalisten herumzuspringen wie ein Löwendompteur mit seinen Kätzchen.
Als er heute den Fleck auf seiner Fliege entdeckte, fluchte er stumm. Er wischte mit den Fingerrücken ein paar Mal über den Fleck, ohne dass es irgendetwas brachte.
Er richtete sich wieder auf, schloss beidhändig den Schrank und stellte sich dann mit angewinkelten und auf die Hüften gestützte Arme vor eines seiner Bücherregale. Er schaute auf die Bücher, die er als angemessenen Tribut an seine gottgleichen Fähigkeiten ansah, und begann zu träumen.