Montag, 8. Dezember 2008

Kapitel 1.2

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere stellte Maxim Senff sich vor, eines Tages der Held einer Fernsehsendung zu sein. Er malte sich aus, wie er sich in einer Show namens „Das war Ihr Leben“ auf einer puffärmeligen roten Couch lümmelte, damit die Menschen, die ihm in seinem Leben begegnen mussten, ihn beweihräuchern könnten. Weihrauch hatte er bereits zuvor gesammelt, nun könnte das teuflische Kraut vor versammelter Fernsehlandschaft auf Kosten der Gebührenzahler verbrannt werden. Er stellte sich vor, wie er in einem seiner karierten Anzüge, die er als wohlgeschneidert und äußerst stilvoll ansah, leicht behäbig grinsend all das Öl empfing, das ihm den Rücken herunter laufen sollte. In Wirklichkeit konnte nur ein Blinder glauben, Senff trüge exquisite Garderobe, wirkte sie in Wirklichkeit doch seit je, als stamme sie aus dem Clown-Fundus eines viertklassigen Zirkusbetriebes. Obwohl er keineswegs an Farbenblindheit litt, wählte er doch mit entschiedener Sicherheit stets Kleidung aus solchen Stoffen, die es gewöhnlich nicht einmal bis zur Altkleidersammlung schaffen, weil sie zuvor bereits zurecht verbrannt werden.
Senff stellte sich vor, wie der fönfrisierte Moderator debil grinsend durch das Publikum glitt und den Anwesenden all die kreativen Glanztaten des Ehrengastes entlockte. Das heißt, natürlich wäre es nicht notwendig, diesen erst irgendetwas zu entlocken. Nein, Senff empfand es als Selbstverständlichkeit, alle Menschen darüber glücklich zu wissen, den Segen des großartigsten Archäologen seit Schliemann und Indiana Jones empfangen zu haben. Dementsprechend musste es ihnen schlicht eine Freude sein, der Fernsehöffentlichkeit mitzuteilen, wie ihr Herz auf dem Glockenspiel der Gefühle Rumba tanzte, als sie in der Vergangenheit die Nähe des HErrn verspürt hatten.
Da! Sein Doktorvater Prof. Dr. Albert Pickenpack bekam das Mikrofon unter die Nase gehalten. „Ach, was fragen Sie mich“, zierte der sich zunächst grinsend, während er im Publikum Partner für Blickkontakte suchte. Wenige Augenblicke später griff er selbst nach dem Mikrofon: „Wissen Sie, nicht jedes Forschungsvorhaben findet genau die Wissenschaftler, die es vorantreiben. Umgekehrt gibt es nicht für jeden Wissenschaftler das Forschungsvorhaben, in dem er sich bewähren kann.“ Inzwischen war Pickenpack aufgestanden und schraubte während des Sprechens den Oberkörper in alle Richtungen des Publikums: „Als Archäologe bewährte sich Maxim Senff in ganz besonderer Weise. War er doch das Scharnier, um das sich alles drehte! Für ihn bedeutete Forschungsfreiheit, mehr zu arbeiten, als er es musste. Dabei wurde die andauernde gedeihliche Arbeit von ermunternden Gesprächen mit seinen Kollegen gekrönt.“ Das Publikum klatschte. Pickenpack verbeugte sich, gab das Mikro dem gefügigen Moderator zurück. Indem der Professor sich seine Krawatte auf den aufgequollenen Unterleib strich, nahm er wieder Platz und setzte sich.
Hier! Eine der Zeichnerinnen berichtete eine Begebenheit, die vom gusseisernen Gedächtnis des Königs der Archäologen zeugte. Sie erzählte von ihren Zeichenarbeiten im Schloss, die auszuführen sie im Rahmen der Nachbearbeitung seiner größten Ausgrabung die hohe Ehre hatte. Unter widrigsten Umständen – ohne Heizung nämlich – sollte sie die Zeichnungen umzeichnen, die sie während der Ausgrabung angefertigt hatte. Dazu gehörte die Zeichnung eines so genannten Grubenhauses, bei der sich – Schande über Schande! – tatsächlich ein kleiner Fehler eingeschlichen hatte, den der Meister im Verlauf der Ausgrabung übersehen haben musste. Kleinlaut war sie nun mehr als ein Jahr nach der Bearbeitung des Befundes zu ihm gekrochen und hatte ihn gefragt, ob er sich daran erinnerte. Senff hatte sein großväterliches Gesicht aufgesetzt und sofort damit begonnen, ausführlichst das Aussehen des Grubenhauses zu schildern. Jedes Detail, so schien es ihr, war er zu beschreiben imstande. Das Publikum jubelte.
Und dort! Sein Stellvertreter Robert Plankenreiter, dem er bei seiner Karriere ein wenig behilflich gewesen war, wusste Senffs perfekte Öffentlichkeitsarbeit zu schildern: Das größte von Senff betreute Projekt war eine Gastrasse quer durch das Bundesland gewesen, dessen archäologischen Geschicke er geleitet hatte. Um nun der Öffentlichkeit, die finanziell schließlich nicht gänzlich unbeteiligt an dem Projekt war, etwas von dem Wissen zurückzugeben, hatte Senff die bahnbrechende Idee gehabt, an der Gasleitung in unregelmäßigen Abständen Erklär-mir-die-archäologische-Welt-Informationstafeln aufstellen zu lassen, um den geistigen Pöbel wissen zu lassen, welch vorgeschichtliche Schätze hier einst geruht hatten. Senff war zwar nicht der erste gewesen, der so etwas hatte aufstellen lassen, aber dafür waren die von ihm veranlassten Tafeln dermaßen blöde angebracht, dass sie von Vornherein von jeder Wahrnehmung ausgenommen waren. Wirklich eigen war nur die noch weit in die Zukunft greifende Öffentlichkeitsarbeit, in regelmäßigen Abständen Zeitkapseln mit wenigen ausgewählten Funden – meist irgendwelche ungewaschene Scherben – zusammen mit einer billigen Regional-Zeitung aus der Zeit der Ausgrabung zu deponieren. Die Zuschauer im Studio waren aus dem Häuschen!
Natürlich wusste Senff, als er sich diese Sendung ausmalte, wie sehr er sich selbst betrog. Zumindest das Unbewusste in ihm wusste es. Das überlagernde, bei ihm überragende Bewusstsein dagegen war bereits überzeugt davon, dass er wirklich der Held war, als der er sich sein Leben lang zu verkaufen versucht hatte. Und als der er ja auch tatsächlich fast bis zuletzt angesehen wurde.
Dabei hatte er sich diese Vorstellung hart erarbeiten müssen, womit er bereits in der oft so demütigenden Schulzeit begonnen hatte. Schon damals ließ Maxim sich alle Hausaufgaben und zum Teil auch Arbeiten von anderen schreiben. Niemand wusste so recht, wie ihm das gelang, konnte es doch nicht an seiner kläglichen Statur gelegen haben. Auch hatte er sich nie geschlagen. Aber er wusste zu schmeicheln und zu hetzen, bekam nach einer sehr vereinfachten Schulaufführung des „Othello“ sogar eine Zeit lang den Spitznamen Jago verpasst. Es gilt jedoch durch alle Zeiten die Erkenntnis, dass Despoten gefährlich, Schmeichler aber tödlich sind. (Erst die modernen Moralvorstellungen verbieten die früher geltende Lehre aus dieser Weisheit, dass man nämlich den ersten beobachten soll, den zweiten dagegen vernichten.) Senff hatte ein Gespür dafür, seine Person in eine gefährliche Mixtur aus Despot und Schmeichler zu schmieden. Nur bei wenigen Personen versagten seine Künste als scheinheiliger Schwindler.
Der erstgeborene Maxim war als Vierjähriger bereits dermaßen eifersüchtig auf seine kleine Schwester gewesen, dass er die Neugeborene in einem von den Erwachsenen unbeobachteten Moment zu erdrosseln suchte. Natürlich hatte er nur geglaubt, unbeobachtet zu sein. Seine Mutter ertappte ihn, rettete die Tochter und erzog diese zu einer sehr begründeten, lebenslangen Furcht vor ihrem großen Bruder, indem sie ihr diese Geschichte regelmäßig erzählte. Unweigerlich trennten sich die Wege von Bruder und Schwester im Verlauf des Erwachsenwerdens, so dass Maxim nach dem Auszug aus dem Elternhaus bis zu seinem Ende keinen Kontakt mehr zu ihr haben sollte.
Wenigstens gelang es Maxim eine Zeit lang, seine Haltung anderen Menschen gegenüber bei sportlicher Betätigung halbwegs positiv auszuleben. Seit der Schulzeit war er Handballer, denen von verschiedener Seite nachgesagt wird, dass sie mehrheitlich link seien. Ansonsten galt er in der Schule eben außer als Schmeichler höchstens noch als einer von diesen schrecklichen Nachplapperern. Er war einer von diesen Leuten, die sich ständig meldeten, aber stets nur wiederholten, was ihr Vorredner bereits gesagt hatte. Wie oft tuschelte es dann „Muss der wieder seinen Senf dazu geben!“ durch die Klasse? Damals litt Maxim noch unter seinen Namen. Inzwischen füllte er ihn mit Ehre und Inbrunst aus.