Samstag, 20. Dezember 2008

Kapitel 3.2

Im Gegensatz zu dieser beinahe fürstlichen Unterkunft waren die Studenten deutlich weniger komfortabel zwangsuntergebracht. Auf der Untersuchungsfläche standen zwei heruntergekommene wellblechbedachte Baracken, die der Bauer, dem die steinige Koppel gehörte, zwei Jahrzehnte zuvor als Regenunterstand für seine Kühe genutzt hatte. Erst kurz vor der Grabung erhielten sie mit ein paar Holzpaletten und vergammelten Bohlen eine vierte Wand. Die verschieden großen Baracken waren ungeschützt dem stetigen Wind ausgesetzt, der zwölf Monate im Jahr über die baumlose Hochfläche blies. Die größere Hütte wurde mit einer lädierten Feuersirene geschmückt, die Senff direkt nach der Wende durch eine ausrangierte, tellerförmige Sirene aus dem Katastrophenschutz ersetzen ließ. Das Signal der Sirene diente freundlicherweise nicht zum Anzeigen von Ausbruchsversuchen, sondern um die Pausen und den Feierabend zu vermelden. Interessanterweise störte die meisten Studenten weder die Lage der Baracken, noch deren ärmliche Ausstattung (eine Kochplatte für vierzig Leute, Gaskocher waren aufgrund der Feuergefahr auf dem Gelände ausdrücklich nicht gestattet). Nein, die meisten störte lediglich das Fehlen einer örtlichen Dusche. Dennoch ertrugen sie die Reise in eine Welt ohne fließendes Wassers, denn sie waren am Institut mit Lügen zu dieser Lehrgrabung gezwungen worden. Der Leiter der Proseminare machte ihnen nämlich jedes Jahr aufs Neue weis, dass sie erst nach der Teilnahme an einer Lehrgrabung auf echten Ausgrabungen arbeiten dürften. Natürlich leitete Senff diese Proseminare, die aus nichts anderem bestanden, als dass er die Studenten Referate über die obligatorische Einführung in die Vorgeschichte von Onkel Eggers vortragen lies. Er selbst wäre als Pseudo-Legastheniker dazu nicht einmal in der Lage gewesen.
Die perfide Abqualifizierung der Lehrgrabung als notwendige Bedingung für spätere Ausgrabungen wurde übrigens unverschämterweise von der Institutsleitung gedeckt. Lachhaft! Aber wenn man seine Schafe dumm hält, kann man sie eben besser schlachten. Daher waren also die Studenten davon überzeugt, auf die Teilnahmescheine angewiesen zu sein, und ertrugen wirklich jede Demütigung. Dabei waren sie während der Lehrgrabung nicht allein aufgrund ihrer Unterkunft eher schlecht bedient, sondern überhaupt einfachste Arbeitssklaven, deren Leben durch Zwang und Reglement gekennzeichnet war.
Das sehr steinige Plateau, auf dem die Ausgrabungsfläche selbst lag, war von einem abschreckenden Zaun umgeben. Stets hieß es, der Zaun rühre noch von der früheren Viehhaltung her. Aber wer hätte schon eine Rinderweide gesehen, die von einem mannshohen, dichten Maschenzaun umgeben ist, der wiederum von einem Stacheldraht gekrönt wird? Und im zweiten Jahr ließ Senff den bäuerlichen Stacheldraht sogar gegen echten Nato-Bandstacheldraht austauschen.
In den Jahren, in denen Senff die eingehegte Fläche als Kleinkönig beherrschte, wurden die Neuankömmlinge sofort nach ihrer Ankunft in zwei Arbeitsgruppen selektiert. Die Trennung der Studenten in zwei, mehr oder weniger verfeindete Gruppen war zweifelsohne am schlimmsten. Beiden wurden Farben zugewiesen, die in den nächsten sechs Wochen das Alleinstellungsmerkmal jeder Individualität übernahmen. Von der Leitung wurden die Studenten fortan nicht mehr länger bei ihrem Namen genannt, sondern mit „Du von der roten Gruppe“ oder „Du von den Blauen“ angesprochen. Das kam Senff vermutlich sehr gelegen, galt sein schlechtes Namensgedächtnis doch damals schon als legendär.
Um den sozialen Druck zu erhöhen, trugen sogar die Werkzeuge farbliche Kennzeichen. Jede Schaufel, jeder Spaten, jeder Kratzer, jede Kelle, jedes Stukkateureisen, jede Schubkarre und jeder Eimer waren mit je einem Farbpunkt versehen. Senff versuchte sogar den Eindruck zu erwecken, dass die Werkzeuge jeden Abend kontrolliert würden. Zu diesem Zweck wählte er zu Beginn einen Studenten als einen Vorarbeiter aus, der ihm abends ungefragt die Menge der Geräte melden musste. Die helleren Vorarbeiter merkten sehr bald, dass Senff die Zahlen weder kontrollierte, noch sie sich merkte oder gar der Mühe unterzog, sie zu notieren.
Das war auch ein Glück für die Teilnehmer, da Senff aufgrund seiner finanziellen Kompetenzen Art und Qualität der Gerätschaften bestimmte, angefangen vom Generator bis zum letzten Buntstift und Radiergummi. Er selbst hatte nicht mit dem Material zu arbeiten, daher kaufte er natürlich nur das billigste vom billigsten ein, so dass die meisten Werkzeuge in kürzester Zeit nicht mehr gebrauchsfähig waren. Das förderte einerseits zwar das Improvisationsgeschick der Teilnehmer, die auf diese Weise unfreiwillig lernten, noch unter widrigsten Umständen Werkzeuge zu reparieren oder sogar erst zu kreieren. Andererseits dezimierte sich das Material dadurch nahezu selbständig. Übrigens ist abgesehen von der relativ teuren Unterkunft, mit der Senff protzte, nicht sicher, was mit dem vielen Geld geschehen ist, dass er zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Regelmäßige Unterschlagungen, die so mancher vermutete, konnte ihm allerdings niemand nachweisen.
Doch die Munkeleien um zweckentfremdete Gelder betrafen ihn nicht allein. In den ersten beiden Jahren stand ihm nämlich ein Grabungstechniker namens Krzysztof Wymek zur Seite, der den größten Teil der täglichen Leitungsarbeiten übernahm. Krzysztof hatte sein Archäologiestudium abgebrochen, galt jedoch zurecht als großartiger Ausgräber und war daher eigentlich der führende Kopf auf der Ausgrabung. Mitte der 80er Jahren war er aus Polen ausgebürgert worden, nachdem seine Frau beim Plakatekleben für Solidarność erwischt worden war. Als er später in Sachsen Ausgrabungen leitete, wurde er daher von manchem Ostalgiker beschimpft, er trüge die Schuld an dem Elend, in dem die Länder der ehemaligen DDR nun versanken, er hätte ihnen das alles eingebrockt! Das bedrückte Krzysztof sehr, zumal er aufgrund leichter Sprachschwierigkeiten oft nicht verstand, ob ein deutschsprachiger Gegenüber nun ernsthaft oder ironisch mit ihm sprach. Und weil er ein selten gutmütiger Bär war, rechtfertigte er sich damit, dass doch seine Frau die Plakate geklebt hatte!
Seine Herkunft verschaffte Krzysztof in Neuweiler dagegen eine relativ gute und vor allem günstige Unterkunft. Er war bei der Verwandtschaft von einem Bekannten untergekommen, die darauf bestand, aus Ostpreußen zu stammen. Von Hopfens, so hieß das ältere Paar, waren hoch erfreut, in ihrer Pension einen Gast aus „ihrer“ alten Heimat zu haben. Jeder Gast wurde bereits im Flur mit einem Foto begrüßt, das ein reich hakenkreuzbeflaggtes Häuschen in Masuren zeigte. Auf Nachfrage bekannten die Vertriebenen dann stolz, ihr Vater sei dort Bürgermeister gewesen. Aber natürlich hatten die Familie „nie was mit den Nazis zu tun gehabt.“ Anders als die anderen Gäste erhielt Krzysztof sogar die nächst höhere Behandlungsstufe, weil er sich nach jedem Feierabend zu Gesprächen im Wohnzimmer einfinden musste. Hier führten sie ihm zahlreiche Konvolute mit Familienfotos vor, um ihre eingebildeten Ansprüche zu unterstreichen. Doch so nervig diese ewig gestrigen und allabendlich gleichen Monologe der von Hopfens waren, verschafften sie Krzysztof doch wenigstens ein kleines Zubrot, da sie ihm gerne Quittungen über eine höhere Summe ausstellten, als er in Wirklichkeit für die Unterkunft zahlte.
Erstaunlicherweise kontrollierte Senff so etwas nicht, obwohl er zu Krzysztof keinen richtigen Draht finden konnte. Senff empfand es sehr unangenehm, dass Krzysztof ihm als Ausgrabungsleiter deutlich über war, und das von jedem außer Pickenpack zu erkennen war. Außerdem war Senffs in Neuweiler gewissermaßen fast asketischer Lebenswandel geradezu die Antithese zu Krzysztofs Dasein. Krzysztof war zwar kein Alkoholiker, aber er trank eben gerne einen über den Durst. Schon während seines Studiums klapperten gewöhnlich ein paar Glasflaschen in seinem Rucksack, die er im Laufe des Tages mit einem polnischen Kommilitonen leerte. Da beide an der Uni meist zusammen anzutreffen waren, hatten sie schnell den Spitznamen Lolek und Bolek erhalten. Aber auch während der Grabung in Neuweiler fuhr Krzysztof regelmäßig zu Jaques’ Weindepot, um seinen Kofferraum zu füllen. Nachts trank er schon einmal zwei Flaschen Wein, wenn er nicht schlafen konnte. Kam er dann morgens mit einem dornenzerkratzten Gesicht und zerrissenen Hosen zur Grabung, wusste noch der dümmste Student, dass Krzysztof im Suff wieder zur Autobahn hinter dem Haus der von Hopfens gewankt und dort in die Büsche gefallen war. An Tagen nach solch besonderen Eskapaden stritten Krzysztof und Maxim sich besonders heftig. Überhaupt stritten beide oft, seit bei der ersten Kampagne im Jahre 1988 der Versuch gescheitert war, ein Lackprofil zu erstellen.
Solche Lackprofile dienen der Erhaltung eines Bearbeitungsstandes auf einer Ausgrabung. Abgesehen von den meist großartig verkauften Funden interessieren den Archäologen wesentlich mehr die sogenannten Befunde. Dabei handelt es sich um Reste von Baustrukturen, Gräbern oder Gruben, die sich üblicherweise als hellere oder dunklere Verfärbungen im Boden abzeichnen. Zur Interpretation solcher Befunde ist es notwendig, möglichst viel Informationen über ihre Form, Tiefe und Verfüllung zu bekommen. Dazu werden die Befunde nach ihrer Freilegung zunächst von oben – im Planum – zeichnerisch aufgenommen. Um schließlich in Erfahrung zu bringen, wie die Befunde im Boden geformt sind, werden sie anschließend ein- oder mehrfach senkrecht geschnitten, so dass man Profilansichten erhält. Diese werden wiederum gezeichnet oder je nach Bedarf fotografiert. Die Königsdisziplin der Profildokumentation ist jedoch das sogenannte Lackprofil. Im Prinzip handelt es sich um eine Technik, eine Schicht des Befundes zu konservieren, indem man mehrere Lagen Lack auf ein Profil aufträgt, trocknet und abschließend ein Vlies aufklebt. Ist das Lackprofil gelungen, kann man es abziehen und erhält eine spiegelverkehrte Fassung des echten Profils. So funktioniert diese Technik zumindest in der Theorie. Meist kleben leider nur Teile der Profilerde am Lack, oder Steine fallen ab und müssen ständig nachgeklebt werden. Daher gibt es für die erfolgreiche Anlage eines Lackprofils ungefähr so viele Techniken wie Archäologen.
Nun ergab es sich bereits in dem ersten Jahr der Grabungskampagne völlig überraschend, dass sich ein tieferer Befund zur Erstellung eines Lackprofils anbot. Leider verstand Senff überhaupt nichts von er Materie, und auch Krzysztof hatte bislang nur wenig Erfahrung mit der notwendigen Technik. Ihr Problem war, dass die Lackschichten einfach nicht trocknen wollten. Der Abend rückte heran und sollte schwere Gewitterwolken mit sich bringen. Daher entschied Krzysztof mangels alternativer Brennstoffe kurzerhand, die Studenten einige Autoreifen vom nächstliegenden Silo stehlen zu lassen, und die Reifen vor dem Profil zu entzünden. Die runden Gummibriketts brannten, es stank, dunkle Wolken standen über Neuweiler und kaum eine halbe Stunde später stand auf der Grabung die örtliche freiwillige Feuerwehr, die über diesen Einsatz nicht wirklich erfreut war. Um einer Anzeige zu entgehen, war Senff quasi gezwungen, das nächste Feuerwehrfest aus der Grabungskasse in beachtlichem Ausmaß zu finanzieren.
Nach dieser Aktion waren Senff und Krzysztof sich gar nicht mehr grün. Dazu kulminierte noch Senffs sprachliches Unvermögen, die polnische Variante von Christoph korrekt auszusprechen. Stets war es irgendein unverständlicher Mix aus der deutschen und der polnischen Form, nie jedoch das eine oder das andere. Daher merkte Krzysztof oft nicht, wenn er angesprochen wurde, und Senff fühlte sich grundlos missachtet.