Freitag, 12. Dezember 2008

Kapitel 2.2

Ich lernte Dr. Maxim Senff als Assistenten kennen, als ich meine Universität wechselte. Er hatte an meiner neuen Universität seinen Diplomabschluss gemacht, war neun Jahre später promoviert worden und arbeitete zur Zeit meines Wechsels an seiner Habilitierung. Da er als Lehrveranstaltungen nur Seminare und Proseminare für Erst- und Zweitsemester anbot, beschränkte sich mein Kontakt mit diesem wissenschaftlichen Inzuchtgewächs glücklicherweise darauf, ihn im Institut zu grüßen oder sein Bild an der Wand der Doktoren zu sehen.
Wie es des Öfteren Brauch ist, hingen nämlich auch in diesem Institut der Vor- und Frühgeschichte an einer kahlen, weißgestrichenen Wand mehrere Dutzend gerahmte Fotos all der Doktoren, die dort promoviert worden sind. Es bot sich so der Ablauf der Forschungsgeschichte einer jungen Wissenschaft. Von den frühen Altertumswissenschaftlern aus der Zeit um die Jahrhundertwende, über die Rassenforscher der 20er, über die knallharten Nazis vor dem zweiten Weltkrieg und die plötzlich weichgespülten nie-gewesenen-Nazis nach dem zweiten Weltkrieg hin zu dem kaum zusammenfassbaren Gesippe der späten Nachkriegszeit. Alle Fotos hatten aber gemein, die weitere Institutsgeschichte schwarz gerahmt zu begleiten.
In dieser Sammlung war selbstverständlich auch ein Foto Senffs zu finden. Merkwürdigerweise war er jedoch zu schüchtern, fotografiert zu werden, daher hing damals an der Wand zunächst ein Foto, auf dem er die Augen geschlossen hatte, den Kopf auf den Boden richtete und die Hände – wie zur Abwehr eines wilden Tieres – in die Richtung der Kamera hielt. Kein Mensch wusste, warum er dieses Bild so lange hängen ließ und nicht lieber auf ein Foto verzichtet hatte, wie andere es zuweilen taten. Später ließ er das Bild umtauschen. Das neue Bild war aber kaum wesentlich besser, erinnerte es in seiner Machart doch eher an das Fahndungsfoto eines Untoten. Senff starrte darauf mit seinem trüben Dackelblick direkt in die Kamera. Seine Augen wiesen mit den äußeren Winkeln nach unten, der rechte Mundwinkel versuchte sich in so etwas ähnlichem wie einem Lächeln, die grundsätzlich fisselig-fettigen, fast schulterlangen Haare hingen wie zwei Pfund farbloses Lametta von seinem Scheitel und waren hinter seine Segelohren gestrichen, die an die Darstellungen römischer Legionäre auf Grabsteinen gemahnten. Obwohl es sich um ein Porträt handelte, war deutlich merkbar, dass die ganze Gestalt wie ein halbgefüllter Mehlsack zusammengesunken sein musste. Es blieb also im Ganzen ein Zeugnis seiner zombiesken Lächerlichkeit. Und dennoch wirkte es, als versuchte Senff mit jedem Muskel seines kraftlosen Gesichts, tunlichst wie ein Allwissender auszusehen. Gerade in diesem Ausdruck bestätigte sich jedoch wieder die asiatische Weisheit, dass ausgerechnet die Menschen unwissend sind, die eine allwissende Miene zur Schau stellen. Menschen, die etwas wissen, lassen es sich für gewöhnlich nämlich nicht anmerken.