Donnerstag, 18. Dezember 2008

Kapitel 2.3

Dr. Maxim Senff hatte an dem Institut lediglich eine halbe Assistenzstelle inne, eine weitere halbe Stelle hatte er in einem Landesdenkmalamt in einem nahegelegenen ostdeutschen Bundesland inne. Beide Stellen verdankte er seinem Doktorvater Pickenpack, bei dem er nun Assistent war. Professor Dr. Albert Pickenpack war meist recht freundlich, wirkte oft ein wenig kindlich neben sich, wenn er summend durch die Bibliothek lief und mit dem Zeigefinger an den Buchrücken entlangstrich. Dabei sah er aus wie ein kleiner Junge, der mit einem Stock an einem Gartenzaun entlang lief, um den Dackel des Nachbarn zu ärgern. Pickenpack hatte die Angewohnheit, jeden, der ihm über den Weg lief, nuschelnd zu duzen („Mach mal“ oder „Pass mal auf“), und litt ein wenig an seinem Tick, Wörter zwanghaft zu wiederholen. So hieß er seine Sekretärin schon mal „fix-fix“ ein „Fax-Fax“ versenden. Er war ein etwas unförmiger Mensch, weswegen die etwas gebildeteren Studenten ihn in Anspielung an John Heartfield zuweilen „Jedermann-sein-eigner-Fußball“ nannten. Erst nach einer Exkursion, die er begleitete und an der ich teilnahm, wandelte sich der Spitzname aufgrund von Körperform und Funktion in den „Ei-Leiter“.
Aus Gründen, die kein Mensch wirklich kannte, die aber sehr wahrscheinlich in politischen Beziehungen zu suchen sind, hatte Pickenpack beste Einflüsse bei der nachwendezeitlichen Neubesetzung der Stellen in der ostdeutschen Archäologie. Die alten „Kommunisten“ mussten von den Stellen runter, so wie bekanntlich ja auch große Teile ihrer Texte eingestampft gehörten – darin war sich die gesamte westdeutsche Forschung einig. Plötzlich galten weder fachliche Kompetenzen noch zuvor unter größten Schwierigkeiten geknüpfte freundschaftliche Kontakte irgendetwas. Gleichzeitig waren wie von Zauberhand die Stellenprobleme der westdeutschen Denkmalpflege gelöst, die in den Endachtzigern und Frühneunzigern Myriaden von Papier-Archäologen in die freie Wildbahn entließ. Es war die goldene Zeit der Westarchäologie.
Und so hatte Pickenpack auch seinen Schüler Senff in dem besagten Landesamt untergebracht. Dort leitete Maxim eine Abteilung, die für Sonderprojekte zuständig war, sich also um größere Bauprojekte wie Gastrassen, Autobahnen und großformatigen Innenstadtsanierungen zu kümmern hatte. Die dafür notwendige Erfahrung hatte er im Verlauf seiner ersten größeren Ausgrabung gemacht, die ihm auch als Basis für seine Dissertation diente. Genaugenommen war es sogar die erste Ausgrabung, die er überhaupt geleitet hatte. Das bot ihm frühzeitig viele Gelegenheiten, Leute zu piesacken. Ich selbst hatte zwar nicht daran teilgenommen, erfuhr jedoch vieles sowohl von diversen teilnehmenden Studenten als auch von dem Grabungstechniker, dem es schließlich vergönnt war, auch ein wenig hinter die Kulissen zu blicken. Den Wahrheitsgehalt der Geschichten wusste ich zunächst nicht immer sicher zu bewerten, aber sie waren alle geprägt von endlosen Schikanen und Quälereien. Diese wurden zwar von allen Teilnehmer zum Zeitpunkt des Erlebens als schrecklich geschildert, hinterher bemerkenswerterweise jedoch als besonders lustiger, anekdotenhafter Schwank vorgetragen. Eben genauso wie die Geschichten vom Opa, der von seinen in Stalingrad erfrorenen Füßen oder von seinem EK-Zwo-würdigen Kopfschuss während eines Kosakenangriffs erzählt.