Donnerstag, 25. Dezember 2008

Kapitel 3.4

In demselben Jahr, in dem Senff sich von Krzysztof trennte, brach der Grabungsleiter auch einen großen Streit mit dem Baggerfahrer vom Zaun. Der Baggerfahrer hieß Harry und war Alkoholiker. Morgens kam er mit einem kräftigen Tremens angefahren, der sich wie von Geisterhand bis zur Frühstückspause gelegt hatte. Irgendwann fand ein Student in einem Graben hinter beiden Bauwagen eine stattliche Sammlung leerer Kornflaschen und löste so das Geheimnis von der täglichen Verwandlung Harrys. Dessen Doping war aber eigentlich nicht schlimm, denn wenn Harry so betankt war wie sein Bagger, dann baggerte er auf Wunsch jedes einzelne Sandkorn mit einer Präzision, die sonst kaum in einem Nanotechnologielabor erreicht wird. Weniger gut war nur, dass Senff eines Tages dahinterkam. Allerdings bemerkte er zuvor weder die tägliche Verwandlung Harrys noch dessen Schnapsflaschensammlung hinter den Bauwagen. Nein, eines Tages – im sü-dänn vom wäst-faalen-land – als Harry seinen zwanzigsten Hochzeitstag feierte – da liegt das schö-hö-ne sau-a-land – hörte Senff jemanden singen – ein land wo tau-sännt bärge schteen – Gesang, das bedeutete Musik, das bedeutete gute Laune – vonn wald bedeckt sint taal und hööhn – das durfte in Senffs Umgebung nicht sein – mein sau-a-lant wie piss-tu schööhn – er spurtete aus dem Bauwagen – mitt dei-nen täh-lann dei-nen hööhn – sprang zum Bagger – wool tau-sännt bär-ge zählt dein land – zerrte ohngeacht der eigenen Lebensgefahr – DER AUFENTHALT IM GEFAHRENBEREICH IST VERBOTEN! – Harry aus dem Baggerhaus – du pär-le im wäst-faalen-land – und wies den betrunkenen Harry von der Baustelle. Die restlichen sechs Wochen mussten die Studenten alle Erdbewegung mit Schaufel und Spaten und Muskeln leisten, und Senff merkte, dass ihn das nur noch mehr Geld sparte.
Dieser Tag gehörte zu einer kleinen Zahl von Tagen, an denen er einmal freiwillig seinen Bauwagen verließ. Das war ihm nämlich bereits im ersten Jahr vergällt worden. Damals hatte Senff einzelne Befunde in den Grabungsschnitten besichtigt und wollte zurück in den Chef-Bauwagen gehen, um brütendes Arbeiten über den Grabungsplänen vorzutäuschen. Kaum hatte er jedoch die Tür geöffnet und sich auf das Treppchen gestellt, da erstarrte er zur Salzsäule und stierte in den Wagen. Der Techniker bemerkte das und wunderte sich darüber, dass sein Vorgesetzter nicht einfach in den Wagen ging. Doch als Krzysztof dann die leichten Schwingungen bemerkte, die der Wagen machte, und sich so positionierte, dass er an Senff vorbei in den Bauwagen blicken konnte, entdeckte er des Rätsels Lösung. Maxim hatte ein Studentenpärchen dabei ertappt, wie es kleine Studenten machte. Offenbar vor Schreck war er wie erfroren und starrte auf den beharrten Vollmond, der sich mehr oder weniger rhythmisch vor und zurück bewegte. Fest blickten seine toten Augen auf den Studenten, dessen Hose in den Kniekehlen hing, wie der sich mit wiegenden Bewegungen seines nackten Hinterteils über die breitbeinig auf dem Kartentisch drapierte Studentin bückte. Erst nach einem ausgedehnten Moment hatte Maxim die Situation als solche wahrgenommen, bekam einen puterroten Kopf, machte auf dem Treppchen kehrt, schloss leise die Tür und schritt stumm auf die Grabungsfläche zurück. Krzysztof schaute Senff in die geistesabwesenden Augen und fragte schelmisch, ob er etwas vergessen hätte. Damit rief er den Leiter wieder in unsere Welt, und nun versuchte der entrüstete Maxim dem amüsierten Krzysztof drucksend zu erklären, was er gerade gesehen hatte. Als die beiden Studenten später den Wagen verließen, wartete Senff bereits auf die beiden, inzwischen hatte er sich auch eine passende Strafe ausgedacht. Kurzerhand hieß er sie den Abraum um fünf Meter nach rechts umzusetzen, ohne einen Grund zu benennen. Krzysztof genoss dagegen seine Rolle als lachender Vierter. Noch Jahre später lachte er lauthals, wenn er von Senffs Reaktion erzählt, der es nicht gewagt hatte, merklich in den Akt zu platzen, um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen.
Ansonsten geriet Senff damals recht selten in peinliche Momente, er suchte unangenehme Situationen aber auch von vornherein zu vermeiden. So aß er beispielsweise niemals in Gesellschaft anderer mit Ausnahme seiner späteren Familie. Mancher behauptete, das läge an der paranoiden Grundangst, nicht gerne angesehen zu werden. Er selbst begründete es damit, dass ihm gemeinschaftliches Essen vorkam wie die Fütterung großer Viehherden, und dass er ja auch das Gegenteil nicht in Gesellschaft täte. Was immer es damit auf sich hatte, zu den Pausen zog er sich nicht nur in den Bauwagen zurück, sondern ließ auch niemanden herein. Später in seinem Amtssitz in dem Schlösschen mied er die Kantine der nebenan gelegenen Klinik. Stets verspeiste er Knifften in seinem Büro und beharrte vehement darauf, nicht gestört zu werden.
Wenn er nicht aß, war er dagegen von dem Gedanken fasziniert, von der Öffentlichkeit und besser noch von der Presse wahrgenommen zu werden. Viele Jahre lang gedachte er seines Debutauftrittes, als von irgendeinem verlorenen Spiel seines Schülerhandballteams berichtet wurde, an dem er maßgeblich beteiligt war. Ebenso verzeichnete die im Lokalblättchen seiner Heimatkleinstadt übliche Aufzählung der Abiturienten, die ihre Prüfungen bestanden hatten, einen stolzen Senff, Maxim. Eigentlich wollte er aber schon damals mehr. Er wollte aktiv in den Texten vorkommen. Er wollte als Person vorkommen.
Dazu war die Archäologie ein mehr als geeignetes Feld. Denn da man schon während der Ausbildung durch die unbekanntesten Dörfer und unbedeutendsten Flecken tingelt oder sogar in Gebieten arbeitet, in denen andere nicht einmal Urlaub machen möchten, gilt man überall schnell als örtliche Attraktion. Angesichts des Publikumszulaufs kann man eine blasse Ahnung davon bekommen, wie es vor 150 Jahren zugegangen sein muss, wenn ein Jahrmarkt, ein Zirkus oder ein Theater über das Land gezogen ist. Denn genau wie damals neigen Menschenansammlungen auch heutigentags noch dazu, sich von allein zu vergrößern und pfropfartig zu verklumpen. So sieht man sich als freundlicher und verantwortungsvoller Grabungsleiter zwangsläufig in der Situation, oft tagelang immergleiche Vorträge über das zu halten, was man eigentlich gerne machen möchte, oder man verteidigt seine Arbeit als kulturelle Notwendigkeit.
Kostenlose Vorträge und Menschenansammlungen ziehen ihrerseits wiederum bald die Reporter an wie der Honig die Fliegen. Zumal Archäologie sich in der Zeitung verkauft wie Tierkinder im Fernsehen: Sie zieht immer. Obwohl niemand dafür Geld ausgeben möchte, ist die deutliche Mehrheit der Bevölkerung von dieser Tätigkeit fasziniert. Wer das nicht glaubt, sollte sich bei der nächsten Party spaßeshalber Unbekannten gegenüber mal als Archäologe ausgeben. Sich mit der berichtenden, also der vierten Gewalt auseinanderzusetzen bleibt dem Archäologen daher selten unvermeidlich. Es krankt jedoch an der Qualität des Journalismus.
Jedes Regionalblättchen belästigt seine Umwelt mit unangenehmen, meistenteils breit ungebildeten Typen. Mal begegnet man einer aus der Hüfte fotografierenden Hausfrau, die nebenbei für die örtliche Kleinstadtzeitung kritzelt und einen Katastrophentext fabriziert, weil sie in der Redaktion ihre Notizen nicht wiederfindet – und diese Lösung des Rätsels bei einem späteren Treffen auch noch preisgibt. Oder man wird grundlos Tag für Tag von einem nervenaufreibenden Rentner behindert, der seit 50 Jahren für die Beilage der Beilage irgendeiner Dorfzeitung schreibt und mit der benachbarten Landtagsabgeordneten verheiratet ist. Sehr unschön können auch Gespräche mit einem gescheiterten Krisenherdsfotografen ablaufen, der in einer mehrstündigen Endlosschleife zu erklären versucht, dass nur gestellte Bilder wie echte Bilder aussehen.
So variabel Geschlecht und Alter dieser knipsenden Kobolde sind, ihnen allen ist doch meist gemein, dass ihr Bildungsstand selten an denjenigen 15-jähriger Hauptschüler heranreicht. Deswegen ist dem anzugehenden Archäologen unbedingt angeraten, Fachbegriffe selbst dann zu vermeiden, wenn sie ausführlich erklärt werden. Anderenfalls altert oder verjüngt sich nämlich jede Fundstelle auf dem Weg durch die Druckerpresse wie von Zauberhand um 2000 Jahre und sorgt im Nachhinein für Verwirrungen bei und Nachfragen von den Vorgesetzten. Denn obwohl alle das Spiel und seine unfairen Regeln kennen, gilt doch niemals das Reporterchen als Urheber, sondern die unfähige Öffentlichkeitsarbeit vor Ort. Dabei sei ausdrücklich betont, dass es für die Artikelgüte keine Rolle spielt, ob man von unbezahlten Hobby-Reportern interviewt wird, oder ob sich der Chefredakteur eines gemeinhin ehrwürdig angesehenen Politmagazins eines geschichtlichen Themas annimmt. Da die springerhaft erdichteten Archäologieaufmacher der Dr.-Müller-Heftchen niemals der Nachrichten- oder Wissensvermittlung dienen, sind ihre Mitarbeiter hinsichtlich der Bildung nicht in der Lage, sich stolz zurückzulehnen. Regelhaft demütigen oder vergewaltigen sie Thema, Forschung oder deutsche Sprache – manchmal gelingt diesen Tritonen der Dreiklang sogar innerhalb eines einzigen Absatzes.
Aber nicht allein die fragwürdigen Schreib- und Recherchierqualitäten erzeugen den dringenden Verdacht, hier dunkle Mächte am Werk zu glauben. Es ist darüber hinaus häufig zu beobachten, dass die schwatzhaften Skribenten ein untrügliches Talent für zielgenaue Störaktionen haben. Und diese Fähigkeit kollidiert wiederholt mit einer im Fach gebotenen Omertá. Die Archäologie ist sicherlich keine Geheimwissenschaft, lebt aber hierzulande davon, dass all die Sachen, die unversehrt im Boden liegen, auch noch eine weitere Zeit lang unausgegraben bleiben.
Die meisten Archäologen sind daher eher kritisch und verschweigen der Presse bessere Funde, so lange es irgend geht. Das tun sie, obwohl sie wissen, dass die Öffentlichkeit das Recht hat, zu erfahren, wofür Steuergelder ausgegeben werden. Allerdings ist ein kleiner Teil der Archäologen schlicht und ergreifend pressegeil. Niemand weiß, warum sie sich ausgerechnet die Archäologie ausgesucht haben, um ihr Ponem vor jede Kamera zu halten. Dabei erklären sie jeden noch so unansehnlichen und vor allem wissenschaftlich uninteressanten Keramikkrümel zur Sensation, die die Weltgeschichte umstülpt, da deren historischer Nabel plötzlich auf dem Acker von Bauer Uhl oder in den Fanggründen von Fischer Quaast liegt. Manche Spatenforscher schrecken dabei vor nichts zurück und drängen in Dialektsendungen der Regionalprogramme, obwohl sie das sprachliche Idiom der Region weder sprechen noch hörverstehen.