Mittwoch, 31. Dezember 2008

Kapitel 3.8

Professor Pickenpack hatte seinen Camper nachts am Eingang zum Neuweiler Plateau geparkt. Er stand weit genug entfernt, um seiner Frau den Kontakt zu den Studenten zu ersparen, aber nah genug, dass er morgens aus dem Schlafkabuff unter dem Wagendach direkten Blick auf die Arbeiten hatte. So glaubte er seiner Verantwortung als offizieller Projektleiter Genüge zu leisten. Als sich der kleine dicke Professor an diesem besonderen Tag aus dem Wagen zwängte, hatten sich die Studenten bereits durch die ersten zwei Arbeitsstunden auf dem felsigen Feld gequält.
Pickenpack wusste nichts Näheres, Senff hatte ihm nur mitgeteilt, dass heute die Presse kommen wollte. Der Professor war zwar weniger auf Presseauftritte versessen als Senff, sah aber ein, dass es ein durchaus wichtiger Termin war, ohne dass Maxim ihm irgendetwas von dem geplanten Ereignis verraten musste. Denn außer Senff und dem Raubgräber Hinnerk wusste nur Robert Plankenreiter, dass die Münze nicht mit rechten Dingen in dem Neuweilerschen Boden gelangte. Senff hatte ihm nämlich aufgetragen, die Münze erst zu Beginn der Frühstückspause zu deponieren, um der Gefahr zu entgehen, dass sie zu früh von Studenten entdeckt würde. Oder womöglich ausgegraben und unerkannt entsorgt!
Vom Bauwagen aus beobachtete der Grabungsleiter die Untersuchungsfläche interessiert, um zu sehen, wo Plankenreiter herumstakerte. Die Hände hielt der Techniker in den Hosentaschen verborgen, um in einem geeigneten Moment die Münze unauffällig durch ein Loch in der Hose auf den Boden fallen zu lassen. Maxim sah, dass Robert plötzlich stehenblieb. Er schaute sich um, ganz so als wollte er eine Bank ausbaldowern, und trug dazu eine Miene auf, die bei Außenstehenden den dringenden Eindruck erwecken musste, er litte an fortgeschrittener Diarrhö.
Senff wusste, dies war der Moment, dort war die Stelle, an der er während des Presseauftrittes mit dem billigen Metalldetektor, der kaum in der Lage war, eine Reißzwecke anzuzeigen, fachmännisch herumwedeln musste. Robert wühlte mit dem Fuß noch ein wenig Dreck auf, schob ihn auf die in der Sonne blinkende Münze und stampfte alles fest. Leider war er zu dumm, daran zu denken, die Münze möglichst auf einem Befund fallen zu lassen. Dann wäre die Illusion schließlich perfekt gewesen, und Senff hätte heute ein Haus mit einem Bauopfer datieren können. An dieser unbedeutenden Stelle konnte der silberne Star lediglich für sich allein wirken.
Robert blickte nervös zu dem Fenster von Senffs Bauwagen, zuckte zweimal kurz mit dem Kopf nach oben und stiefelte dann zu den anderen Studenten, noch immer mit den Händen in den Taschen. Maxim trat vom Fenster zu seinen Plänen und wollte sich bereits seiner Neigung ergeben, über den schlechten Zeichnungen zu meditieren, als er noch einen schnellen Blick auf die Uhr warf und sich versicherte, dass es kurz vor 10 Uhr war. Angespannt blickte er an die Wand des Bauwagens, vernahm aber bereits entfernte Geräusche, die langsam lauter wurden. Zahllosen Steinchen sprangen gegen Autoblech, dazu mengte sich das Steineknacken von Autoreifen und das würgende Ächzen, dass der Motor von Usselkötters Audi von sich gab. Senffs Gesicht verzog sich zu dem, was er unter einem Lächeln verstand, oder vielmehr zu dem, wozu die Muskeln seiner toten Miene in der Lage waren. Er trat aus dem Bauwagen auf Usselkötter zu und sah, dass auch Pickenpack mittlerweile aufgestanden war. Der Professor hatte sich den Lokalreporter bereits geschnappt und belästigte ihn offensichtlich mit alten Geschichten.
„– und am Fuß des Oppidums war ein Industriepark mit einem alten Dampflokbahnhof. Ah, da kommt ja Herr Senff! Guten Morgen-Morgen!“
„Guten Morgen, Herr Professor! Hallo Thomas, da bist du ja!“
„Hallo Maxim. Wir zwei haben uns bereits bekannt gemacht“, grinste der Reporter. Maxim erkannte, Thomas mochte genervt sein von der Ausgrabung, wesentlich mehr ärgerte ihn jedoch die lahme Geschichte, die ihm der Professor gerade aufdrängte. Die Grüße vermochten die jüngste Geschichte des Professors aber nur zu unterbrechen, nicht zu beenden, denn sofort plapperte er weiter:
„Und an dem Bahnhof drehte Curd Jürgens gerade einen Kostümfilm. Wie hieß der noch? So neunzehntes Jahrhundert, wissen Sie? Genau am selben Tag hatte ich aber ein Flugzeug gemietet, um von dem Oppidum Luftaufnahmen zu machen, wissen Sie, da im Getreide zeichnen sich herrlich alte Gräben und Mauern ab, die kann man auf Luftaufnahmen sehr gut erkennen. Damit ich dem Piloten aber immer sagen konnte, wie er fliegen soll, hatte der seine Kopfhörer abgenommen, bis er irgendwann merkte, dass er von seinem Heimattower lautstark gerufen wurde. Haha! Denn sehen Sie, jedes Mal, wenn wir“, Pickenpack machte eine schneidende Bewegung mit der flachen Hand, um das Flugzeug zu simulieren, „vom Industriepark auf das Oppidum zugeflogen sind, hatten die Filmleute gerade ihre Szene begonnen, für die die Dampflok in Bewegung gesetzt werden musste und Dutzende Statisten über den Bahnhof flanierten. Haha! Die haben die Szene zig Mal drehen müssen! Zig Mal!“, freute sich der Professor.
Thomas Usselkötter verzog den Mund zu einem bemühten Grinsen, erkannte aber, dass nun die Gelegenheit war, zu erledigen, wofür er eigentlich gekommen war. Er bot dem Professor ein Pfefferminzbonbon an, das der mit erhobenen Händen und den Worten „Nein Danke, keine Drogen, keine Drogen!“ lachend ablehnte. Inzwischen rollte Pickenpacks Frau aus dem Bulli zu der dreiköpfigen Gruppe. Thomas und Maxim begrüßten sie, Pickenpack stellte sie Thomas vor. Senff erkannte die Gelegenheit, schmeichelnde Nähe zu dem Reporter herzustellen, in dem er ihn gleich nach Frau und dem frischen Kind fragte. Darauf fiel sogar der Mann von der Presse herein. Sein Gesicht hellte sich auf und er plauderte kurz, wie gut es seiner Familie ginge, während die Gruppe zur Ausgrabung glitt. Ganz nebenbei und innerhalb der Kleingespräche winkte Maxim Robert zu, und gab dezente Handzeichen, den Detektor aus dem Bauwagen zu holen. Robert löste sich sofort von der Gruppe der frühstückenden Studenten, verschwand in den Bauwagen und sprang mit dem Detektor zu der Gruppe. Dabei hörte er, wie Maxim dem Reporter und dem Professor gerade erklärte, wie er an einem der Vortage mit dem Detektor Hinweise auf Metall erhalten hatte, auf Silber, um genau zu sein. Er führte die Gruppe zu der Stelle, die Robert vorher präpariert hatte.
Hier nun habe es Ausschläge gegeben, die ihn vermuten lassen, womöglich vor der Entdeckung eines Silberschatzes zu stehen. Pickenpack machte große Augen. Senff klemmte sich die Kopfhörer des Detektors über die Segelohren und schaltete das Gerät an. Er versuchte, den Plastikteller des Geräts besonders kunstvoll über die von Robert plattgetrampelte Stelle zu schwenken, erweckte jedoch eher den Eindruck eines ungeübten Hobbyraumzauberkünstlers, der seinen ersten Kindergeburtstag bestreitet. Thomas kramte seine Kamera aus der Fototasche und knipste die ersten Fotos. Die Studenten, die gerade ihre Frühstückspause beendeten und sich wieder zur Arbeit trollen wollten, beobachteten leicht amüsiert die Szene aus sicher erscheinender Entfernung. Senff drückte inzwischen auf den Knöpfen des Gerätes, Grounding – Reset – Volume – böhmische Dörfer angesichts seines sprachlichen Untalentes. Er glaubte jedoch fest daran, den anderen wie ein berühmter Pianist zu erscheinen, der das Abschlusskonzert seines Lebens in der Carnegie-Hall gab. Dazu passte es, dass Thomas inzwischen ein Foto nach dem anderen schoss, in der kühnen Hoffnung, das Foto des Jahres zu fabrizieren. Maxims auch nach außen wirkende Einbildungskraft, die schon alle Zeit nur den einen Zweck hatte, ihn wie eine riesenhafte Projektion seiner selbst erscheinen zu lassen, hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. Plötzlich hielt er inne, verdrehte wichtig die Augen und machte eine stumme Handbewegung, die Robert deutete, ihm eine Kelle anzureichen. Er zog sich die Kopfhörer ab, legte den Detektor auf den Boden, hockte sich hin und pulte schabend in Roberts Schuhabdrücken. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, erkannte Pickenpack in dem graubraunen Felsstaub die silbrige „Eine Münze! Toll-toll!“ und strahlte sichelgrinsend in die Runde. Maxim erhob sich, streckte seinen Körper in einem schweigenden Jubel und reckte die kleine Sensation in die Höhe ihrer Gesichter. Kaum hatte er sie den anderen kurz vor die Nasen gehalten, da riss er sie bereits vor sein eigenes Gesicht. Er tat, als sei die Inschrift schwierig zu entziffern und popelte die Abkürzungen hervor:
„Immp, also Imperator, kääs, das ist Zäsar, pe hellf, das steht für provinzia helvezia-“
„Jaja, Zeitstellung stimmt“, unterbrach Pickenpack, ohne auch nur die Gelegenheit gehabt zu haben, einen näheren Blick auf die Münze zu werfen. Allerdings fehlte ihm ohnehin seine Lesebrille, wie er feststellte und sich in sich hineinärgerte. Maxim fuhr fort: „Pär-ti, hier steht der Name: Pertinax!“ Er strahlte – soweit ihm das möglich war – „Die Münze ist 193 nach geprägt!“
Im Moment als der Name des Kaisers fiel, staunte auch Pickenpack. Er wusste, wie selten ein Denar des Pertinax war, ihm war klar, wie gering die Chancen waren, so etwas auf diesem mistigen Plateau zu entdecken. Von der Siedlung konnte sie jedenfalls nicht sein, war er sich sicher. Sie passte absolut nicht zu dem erbärmlichen Fundmaterial, dass die Studenten bislang den staubigen Felsen entrissen hatten. So sehr der Professor aber überlegte, war er doch nicht in der Lage, die echte Fundgeschichte zu erkennen.
Wäre er Senff damals nicht auf den Leim gegangen, hätte er ihn vermutlich hochkant aus dem Institut geschmissen. Vielleicht wäre Versicherungsvertreter geworden, wer weiß. Aber es gibt eben etwas in der Welt, das manchem die Unterschlagung von Millionen erlaubt, während andere nicht einmal ein auf der Straße gefundenes 1-Cent-Stück behalten dürfen. Und nur die Götter kennen die Gründe dafür.