Samstag, 3. Januar 2009

Kapitel 4.3

Als ich ein halbes Jahr meiner teuren Zeit damit verschwendet hatte, mich mit der Sense durch dieses nur durch wenige Geistesblitze erhellte geistige Stoppelfeld zu kämpfen, dessen stilistischer Grad in etwa mit dem Vorkommen barocker Skulpturen auf dem Erdenmond korrespondierte, war ich endlich Herr über die Materie geworden. Ein lächerlich kurzes Hundertseitenwerk war diese Arbeit, in die Kommata augenscheinlich hineingewürfelt, ein Zehntel der Absätze nicht beendet und Abbildungen nicht korrekt zugeordnet waren. Damit nicht genug, hatte ich doch all die Mühe, die Senff eigentlich hätte leisten sollen, selbst erneut machen und alle Quellen ein weiteres Mal heranziehen müssen. Ich war also gezwungen, für die Unterabteilung eines Unterkapitels all die Erkenntnisse neu zu gewinnen, mit denen ein anderer wenige Jahre zuvor promoviert worden war. Endlich war ich jedoch in der Lage, meinem Doktorvater diesen Stand der Dinge mitzuteilen.
Seine Sprechstunden waren an der Tür alle Semester hindurch mit der Stunde vor der Mittagspause am Mittwoch angegeben. Doch all die Jahre, die er an diesem Institut verbrachte, war er grundsätzlich ausgerechnet in dieser Zeit nicht anzutreffen. Das galt besonders, wenn es in der Mensa seine Leibspeise gab: Milchreis mit Zimt. Davon verdrückte er gewöhnlich mehrere Portionen und zog somit die Mittagspause unverhältnismäßig in die Länge. Da es auch in der Woche, in der ich mich zum wissenschaftlichen Rapport meldete, Milchreis gab, mied ich den Mittwoch natürlich bewusst und klopfte erst am Donnerstag an seine Tür.
Er bat mich „Herein!“, ich öffnete, sah ihn telefonieren und mich in sein Büro winken. Ich grüßte wortlos und bog um seine Kartentische zu der grünen Sitzecke, die seinem Schreibtisch gegenüber stand, während er im Smalltalk mit einer Museumssekretärin die Wiederkunft des Direktors in Erfahrung zu bringen suchte. Die Sitzecke, in der ich mich niederließ, war angewandte Psychologie, hatte er doch absichtsvoll eine besonders weiche Couch samt zugehörigen Sesseln in seinem Büro plaziert. Hatte man sich hierhin gesetzt, befand man sich zwangsläufig zwei bis drei Köpfe unter dem Herrn dieses Büros, der auf seinem Schreibttischstuhl thronte. Er genoss dieses Spiel sichtlich vor allem dann, wenn seinem Gegenüber dieser Ausdruck der gewünschten Rangordnung nicht bewusst wurde. Allerdings war er auch leicht zu verwirren, indem man sich der Situation entzog. Es störte ihn merklich, blieb man lange stehen oder bediente man sich sogar der Couchlehne als Sitzbasis, weil die sichtliche Ordnung dann gestört war.
An dem bewussten Tag war ich aufgrund meiner gesammelten Erkenntnisse zu Senffs Dissertation wütend genug, dass mir solche Spielereien vollkommen egal waren.
Er hatte sein Telefonat inzwischen beendet und fragte vornübergebeugt „Sie wollen vom Stand ihrer Dissätation berichten?“
Mit einem festen „Genau!“ kramte ich meine Unterlagen heraus, wollte ich doch ein überzeugendes Plädoyer gegen das Senffsche Machwerk führen. Ich verteilte Kopien der Hausgrundrisse und anderer Befunde, legte die Vervielfältigung des Gesamtplanes aus, bereitete auch Beispiele für Senffs katastrophale Listenführung vor. Sein sprachliches Unvermögen regte mich bereits nicht mehr auf, man gewöhnt sich eben an alles. Mein Doktorvater machte große Augen, erkannte anhand der Auszüge die zugehörige Dissertation.
„Sie hatten mir doch empfohlen, mich mit der Arbeit von Senff zu beschäftigen?“, begann ich meinen Verriss.
„Ja. Haben Sie dinn schon mit ihm gesprochen?“, blinzelte er mich an.
„Nee, und ehrlich gesagt hab ich das auch nicht mehr vor, nachdem ich mich durch seine Diss gekämpft habe – kennen Sie den Text?“
„Natürlich, ich hab mich vor allim mit den Teilen beschäftigt, die sich auf meine Doktorarbeit bezogen. Meine Chronologie konnte er nich widerlegen.“
„Das wundert mich nicht. Das hätte er gar nicht können! – Seine Arbeit ist eine Ka-ta-stro-phe! Schauen Sie sich mal die Hausgrundrisse an.“ Ich schob ihm die Abbildungen vor den Bauch, auf denen mehrere Hausgrundrisse auf einen karierten Quadrantenplan eingetragen waren. „Kucken Sie mal auf die Orientierung!“
„Sagensi nich immer Orientierung, die Häuser sin’ doch Nord-Süd-ausgerichtet und nich nach Osten.“
„Gut, sie sind Nord-Süd-ausgerichtet, das schreibt Senff auch – jedenfalls meistens. – Und jetzt kucken Sie sich mal den Gesamtplan an.“
Ich reichte ihm den Überblicksplan hinüber. Er hielt die Kopien in beiden Händen, kniff die Augen zusammen und blickte konzentriert auf die Blätter. Schnell und unwillkürlich drehte er die Blätter so, dass die Karos des Messsystems auf allen Blättern gleich gerichtet waren.
„Hm“, machte er, „ich weiß nich, worauf sie –“ Ich zeigte auf die Nordpfeile der Detailpläne und wies wortlos auf den Nordpfeil des Übersichtsplans.
„Diss is ja, der Nordpfeil“, öffneten sich seine Augen wieder weit, „die Häuser sind Ost-West-orientiert!“
„Und das ist nur einer der offensichtlichen Fehler. Hören Sie, ich habe jetzt ein Dutzend Befunde, die Senff im Text an mehreren unterschiedlichen Stellen nennt, um sie mal als Werkstatthaus und mal als Brunnen zu deuten. Zig Abbildungen fehlen, andere sind falsch zugeordnet. Auf jeder dritten Seite laufen Sätze ins Nirwana, werden nicht aufgelöst.“
Mein Doktorvater sah mich stolz an und begann vorsichtig zu grinsen.
„Am meisten“, zögerte ich einen Moment, „hat mich aber seine Schlampigkeit bei den Rohstoffen genervt.“ Ich hielt ihm Beispiele für die Listen und Tabellen vor die Nase. „Hier! Und da!“, tappte ich mit dem Zeigefinger auf irgendwelche Stellen auf den Blättern. Fehler traf man sowieso immer. Bei jedem Tappen blickte er auf die gezeigte Stelle.
„Nirgendwo nennt er einen Fundplatz korrekt. Immer gibt er irgendwelchen Mist an. Nichts stimmt!“, begann ich mich aufzuregen.
Mein Doktorvater lächelte stoisch, er setzte seine Brille ab, lehnte sich zurück und legte seine gefalteten Hände auf den Bauch.
„Wissen Sie“, atmete er tief ein, „ich habe vor einem Jahr einen Kollegen hier im Inssitut zu Recht als faul bezeichnet. Sie können sich nich vorstellen“, blickte er nun auch noch mit seinem Zeigefinger auf mich, „was diss für ’n Ärger wurde. Diss is bis ganz oben gegangen und ich musste ’n Gespräch midd’m Dekan führen.“ Seine Hand tanzte im Takt des Satzes vor und zurück. „Diss gab ’ne richti’e Vewaanung.“ Er senkte seine Stimme und sprach überbetont „So-et-was-sagt-man-nicht-von-Kol-le-gen.“ Seine Stimme nahm wieder einen normalen Ton an: „Auf dimm Markt zählt sowieso nur, wer zuerst kommt. Seh’n Sie, kennen Sie dinn Hortfund von Szercina?“ Ich nickte lahm, er wedelte mit seiner Brille in der rechten Hand. „Der is von Hussar publiziert worden, in, äh, den Jahrbüchern zu, Sie wissen schon.“ Wieder hob und senkte ich meinen Kopf. „Wassi aber nich wissen, Hussar is nich regulär an den Fund gekommen. Der Beumler, der mit der Eisenzeit, hat den nich nur aussegraben, sonnern wollte ihn natürlich auch siebenunnzwanzich veröffentlichen. Er war aber leider nich schnell genug, Hussar hat Fotos vom Hort in die Finger bekomm’ und – zack – auffin Markt geworfen. Kein Mensch verbinnet dinn noch mit Beumler, alle zitieren nach Hussar. Wer zuerss kommt, mahlt zuerss. Dabei hat Hussar nur ’n Foto vorgelegt und ein paar Zeilen dazu geschrie’m. Wie’n Tiligramm. – Seh’n Sie, Sie könn’ diss natürlich schreib’n. Sie könn’ darauf hinweisen, welche Fehler in seiner Doktorarbeit steck’n. Schreibense’s aber so, dass Senff, wenn er diss liest, von sich denken kann, er is der Größte. Sei’n se vorsichtig, vielleicht sinnsi mal darauf angewiesen, bei ihm zu arbeiten.“ Als er mir mit vorgeschobener Unterlippe den letzten Satz sagte, wurde sein linkes Auge immer größer.