Mittwoch, 21. Januar 2009

Kapitel 5.4

Zwei Stunden später kam ich auf dem Acker an, auf dem ich die nächsten Monate verbringen sollte. An der baumgesäumten Landstraße erwartete mich bereits mein erster Mitarbeiter Dieter Räumer. Als ich mit dem Geländewagen langsam auf die Feldeinfahrt trudelte, winkte mir der etwas schmächtige Kerl im Blaumann zu. Dieter hatte einen sehr kurzen Meckischnitt und war kräftig sonnengebrannt. Seine Haut war wettergegerbt und zerfurcht, dabei aber nicht im eigentlichen Sinne faltig. Fast immer, wenn man ihn sah, waren seine Augen leicht zusammengekniffen, dabei bildeten die Brauen eine Form wie der Giebel eines Satteldaches.
„Ich habe den Bauwagen schon gesehen!“, begrüßte Dieter mich durch die offene Tür, noch bevor ich aussteigen konnte. Er hatte den Satz betont wie ein fünfjähriges Kind, das seiner Patentante stolz von seiner neuen Modelleisenbahn erzählt, ich merkte schnell, dass das sein normaler Tonfall war.
„Der ist unten im Ort falsch abgebogen. Der steht an der Tankstelle.“ Entfernt bimmelte eine Bahnschranke; noch hörte ich dieses Geräusch aufmerksam, wenige Tage später hatte ich es so oft gehört, dass ich es kaum noch wahrnahm. „Hallo, ja, dann steig ein und zeig mir mal, wo der steht.“
Dieter und ich fuhren von dem Acker auf die Landstraße, und er erklärte mir ungefragt, dass er nur wenige Dörfer weiter weg wohnt und jeden Morgen mit der Bahn kommt.
Wir rollten über die nahen Bahngleise und mussten an der dahinter gelegenen Ampel halten, die fast immer rot war. Bei der Gelegenheit sah ich, dass die grünbraune Stofftasche, die Dieter auch später alle Tage mit sich führte, auf der Vorderseite mit der handtellergroßen Darstellung eines Hanfblattes geschmückt war. Er merkte, dass ich auf die Tasche blickte und beeilte sich, mir den Sachverhalt zu erklären: „Das ist eine Kiffer-Tasche.“
„Ich weiß“, grinste ich vielsagend.
„Die habe ich aber von meinem Sohn. Ich kiffe nicht“, schüttelte er den Kopf. „Ich rauche zwar, aber ich rauch nur Tabak, keinen Knaster. Und die Tasche hat mir mein Sohn gegeben ...“
Die Ampel wurde gelb und grün, ich fuhr los.
„Dieter“, versicherte ich ihm, „selbst wenn du kiffst, macht mir das nichts aus. Ich glaub dir aber auch.“
„... ich kiffe nämlich nicht.“
Er beruhigte sich, wir kurvten nach rechts und erreichten nach knapp anderthalb Kilometern die einzige Tankstelle im Umkreis einer Tagesreise zu Pferd. Hier wartete der Tieflader bereits mit dem Bagger.
„Na, wenigstens macht er keinen Unsinn“, entfuhr es mir.
Dieter fragte: „Wieso?“
„Ich sollte mal für ’ne Notgrabung einen Bagger am Freitag Nachmittag entgegennehmen, der Lieferant hat wie üblich die Adresse nicht gefunden und den Bagger im erstbesten Obstgarten abgestellt.“ Ich schüttelte lachend den Kopf. „Irgendwann rief dann ein aufgeregter Kleingärtner bei dem Bauunternehmer an. Der Fahrer hatte nämlich noch ein paar Apfelbäume kaputtgehauen. So richtig schöne alte Sorten. Aber der Unternehmer war ja versichert.“
Als wir an der Tankstelle ankamen, ertappten wir den Tiefladerfahrer dabei, wie er gemütlich im Straßenplan kramte. Er hatte es nicht besonders eilig, uns zu finden, aber das machte uns nicht viel aus. Immerhin war heute sowie nur der Tag, an dem die Geräte angeliefert werden sollten.
Wir geleiteten ihn zur zukünftigen Baustelle, wo er zum Abladen erst mal mit Nachdruck die Bundesstraße blockierte. Dahinter hupten Autofahrer, die es nicht aushielten, entweder fünf Minuten zu warten oder die Blockade einfach auf der kaum entfernten Parallelstraße zu umfahren. Der beinahe übermäßig ruhige Lieferant bedachte sie mit dem freundlich vorgetragenen Hinweis darauf, dass „wir das ja gerne diskutieren können, dann dauert’s aber nur umso länger.“
Da ich ohnehin nicht viel zur Situation beitragen konnte, amüsierte ich mich schlicht. Inzwischen wurden auch Bauwagen und Werkzeugcontainer angeliefert, gleichzeitig kündigte sich mein erster Besuch an. Wieland kam nämlich mit seinem Dienstwagen angefahren, ich wunderte mich, warum er den offenbar ältesten Bulli des Amtes mit der größten Beulendichte bekommen hatte, während ich mit einem angemieteten Neuwagen versorgt war. Später erfuhr ich von anderer Seite, dass Wieland auf Autos Beulen sammelte wie andere Briefmarken.
„Hallo Wieland!“, begrüßte ich ihn, als er aus dem Bulli stieg.
„Grüß dich, ich hab schon mal einen Schlüssel für die LPG nachmachen lassen. Da hat übrigens eben der Klo-Mann angerufen, der sucht eure Grabung.“
Ich griff nach dem Schlüssel und pulte ihn an mein Schlüsselbund: „Hat der denn keine Lieferadresse bekommen?“
„Natürlich, aber du weißt doch, die finden die Grabung doch nie.“
„Das stimmt. Wo wartet der denn jetzt?“
„An der Tankstelle.“
„Na super, da kommen wir gerade her. Dieter?“
Der dreht sich mit einem „Ja?“ zu mir.
„Ich muss das Klo an der Tanke abholen. Kannst du dich gerade mal um die Bauwagen und den Container kümmern, der soll die am besten dahinten hinstellen.“ Ich wies vor das zukünftige Südende der Grabungsfläche.
„Nicht lieber hier vorne unter den Bäumen? Da hätten wir ein bisschen Schatten.“
„Nee, das wird nicht viel bringen, dafür sind die Bäume zu hoch und zu licht. Außerdem müssten wird dann den Kram so weit schleppen. – Gibt es sonst noch was, Wieland?“
„Nein, äh, achso, ich grabe übrigens in Krützin, das ist gleich dahinten auf der anderen Straßenseite.“
„Ja, ich weiß, na, wenn ich was brauche, komme ich einfach rüber“, da ich wusste, wie ungeduldig ausgerechnet die notorisch unzuverlässigen Baustellenklolieferanten und -reiniger waren, sprang ich beinahe unhöflich, mich gerade noch verabschiedend in meinen Wagen und ließ Wieland stehen. Im Losfahren kurbelte ich aber noch das Fenster runter und rief Dieter zu: „Wenn die Vermesser kommen, sag ihnen, dass ich sofort wieder da bin.“
Wieder ging es über die Gleise, an der Ampel halten, einmal rechts und tausendfünfhundert Meter die Straße runter. Der Lieferwagen stand aber nicht an der Tanke, sondern gegenüber in einem toten Feldweg. Hier stand der unverhältnismäßig gestresste Klo-Mensch gebeugt rauchend neben seinem Wagen und studierte in nervöser Panik die gefaxten Anfahrtsskizzen und einen Straßenplan. Ich hielt hinter seinem Wagen, stieg aus, ging zu ihm und erklärte ihm, wer ich bin und wo das Baustellenklo hingestellt werden sollte. In dem Moment, in dem ihm klar wurde, wen er vor sich hatte, wurde er frech und schimpfte, die Anfahrtsskizze sei unmöglich, die Baustelle nicht zu finden, und außerdem sei da ja noch gar keine Baustelle.
Ich kannte das Geterze ausgerechnet des untersten Gliedes, ließ ihn motzen, dachte schmunzelnd an den gerade vom Tiefladerfahrer gehörten Spruch und geleitete ihn zur „Baustelle“. Dieter hatte mit den beiden anderen Lieferanten die Bauwagen und den Container an die vorgesehene Stelle befördert, dabei hatte sich der Lastwagen mit dem Bauwagen auf dem noch nicht einmal besonders matschigen Acker festgefahren. Praktischerweise fuhr sein Laster nämlich auf Reifen, die schmaler waren als bei den meisten Mountain-Bikes. Immerhin waren die Lieferanten patent genug, den Wagen mit dem kettenbetriebenen Bagger in Richtung Straße zu ziehen, so dass ich mich wenigstens nicht auch noch darum kümmern musste.
Der Klo-Mann hatte den blauen Plastikquader kaum abgestellt und mit den stinkenden Chemikalien befüllt, da trudelte schon der nächste Bulli an. Die Vermesser waren angekommen. Glücklicherweise waren sie zu Dritt gekommen. Wir zeigten uns gegenseitig unsere Pläne und besprachen, wo wir welche Pflöcke gesteckt bekommen wollten. Ich bat darum, mir nach dem Setzen der Pflöcke einen Grundplan mit Gauß-Krüger-Koordinaten zu überlassen. In der Zwischenzeit wollte ich mit Dieter zur ehemaligen LPG fahren, die das Amt angemietet hatte, und schon einmal eine erste Fuhre Werkzeug holen. Bei der Gelegenheit konnte ich mir gleich ein Zimmer aussuchen und darin die wertvolleren Vermessungsgeräte dort abstellen, da ich sie ohnehin nicht mehr an diesem Tag benötigte.
Um zu dem Gebäude zu gelangen, mussten wir wieder über die Bahngleise, an der Ampel halten, nach der Ampel jedoch nach links abbiegen und etwa vier Kilometer hinter einer Unzahl von unüberholbaren 25-km-Autos herzuckeln. Hinter einer leicht erhöhten, mit Kiefern bewachsenen Anhöhe lag ein länglicher Bau, dem man bereits von außen ansehen konnte, dass er im Ganzen stark heruntergekommen und ungepflegt war. Ich hielt direkt vor dem Eingang, schließlich wollten wir die Geräte nicht unnötig weit schleppen. Ich packte meinen Kram und die Vermessungsgeräte aus dem Wagen, Dieter half mir beim Tragen, und glücklicherweise passte sogar der Schlüssel ohne Probleme in das eher unzuverlässig wirkende Schloss. Hinter der naturgebeizten Tür entblößte sich uns ein breiter, etwa fünfzig Meter langer Gang, von dem zu beiden Seiten zahllose Türen abgingen. Der Gang war mit einem vermutlich bereits in den Fünfzigern ausgeblichenen Linoleumimitat gepflastert, das den dringenden Eindruck erweckte, dies sei nicht das Gebäude für die Subotniks der LPG gewesen, sondern es handele sich um den alten Kuhstall. Dieter kannte das Gebäude und empfahl mir: „Als Grabungsleiter solltest du eines von den Zimmern im hinteren Teil nehmen. Da funktionieren die Nachtspeicheröfen noch.“ Wir trudelten den Gang hinab, ich blickte dabei unschlüssig nach rechts und links.
„Nimm lieber ein Zimmer auf der rechten Seite“, beantwortete Dieter mein fragendes Gesicht, „da hast du morgens Sonne, außerdem kann man die Türen auf dieser Seite abschließen.“
Ich entschied mich schließlich für einen Raum, der noch nicht vergeben war und nicht allzu sehr zugestellt war. Hier war der Boden zwar mit einer Art Auslegware zugepflastert und insofern weniger unangenehm als im Gang. Einige Tage später musste ich jedoch feststellen, dass der filzig-fasrige Boden quasi lebte, zumindest produzierte er Wollmäuse in einer solch großen Zahl, dass ich mir während der Ausgrabung problemlos einen Pullover hätte stricken können, wenn es mir denn nicht zuwider gewesen wäre, diese „Fasern“ näher als irgend nötig an mich heranzulassen.
Immerhin war das Zimmer bei meinem Einzug so aufgeräumt, dass ich am Abend lediglich ein paar rasselnde Fundkartons umzuräumen und den Schreibtisch in eine günstige Position zu rücken hatte, um es mir den Umständen entsprechend gemütlich einzurichten. Jetzt verschlossen wir jedoch erst einmal die Tür, und ich bat Dieter, mich zu den Räumen mit den Werkzeugen zu führen.
„Was brauchen wir denn?“
„Insgesamt sind wir acht Leute.“
„Ja“, platzte es aus Dieter, „da nehmen wir am besten mal so zehn Schaufeln, vielleicht auch acht Spaten, oder?“ Dieter griff nach zwei, drei Schaufeln, sein Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse: „Ä! Hat Rüdiger die wieder mit Diesel eingeschmiert.“
Dieter stellte die Schaufeln wieder an die Wand und wischte sich die Hände reflexartig am Latz seines Blaumanns ab. „Haben wir nicht ...“, er blickte sich um, „... irgendwo? ... Ah! Hier! Ein paar Tücher. Ich mach die Schaufeln erst mal sauber, so können wir die doch nicht in deinen Wagen legen.“
„Der Boden wird hier doch bestimmt sandig sein, da können wir uns Spitzhacken bestimmt sparen?“
„Neinnein, die brauchen wir nicht, aber ein paar Kratzer können wir gleich einpacken. Und falls die Befunde mal zu trocken werden, du weißt schon, für ein Foto, oder damit man sie besser zeichnen kann, lass uns auch mal ’ne Gloria mitnehmen. Außerdem sollten wir uns zwei Schubkarren aussuchen, bevor nur noch kaputte Karren da sind.“
„Die kriegen wir aber nicht sofort mit, da fahren wir nachher nochmal – hamja Zeit“, grinste ich.
Wir packten noch dutzende Kellen, Stukkateureisen, Bürsten, Eimer, ja, voller Optimismus sogar ein paar Pinsel ein, außerdem bereiteten wir ein paar Fundkartons mit Fundtüten vor, legten mehrere Blocks Fundzettel dazu. Aus einer größeren Kiste räumten wir noch den nötigsten Zeichenkram (Druckbleistifte, Buntstifte, Radiergummi, Anspitzer, Lineale, Millimeterpapier) in zwei leere Anglerkoffer und suchten uns die beiden Zeichenrahmen aus, die am ehesten den Eindruck machten, die Grabung halbwegs zu überstehen. Da wir die Zeichenutensilien an diesem Tag noch nicht brauchten, stellten wir sie zu den Vermessungsgeräten in mein neues Zimmer.
Den Rest des Tages verbrachten wir mit mehreren Touren, um das weniger wertvolle Werkzeug zur Grabung zu transportieren. Bei jedem Besuch sahen wir, wie die gut gelaunten Vermesser nach und nach alle für uns notwendige Pflöcke pflanzten. Die Grabungsfläche, die zu untersuchen war, führte von der Zufahrt der Landstraße eine kleine Anhöhe hinauf und an einem Soll vorbei. Ein halbes Jahr später sollte mit der Auskofferung der neuen Umgehungsstraße begonnen werden, die in Wirklichkeit erst ein Jahr darauf erfolgte. Zur Vereinfachung unserer eigenen Vermessungsarbeiten hatte irgendein freundlicher Landmesser viele Jahrzehnte zuvor diesen Soll genutzt, um einen Höhenpunkt zu setzen. Also mussten wir nicht mit irgendwelchen Behelfspunkten arbeiten, um die Befunde über Normalnull einmessen zu können. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich natürlich noch nicht wissen, dass ich trotzdem noch mehrere Wochenenden damit verbringen würde, Höhenwerte nachzurechnen und zu korrigieren.