Donnerstag, 22. Januar 2009

Kapitel 6.1

Die erste Nacht in der ehemaligen LPG Totenow war recht ruhig. Außer mir übernachtete nur Wieland, der das übernächste Zimmer belegt hatte. Andere Gäste sollten termingemäß auch frühestens am Folgetag eintrudeln.
Wieland und ich sahen uns am nächsten Morgen nur kurz zum flüssigen Koffeinfrühstück in der improvisierten Küche, die später auch als abendlicher Archäologentreffpunkt diente, dann packten wir unsere Wagen mit dem restlichen Gerät voll und fuhren zu unseren Grabungen.
Kurz bevor ich zur Grabung kam, sah ich Dieter direkt hinter der Ampel zur Grabung laufen. Ich hielt an, ließ ihn einsteigen, und er begann nach kurzem Gruß direkt zu plappern. Auf den wenigen Metern zur eigentlichen Grabung hatte er mir in gedrängter Form seinen Lebenslauf erzählt mit einer besonderen Gewichtung auf die zivile Seefahrt in der DDR. Dieter war nämlich auf einem DDR-Frachter zur See gefahren und freute sich besonders, als er mir den Unterschied zwischen Luv und Lee erklärte: „Das lernst du nämlich ganz schnell, wenn du mal gegen den Wind gepisst hast“, strahlte er mich an.
Als wir auf die Baustelle fuhren, stand bereits ein Pick-up von der Baufirma auf der Grabung. Zumindest der Baggerfahrer war also vor uns angekommen und glänzte mit auffallender Pünktlichkeit. Noch saß er in seinem Wagen, hörte sehr laut Truck Stop und las dazu angestrengt in der üblichen Bauzeitung mit den großen Abbildungen. Er merkte, dass jemand gekommen war, raschelte schnell die Blätter dreimal zusammen und stopfte sie zwischen Armaturenbrett und Windschutzscheibe. Als er dabei aufblickte, war ich eine Sekunde verwundert. Der Mann, der da gerade ausstieg und in den nächsten sechs bis acht Wochen für uns den Bagger bedienen sollte, sah aus wie die Bonsai-Wiedergeburt von James Joyce. Das hagere Männchen mit leicht gelig zurückgekämmten Haaren stellte sich als Stefan vor und lugte durch die wahrscheinlich dicksten Brillengläser östlich der Elbe. Am auffälligsten waren jedoch seine stark eingefallenen Wangen, da ihm genau wie dem irischen Schriftsteller die meisten Zähne fehlten. Anders als Joyce hatte Stefan sie jedoch schlagartig bei einem Unfall verloren, wie ich später noch erfahren sollte. Er trug eine unförmige Bundeswehrlatzhose und wollte mir auch gleich eine andrehen, führte er doch wie ein Vertreter eine Kiste mit einem halben Dutzend solcher Hosen im Pick-up mit sich. Zum Glück fiel mir die Ablehnung eines derart albernen Kleidungsstücks umso leichter, weil mir die Hose auf den ersten Blick nicht passte, schließlich trug ich im Gegensatz zu Stefan schon seit einigen Jahren keine Kindergrößen mehr.
Ich gab Stefan den Schlüssel für den Bagger. Während er mit dem kettengetriebenen Spielzeug für große und kleine Kinder zur Ausgrabungsfläche rasselte, öffnete ich den Container und die Bauwagen. Dieter packte seine Hanftasche in einen der beiden Wagen, der dadurch zum Raucherwagen befördert wurde. Dann zeigte ich ihm, wo Stefan unter seiner Aufsicht mit dem Baggern beginnen sollte. Da ich von Senff erfahren hatte, dass Dieter auch ehrenamtlicher Denkmalpfleger war, hatte ich keine großen Bedenken, ihm diese Arbeit zu übertragen. In der Zwischenzeit räumte ich den Zeichenkram in den Nichtraucherwagen, weil ich jeden Moment mit der Ankunft der ersten Zeichnerin Sylvia Widder und ihres Kollegen Hans Gros rechnete.
Ich hatte Anglerkoffer und Zeichenbretter kaum in meinem Büro auf Rädern verstaut und damit begonnen, die Sachen für zwei Zeichner vorzubereiten, als ich hörte, dass draußen ein Auto vorfuhr. Als ich aus dem Wagen kletterte, sah ich, dass ein Endzwanziger mit roten Haaren in einem der vom Amt angemieteten Dienstwagen angekommen war. Nach den Erzählungen meiner Bekannten war klar, dass es sich nicht um Hans handeln konnte, daher vermutete ich, dass es sich um Arnold Eichhorn, den dritten Grabungsleiter in der näheren Umgebungen handelte.
„Scheiße, w’s is dátten für’n Mistdreck!“, war das erste, was ich von ihm vernahm. Irgendwie verwurstelte er sich gerade mit seinem Gurt. Langsam schritt ich auf ihn zu.
„Hallo, du bist Arnold?“
„Son verkackter Mist – ja!“, er war zwar inzwischen aus dem Gurt befreit, fummelte aber weiter am Fahrersitz herum, bevor er sich mir zuwandte, „Wieland hat mir von dir erzählt.“
„Hoffentlich nur Gutes“, schmunzelte ich.
„Na, was man ebm so redet. Ich wär schon eh’r hier gewesen, aber ich hab son beschissenen Veilchenbeschleuniger vor der Nase gehabt.“
Ich hob fragend die Augenbrauen.
„Na, son Blumentransporter.“
„Du gräbst auch in der Nähe?“, erkundigte ich mich dann.
„Ja, meine Grabung, das is son slawisches Gräberfeld, das zum Teil noch unter diesen dämlichen Betonplatten von irrndsomm ollen LPG-Wech liegt.“ Er drehte sich nach hinten und wies knapp einen Kilometer nach Süden, in Richtung unserer Unterkunft.
„Wieland hockt mit seiner Krütziner Grabung da drüben ja direkt zwischen uns“, ergänzte er, „das ist ja auch ein Dreckskram.“
„Wieso?“
„Na, eintlich soll er ja wie wir bei der Umgehung buddeln, direkt neben seiner Fundstelle möchte aber irrndsone olle Scheißfirma ’n paar WKAs bauen.“ Ich blickte fragend. „Na, Windkraftanlagen. Und weil wir ja sowieso grad dabei sind, darf Wieland für die Vollidioten gleich ’n paar Mistlöcher mehr aufmachen. – Aber sach ma, wat macht Dieter da eintlich?“
Ich drehte mich um und sah zu meinem Entsetzen, dass Dieter sich gerade mehr oder weniger eingrub. Anstatt einfach knapp unter den Mutterbodenhorizont baggern zu lassen, stand er inzwischen mit seiner Schaufel mehr als anderthalb Meter unter der Bodenoberkante und machte dem Baggerfahrer mit einer gebogen-grabenden Hand heftige Zeichen, noch viel tiefer zu graben. Schnell lief ich zu Dieter, mit Arnold im Schlepptau. Ich winkte und übertönte mit lauter Stimme den Bagger, um Dieter klar zu machen, dass er sich längst zu tief ins Holozän eingegraben hatte. Der Arbeiter war ein wenig erschreckt, entschuldigte sich jedoch bei mir völlig übertrieben und ließ den Bagger ein Stück nach hinten fahren, wo er dann in zwei, drei Zügen seiner Schaufel insgesamt nur noch knapp einen halben Meter abhobelte.
„Solltess du nich eintlich mehr Mitarbeiter haben?“
„Ja, ich warte noch auf Sylvia Widder und Hans Gros. Kennst du die?“
„Nee, mit den’ habbich nie gearbeitet“, sagte Arnold. Im selben Moment fuhr ein Wagen auf den Acker. Nach der Beschreibung meiner Bekannten war mir klar, das mussten Hans und Sylvia sein. Die zwei trugen im Auto Baseball-Kappen, dazu hatten beide ihre langen Haare als Zopf durch die hintere Öffnung über dem Clip zur Größeneinstellung gezogen. Der Wagen rollte zu den Bauwagen und blieb da stehen. Beide stiegen zügig aus, Sylvia schritt auf uns zu.
„Sylvia Widder?“, fragte ich. Sie bejahte, ich stellte Arnold und mich vor, inzwischen war auch Hans zu uns gestoßen. Hans besaß einen auffallend durchdringenden Blick. Seine Haare waren zwar genauso lang wie die von Sylvia, allerdings waren seine bereits in Ehren ergraut. Ich war überrascht, wie overdressed er als Arbeiter erschien. Seine Hemden waren aber während der gesamten Grabung stets wohlgebügelt, und er war adrett aus dem Ei gepellt, egal ob er in glühender Sonne Planum gekratzt oder mehrere Stunden in einem verschlammten Loch verbracht hatte.
Arnold verabschiedete sich und ich ging mit dem Arbeitsehepaar zu Dieter und erklärte ihnen, was wir untersuchen und was wir zu erwarten haben. Hans sollte anschließend zusammen mit Dieter arbeiten, Sylvia wollte ich die Pläne zeigen und ihr die Zeichenutensilien und Vermessungspläne geben, damit sie schon einen Übersichtsplan vorbereiten konnte, bis erste Teile der Fläche gezeichnet werden konnten. Bei der Gelegenheit plauderte ich mit ihr ein wenig und enthüllte ihr, dass ich von ihr und Hans schon die eine oder andere Geschichte gehört hatte. Sie war darüber überrascht, freute sich aber, mit mir eine gemeinsame Bekannte zu haben, mit der sie sich bereits gut verstanden hatte. Hieraus schloss sie nicht zu unrecht, dass auch wir gut miteinander auskommen würden.