Freitag, 23. Januar 2009

Kapitel 6.2

Am dritten Tag der Grabung sollten auch die vorläufig restlichen Mitarbeiter zur Grabung stoßen. Morgens war ich so früh an der Grabung angekommen, dass ich noch ein bisschen Zeit hatte, den üblichen Papierkram für den Tag vorzubereiten. Bald hörte ich aber die ersten Wagen anfahren. Dem Motorgeräusch nach war es der Kombi von Hans. Da keine Türen klappten, durfte ich mir auch relativ sicher sein, dass es die beiden waren. Denn ich wusste bereits von meiner Bekannten, dass beide jeden Morgen noch wenigstens fünf Minuten nebeneinander im Wagen sitzen blieben, meist ohne sich unterhalten.
Ich stand von der Bank auf und kletterte zur Tür des Bauwagens. Als ich nach draußen blickte, hockten beide tatsächlich wie zwei Schaufensterpuppen in dem Kombi. Ich sah aber auch schon die nächsten Wagen anrauschen. Zuerst kam der Pick-up von Stefan, der heute Dieter hinter dem Bahnhof aufgelesen hatte, dann fuhr ein blau gefärbter, abgeschnittener französischer Kleinwagen mit Mongolenblick auf die Zufahrt. Es folgte ein tiefergelegter Japaner, hinter dem sich ein alter Mercedes auf den unbefestigten Weg wälzte. Das war der Wagen von Jonas, aus dem laut tönte: „... Na-ta-scha Spek-ken-bach, mit Haa-ren wie To-ma-ten-saft, und die kennt Marx und En-gels und wie mans rich-tig macht ...“ Degenhardt gehörte ab diesem Tag zu dem morgendlichen Ritual, dem ich mich in den nächsten Wochen zu unterwerfen hatte. Jonas stoppte die Kassette erst, als er direkt vor dem Bauwagen stand. In seinem Strich Acht saß auf dem Beifahrerplatz ein kleiner untersetzter, leicht stämmiger Arbeiter, der sich mir nach dem Aussteigen als Jan Retzlaff vorstellte. Jan war kaum älter als ich, war aber auf dem kurzhaarigen Schädel bereits von einer kreisrunden Platte betroffen.
Aus dem Franzosen zwängte sich Wernher Senger. Er war eigentlich nicht dick, hatte aber irgendwie einen rundlichen Körper in der Art eines Schneemannes. Sein ballförmiger Kopf war mit einem katerartigen Schnurrbart geschmückt, unter dem der Mund meist freundlich grinste. Überhaupt hatte sein Kopf etwas von dem Schädel eines Katers.
Wernhers Fahrersitz war weit nach vorn geschoben, weil er dem Anschein nach seinen halben Hausstand in den erstaunlich geräumigen Wagen gestopft hatte. So wie sich das gequetschte Mobiliar an die Scheiben drückte, war zumindest ersichtlich, dass er wenigstens ein Klappbett und mehrere Teppiche eingepackt hatte.
Inzwischen waren auch Hans und Sylvia ausgestiegen. Sie sagten mir mit beinahe übertriebener Freundlichkeit „Guten Morgen!“ und strebten dann auf die Neuankömmlinge zu. Hier begrüßten sich alle gegenseitig, bevor Hans Wernher die Frage stellte, die mir auch auf der Zunge gelegen hatte: „Sag mal, ziehst du um?“
„Mönsch, Hans, du weeßt doch jenausujut wie icke, det man heutzutage allet mitnehmen muss, wat man kriejen kann. Un ick war heut früh kaum losjefahren jewesen, da komm ick am Sperrmüll vorbei – und wat seh ick da? Jetz kiek dir mal diese Perser an. Da ist doch jar nüscht dran! Det Jeld liecht doch wirklich uff de Schossee!“
Er öffnete den Kofferraum und zeigte Hans und Sylvia in der Art eines professionellen Teppichverkäufers die Ware, die gerade heute erst ins Geschäft gekommen ist.
Hans prüfte den Perser reibend: „Du hast recht. Da is nüscht dran. Aber ich bleib lieber bei Geräten. Ich hab ja zu Hause noch sechs Fernseher und sieben Rasenmäher zu stehen. Die kann man wenigstens reparieren und verkaufen. Obwohl – die Polen kaufen ja auch keine ollen Fernseher mehr. Die wollen ja nur noch Farbfernseher. Aber man kann ja wenigstens die Kabel abschneiden und das Kupfer verkaufen.“
„Stimmt, du wars ja son Kabelfledderer“, erinnerte Wernher sich und lächelte. Dabei dreht er sich leicht und zeigte mit allen vier Fingern der linken Hand in schönster Militärmanier auf Hans’ Rückspiegelschmuck: „Hatteste da nich ooch dinn kleenet Skelett her?“ Hans grinste.
Sylvia erklärte mir später lächelnd, dass Hans berüchtigt war für seine Sperrmüllsammelei. In seiner Garage stapelten sich die Rasenmäher, an denen er im Winter herumbastelte, bis sie wieder funktionierten und er sie verkaufen konnte.
Als letzte quälte sich die überaus korpulente Studentin aus ihrem Japaner. Erst jetzt merkte ich, dass er gar nicht tiefergelegt war, sondern lediglich auf ihr Gewicht reagiert hatte. Sylvia hatte mir am Vortag zwar schon gesagt, dass Marion früher einmal für das Amt gearbeitet hatte, aus meinem Team kannten sie aber nur Sylvia, Hans und Dieter. Krachend schlug die Studentin die Tür ihres Autos zu. Im Gesicht trug sie die zu ihrer Statur passende hochgezogene Schweinsnase und ebensolche Augen. Ihre abgefressenen Haare waren hundgelockt und krönten ihre Figur, die im Ganzen an ein aufgeblasenes Halmamännchen erinnerte.
Mit einer Behändigkeit, die man sonst bei Dicken vor allem dann beobachten kann, wenn ein Buffet eröffnet wird, stürmte sie auf unsere Gruppe zu, würdigte die meisten keines Blickes, sondern baute sich vor Jonas auf und erklärte kurzerhand „Ich b-bin die Studentin. Ich habe mit D-doktor Senff t-t-telefoniert, er weiß, dass ich z-zeichnen und v-v-vermessen kann.“ Jonas grinste mich mit seiner von Snus ausgebeulten Oberlippe an, die anderen schwiegen leicht betreten. Sie blickte kurz verwirrt hin und her und bemerkte so ihren Fehler. Jetzt stellte sie sich mit der wortwörtlich selben Aufzählung bei mir vor.
Dieter lachte und empfahl ihr: „Marion, knall doch die Türen nicht so! Is doch nur ein Kleinwagen“, doch der belustigte Hans widersprach: „Genau – als ob man bei meinem großen Wagen die Türen knallen dürfte!“
Obwohl wir alle es schon besser wussten, fragte Sylvia: „Mensch Marion, ist dein Wagen tiefergelegt?“
„N-nein!“, beschied sie mit einem hochnäsig nach hinten verdrehten Kopf. Dabei schloss sie ihre Augen und zog Lider und Brauen gleichzeitig nach oben, wo sie sie hielt, als seien sie mit einem Binderclip an der pickeligen Stirn fixiert. „A-aber der ist sowieso n-nur für meine Sch-schwester. Ich muss nämlich f-für den Wagen arbeiten. Im Winter habe ich mir nä-ämlich den Wagen von meiner Schwester geliehen und b-in auf dem Eis a-ausgerutscht. Dort ist ihr Wagen aufs Dach geschliddert, und ihre Vers-sicherung wollte nicht z-zahlen. B-bloß weil meine Schwester eine V-versicherung abgeschlossen hatte, mit d-der nur sie fahren durfte. Un-mööglich. Eigentlich wollten wir die Versicherung schon verklagen, a-aber die Rechtsschutzversicherung meines Vaters w-wollte das nicht bezahlen. Na, was soll’s. Jetzt hat mein Vater d-diesen Wagen gekauft und ich arbeite ihn ab, d-damit ich ihn meiner Schwester überlassen kann. Aber das ist ein doofer Wagen. Der fährt zwar schön sch-schnell, ist ab-b-ber lange nicht so gut wie ein Trabi. Dort kann man nämlich alles s-selber machen. Wenn ich früher mit einem unserer Trabis liegengeblieben bin, m-musste ich immer nur m-meinen Vater anrufen, der ist dann s-s-sofort gekommen und hat alles repariert.“
Während sie das sagte, zurrte sich ihr Puttenmund zusammen, und sie nahm einen schnippisch-verschlagenen Fahlblick an, den ich in den folgenden Wochen etliche Male an ihr beobachtete. Sie setzte ihn für gewöhnlich auf, wenn sie zum Ausdruck bringen wollte, dass alles, was etwas mit ihr zu tun hatte, besser war als ihre gesamte Umgebung. Und das glaubte sie eigentlich immer. Um das zu unterstreichen, wedelte sie meist grotesk mit ihren unproportionierten Puppenarmen, an denen sich ihre Wurstfinger wie überdimensionierte Maden krümmten. Letztlich war ihre äußere Erscheinung aber ohnehin nur der körperliche Ausdruck ihres Charakters, wie ich bitter lernen musste. In beider Hinsicht bot sie einen wenig ästhetischen Anblick, ja sie war äußerlich und charakterlich das absolute Gegenteil der blanken Anmut.
Wir verteilten uns langsam zu den Bauwagen, die Nichtraucher brachten ihre Sachen in den Chefbauwagen, der schon wegen der Zeichnungen und Unterlagen nikotinfrei bleiben sollte, während Stefan, Dieter und Jonas ihre Taschen mit dem Pausenessen in den anderen Wagen warfen.
Sylvia und Hans gingen anschließend zu seinem Kombi, um sich andere Schuhe anzuziehen, während ich im Chefwagen den von mir am Morgen verteilten Papierkram zusammensortierte und abheftete. Jan kam kurz in den Wagen geklettert und wollte mir noch irgendwelche Arbeitspapiere für Maxim geben, als er in meiner Arbeitstasche eine Stirnlampe entdeckte, die ich für irgendein früheres Projekt benötigt hatte. Als ich seinen rätselnden Blick sah, murmelte ich wie beiläufig „falls es abends mal länger wird“ und sah aus dem Augenwinkel, dass Jan mit einem erschrockenen Blick aus dem Bauwagen trat.
Kaum war auch ich wieder aus dem Bauwagen gekommen, da hörte ich, wie Sylvia sich mit Jonas unterhielt. Sie hatte beim Anziehen ihrer Arbeitsschuhe offenbar an der Decke seines Mercedes einen Blutfleck entdeckt und erkundigte sich danach, was da passiert war.
Jonas lehnte am Kühler seines Wagens. Nahe der Lüftungsschlitze stand sein Taschenascher, in dem seine obligatorische Zigarette verglühte, während er sich gerade eine Portion Snus zurechtknetete. Er freute sich über die Frage, denn da er ein eingefleischter Fan des damals aktuellen Pulp Fiction war, ermöglichte sie ihm die Antwort: „Mr. Wolf hat nicht richtig saubergemacht!“
Sylvia blickte ihn fragend an, sie ahnte, keine weitere Erklärung zu bekommen, wunderte sich aber ohnehin darüber, dass ein junger Schwede kommunistische Lieder hörte, war der Sozialismus doch gerade grandios gescheitert. Jonas dagegen war hoch erfreut, dass Sylvia ihm eine Plattform geboten hatte, sich so herrlich unangepasst zu geben.
Sylvia ging inzwischen ihre Zeichenutensilien holen, während ich langsam zu dem archäologisch unerfahrenen Stefan lief, um ihm den weiteren Ablauf mit dem vergrößerten Team zu erklären. Jonas, dessen Oberlippe inzwischen die schwedentypische Snus-Beule aufwies, drückte seine Zigarette im Ascher aus, klappte ihn zusammen und kam zu uns. Ohne Nachfrage erklärte er mir von sich aus, was es mit dem Blutfleck auf sich hatte: Er war mit zwei Freunden kurz nach der Wende nach Tschechien in Urlaub gefahren, wo sie Campingurlaub machten. Auf dem Weg von einer billigen Zechtour zurück zu ihrem Zelt musste Jonas dringend austreten und hielt an. Beide Freunde waren im Fond sitzen geblieben, und als er wieder in seinen Wagen stieg, hatten sie sich aus irgendeinem Grund, den sie ihm nie verraten haben, so gestritten, dass der eine dem anderen kurzerhand die Fresse poliert hatte.
So wie ich mich auch später gut mit Jonas verstand, nahm ich immer an, dass wir ohnehin gewissermaßen auf einer Wellenlänge funkten. Dass er mir nun aber ohne Nachfrage diese Geschichte erzählte, sollte eindeutig ein Gunstbeweis sein, für den er eine kleine Belohnung erwartete.
Er hatte daher kaum dieses unwichtige Rätsel aufgeklärt, da fragte er schon, ob er nicht auch einmal ein wenig baggern dürfe, um sein Know-how zu erweitern. Stefan, den er gar nicht erst zu Wort kommen ließ, sei es jedenfalls egal, noch jemanden einzuweisen. Da ich damals noch nicht ahnen konnte, dass er diese Fertigkeiten nicht in erster Linie für Ausgrabungen erlangen wollte, und gleichzeitig mit Marion nach eigener Auskunft jemanden hatte, der wenigstens zeitweise die einfachen Vermessungsarbeiten übernehmen konnte, hatte ich nichts dagegen.