Dienstag, 27. Januar 2009

Kapitel 7.2

Bei den meisten Mittagspausen teilte sich das Team schlicht in Raucher und Nichtraucher, denn so konnten die Raucher der jedem Nichtraucher völlig unverständlich bleibenden Gewohnheit frönen, noch während des Essens zu quarzen.
Sylvia, Marion, Wernher und Hans, der das Rauchen erst kurz zuvor aufgegeben hatte, saßen üblicherweise dicht gedrängt mit mir im qualmfreien Chefwagen. Zumindest die erste Zeit gesellte sich auch der bindehautempfindliche Jan zu uns. Als er später mitbekam, dass die Raucher nach dem Essen Karten spielten, trollte er sich ab und zu in den Raucherwagen zu Dieter, Stefan und Jonas. Dazu verabschiedete er sich gewöhnlich von uns mit einem „Ich geh dann mal zu den Jungs.“ Seine Augen konnten von der vollgequarzten Luft einfach nicht so rot werden, dass er die Spiellust verlor. Sein Ego war in dieser Hinsicht das größere Problem, wie ich später noch erfahren sollte.
Oft schrieb ich noch an den Beschreibungen irgendwelcher Befunde, wenn die fünf Nichtraucher zu mir in den Bauwagen kamen. Aus mir unbekannten Gründen setzte sich Marion meist neben mich und zeigte dabei eine ähnliche Stürmermentalität, wie ich sie bereits bei ihrer Vorstellung am ersten Tag an ihr beobachtet hatte. Jetzt gab es mit dem Futter aber immerhin einen Grund. Sie keilte mich in eine Ecke ein, aus der es kein Entrinnen gab, und beließ mir die appetitliche Möglichkeit, täglich zwei neue Eiterpusteln in ihrem angestrengt blickenden Gesicht entdecken zu können.
Bevor nun das große Fressen begann, kramten alle irgendwelche Taschen, Töpfchen und Dosen mit belegten Broten, Würste, Obst, Gemüse und Joghurts hervor, mit denen sie eifrig Zeugnis von der Konfession ihrer Bäuche ablegten.
Eines besonders schlimmen Tages angelte Wernher eine Banane hervor, die nicht mehr braun gefleckt, sondern schwarz und außen bereits matschig war. Jan, der schon Gänsehaut und Ausschlag bekam, wenn jemand eingelegte Tomaten aß, bekotzte sich fast.
„Die willst du doch wohl nicht mehr essen, oder?“
„Aber natürlich will ick det. Wat denkst’n du? Außerdem schmeckt ’ne Tropenwurst nur so richtich jut.“
Jan streckte angewidert die kurze Zunge raus, Wernher setzte ein feistes Katerlächeln auf und drehte sich strahlend zu Hans, „Wa, Hans? Du weeßt det ooch, du hast doch selber Bananen jefahrn, Towarisch, früher, zu Ostzeiten.“
Hans riss mit seinen Zähnen angestrengt Stücke aus einem lappigen Brötchen, in das er ein polnisches Würstchen gequetscht hatte, und nickte.
„Du hast Bananen gefahren?“, fragte ich kauend.
„Ja! Das war ganz toll“, begeisterte Hans sich schmatzend, „Die Funktionäre sind nämlich davon ausgegangen, dass wir Spediteure von solchen Fuhren was mitgehen lassen würden, deshalb haben wir von vornherein gleich eine Kiste mitbekommen. Meine Mutter und ich haben jedenfalls immer Bananen zu stehen gehabt. Immer.“
„Das stimmt, Hänschen“, bestätigte Sylvia und löffelte in ihrem Joghurt.
„Es war sowieso nich alles so schlecht, wie sie heute schreien. Weißt du“, erklärte er mir, „unser Klopapier war so gut, dass ich mein letztes DDR-Geld nicht umgetauscht habe, sondern drei Paletten Klopapier gekauft habe.“
„Drei Paletten?“, fragte ich und Jan hakte nach: „Mensch Hans, du hast wohl noch kein gutes dreilagiges Papier benutzt, was?“
Hans schüttelte den Kopf „Das brauch ich auch nicht, ich weiß, was gut ist.“
„Na, quod erum demonstrandum“, mit einem besonders schnippischen Ton versuchte Jan vergeblich mit seinem sehr kleinen Latinum anzugeben.
Jetzt legte Hans sein Wurstbrot ab, seine Mundwinkel fielen nach unten: „Weißt du, Jan, heute geht’s so vielen so beschissen hier im Osten, und keiner beschwert sich. Und früher haben’se sich beschwert, weil die Kartoffeln zu klein waren. Die Kartoffeln!“ Er zeigte mit Zeigefinger und Daumen, wie klein die Kartoffeln gewesen sein sollen und schüttelte den Kopf, „und das wird uns noch viel schlechter gehen! Wart ma ab!“
Wernher stimmte mit ein: „Da haste recht, Hans, weeßte, ick war ja Fahrlehrer, und mir jing det immer jut. Ick hatt ja zwee Trabis, een Wartburg und stand schon uff die Liste für den nächstn. Den hättick letztet Jahr kriejn solln.“
„Als 78/79 der harte Winter war, da haben’se sich beschwert, dass die Sahne nicht pünktlich geliefert wurde. Dabei sind nicht mal die Panzer von der NVA im Schnee durchgekommen. Wofür sind’se jetz auf die Straße gegangen? Nur für die D-Mark, für sonst nüscht.“ Er drehte sich zu Sylvia: „Was hamse mich beschimpft, damals, ham geschrien, du willst uns doch bloß die schöne Demaak kaputtmachn!“ Dann galt seine Rede wieder allen: „Und heute? Da kriegen’se das Maul nich auf. Diese ganzen Bündnisneunzich-Idioten waren doch früher schon alles Querköppe, die immer nur Stunk gemacht haben. Die hätten lieber zu euch rübermachen sollen, denn wär’n wa se losgeworden.“
„Komm Hans, beruhig dich mal“, beschwichtigte Sylvia den sich langsam in Rage redenden Hans, „trink erst ma ’n Schluck Limmo. Du trinkst viel zu wenig.“
„Ich brauch auch nich mehr, Sylvia!“
„Stimmt, Hans, das hatte ich dich schon fragen wollen“, unterbrach ich, „trinkst du wirklich immer nur diesen einen Schluck Limo hier in der Mittagspause?“
„Morgens trink ich noch ’ne Tasse Kaffee und abends noch ’n Glas Limo, aber so lange das so frisch draußen bleibt, reicht mir das.“
Sylvia lachte: „Wenn die Sonne erst mal scheint, denn trinkt das Hänschen auch mal so eine ganze Nullkommafümf-Liter-Flasche Polen-Cola am Tag.“
„Ist das nicht ein bisschen wenig?“
„Nee, das reicht mir. Hauptsache, ich hab meine Wurst.“
„Du isst gerne Fleisch, nicht wahr?“, fragte ich.
„Ja!“ Hans’ Augen wurden groß und sein Kopf nickte nachdrücklich.
„Dann sollteste mal zum Jugoslawen gehen. Da gibt’s immer ordentliche Fleischberge. Oder probier mal Ćevapčići. Die müssten dir schmecken.“
„Du solltest aber auch wirklich mal ’n bisschen Salat essen, Hänschen“, ermahnte Sylvia.
„Du weißt doch, dass ich davon Magengrimmen kriege“, er rieb sich den Bauch, um zu erklären, wo der Salat beißt, „son Grünfutter vertrag ich einfach nicht. Denn lieber son Stück Käse wie Marion hier.“
Marion futterte nämlich derweil für sich hin. Sie hatte sich als Vorspeise wie an den meisten Tagen mehrere armdick geschnittene Käsebalken mitgebracht, die wie von einer Plât de Gouda für Riesen wirkten. Bevor sie die barrenförmigen Milchprodukte mit hapsenden Geräuschen versaugschluckte, bedurfte es jedoch eines Schmiermittels, daher schmückte sie jeden einzelnen Käsebalken mit dem Inhalt je eines Pakets Sour Cream.
„Ich hab letztes Jahr in meiner Wohnung selber Käse gemacht“, verkündete Jan stolz. „Zwanzig Liter Rohmilch hab ich gebraucht, und es ist trotzdem nur ein kleiner Käselaib herausgekommen.“
„Hast du denn eine Form gehabt, um den Bruch zu pressen?“, erkundigte ich mich.
„Dafür hab ich einfach ’n PVC-Rohr genommen. Son Stück wie für ’n Regenrohr. Das war eine Sauerei, kann ich euch sagen! Unsere ganze Küche hat sich in eine Tropfsteinhöhle verwandelt. Überall lief die Suppe von den Wänden. Meine Frau fand das gar nicht lustig, schließlich ist sogar ein Monitor kaputt gegangen“, freute sich der untersetzte Arbeiter.
Wernher aß nun eine Tomate und wechselte das Thema: „Sach ma, Hans, wennde Bananentransporter jefahrn biss, haste den Führerschein eijentlich bei de N-V-A jemacht?“
„Ja natürlich, ich habe einen Raketentransporter gefahren.“
„Möönsch, det is ja nich waah!“ Wernher strahlte und tippte sich stolz auf die Brust: „Ick doch ooch! Sach ma, wo warste denn jewesen?“
„Och, hier und da, aber einmal, da sind wir zum Manöver nach Kasachstan gefahren.“
„Jo, nee, da bin ick nich hinjekommen. Aba ick bin mit Parade jefahn.“ Seine Stimme hob sich: „Vor die janz jroßen Herrn in Balin.“ Die Silben des letzten Satzes unterstrich er mit einem kräftigen Kopfnicken. „Weeßte, immer mit Klebestreifen an den Fenstern, damit wir die Transporter parallel halten und auch jaaa nich zu schnell fahn.“
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Pause im normalen Rahmen verlaufen. Plötzlich aber entpackte die heute über alle Maßnahmen erstaunlich schweigsame Marion neben mir aus ihrer Tasche einen klumpenförmigen, noch in Butterbrotpapier verpackten Haufen. Irgendwie erwartete ich bereits Furchtbares, konnte jedoch nicht ahnen, mit welchem Horror ich konfrontiert werden sollte. Der für ihren beständigen Hunger zu kleine Mund verzog sich zu dem hässlichen Grinsen eines bösartigen Clowns, ihr Kopf kippte leicht nach rechts, als sie die Ecken vom Papier mit ihren sich windenden Wurstfingern auseinanderklappte, und sich mir ein widerlich stinkendes Bild bot.
„Sind das nicht ... Tollatschen?“, fragte Sylvia.
„Potlatsch?“, fragte Jan erfreut zwischen. „Gibt’s Geschenke? ’n Potlatsch is doch ’n indianisches Fest, bei dem’s Geschenke gibt.“
Sylvia blickte etwas verdutzt: „Nein, Tollatschen.“
„Ge-enau!“, bestätigte Marion stolz. „Meine Oma aus P-pommern war nämlich gerade zu Besuch. D-daa hat sie uns gleich ganz viele pommersche Tollatschen frisch gemacht. Oh, ich l-l-liebe Tollatschen!“, holperte sie und steckte sich die ersten drei in den Mund, verschluckte sie im Gegensatz zu den Käsebalken jedoch nicht sofort, sondern zerbiss die blutigen Buletten mit sichtlichem Genuss. „Umpf vir ham ein riesengück gehabt, wei ummwa nachbaa krade schwei schweine geschachtet hat – der wuffte gar nich wohimm mip pem viehen buud.“
Ich bekam nicht nur große Augen, die sich mehr und mehr verdrehten, sondern muss auch leicht grün angelaufen sein. Sylvia fragte mich, ob ich Tollatschen kenne. Ich verneinte. Ich hatte zwar von meinen Großeltern das eine oder andere seltsame Gericht kennen gelernt, war auf Island so mutig gewesen, Hárkarl, und selbstgemachtes Hangikjöt zu verkosten, aber diese Tollatschen waren mir eindeutig zu viel. Als Sylvia mir dann auch noch erklärte, welche anderen Zutaten zu dem „geschmacklichen“ Grundbestandteil Blut gepanscht wurden, um dieses Etwas zu kreieren, war mir jeder Appetit endgültig vergangen. Ich versuchte an etwas Geschmackvolles zu denken, frittierte Maden, überbackene Rattenschwänze, irgendwas.
Richtig schlecht wurde mir jedoch erst, als Orka, wie auch ich sie seitdem nannte, während des Verschlingens der Blutklopse auch noch damit begann, intensiv vergoren stinkendes Blut auszurülpsen. Nun nutzte mir auch der Vorteil des Fensterplatzes nur wenig, ich kam einfach nicht aus der Bank, bevor die Pause zu Ende war. Vor meinem inneren Auge entstand die halluzinierte Horrorvision einer fetten Fernsehköchin, die live einen Berg Tollatschen zubereitet.