Montag, 5. Januar 2009

Kapitel 4.5

Ich hielt mich in meiner Dissertation nur wenig zurück, entschärfte die entsprechenden Stellen aber auf wiederholtes Anraten meines Doktorvaters trotzdem. Sprach ich Senff in ersten Textversionen noch jede Fähigkeit zur wissenschaftlichen Arbeit ab, nannte ich schließlich in der beim Prüfungsamt eingereichten Version die offensichtlichen Ungereimtheiten nur noch fälschlich und irrtümlich und versteckte diese Kritik sogar in Fußnoten.
Heute weiß ich, dass das falsch war. Inzwischen kenne ich mehr Details zu der Geschichte. Ich lernte, knapp zwei Jahre nachdem ich promoviert worden war, einen ehemaligen Mitarbeiter Senffs kennen. Dieser Mitarbeiter machte sich selbst im Nachhinein Vorwürfe, dass er Maxim Senff bei der Abfassung seiner Dissertation geholfen hatte.
Ich weiß nicht, ob jemals jemand die ganze Wahrheit erfahren wird, mir ist auch nicht bekannt, wer alles so weit eingeweiht ist, wie ich es bin. Aber angesichts der Unterlagen und Belege, die mir dieser Ghostwriter vorlegte, bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass zumindest er nicht gelogen hat.
Professor Pickenpack hatte aus dem Nachlass eines anderen Professors, der vor Jahrzehnten an dem Institut gearbeitet hatte, entscheidende Unterlagen zu zahlreichen Einzeluntersuchungen, die Senffs spätere Dissertation betrafen. Die Nachlasspapiere waren schlampig gearbeitet, daher hatte sie der alte Professor auch nicht vorgelegt. Senff hatte sie nun in seine Klauen bekommen, hatte sie verarbeitet, verwurstet und zum Markt getragen. Er hatte sie aber schlampig belassen und Pickenpack war es egal gewesen. Genau genommen hatte er sie nicht einmal schlampig belassen, denn Senff hatte den Nachlass nicht einmal selbst exzerpiert.
Als er damit begann, die drei Jahre in Neuweiler auszuwerten, die er dort geherrscht hatte, stellte er bald fest, dass er nicht in der Lage war, die notwendigen Tabellen zu erstellen. Klein fing es an, er bat diesen Studenten um Hilfe, jenen Studenten ließ er Zeichnungen anfangen und er merkte schnell, wie bequem das Promovieren doch sein kann, wenn man die Arbeit anderen überlässt. Die meisten Fehler, die sich eingeschlichen hatte, stammten schlicht und ergreifend von verschiedenen Studenten, die er die einzelnen Teile anfertigen ließ.
Für ein erklärendes Einzelkapitel entdeckte er eines Tages, dass eine vergleichbare, aber unveröffentlichte Examensarbeit bereits vieles von dem erforscht und dargestellt hatte, was er genauso in seine Untersuchung einfließen lassen konnte, ja musste, wie er sich selbst sicher wurde. Bei diesem Kapitel handelt es sich übrigens um das einzige, bei dem das Sprachzentrum des Lesers nicht auf der Stelle einen Infarkt erleidet. Man kann es lesen, man versteht es und man merkt, dass es nicht zu dem sonstigen Brimborium gehörte.
An dem Tag, an dem Senff diese Entdeckung machte, muss ihm eingefallen sein, doch auch weitere Teile von anderen verfasst zu bekommen. Nach und nach reichte er Kapitelaufträge weiter, und der Student, der ihm diese Arbeiten erledigte, war glücklich, konnte er sich doch so schwarz sein armseliges BAFöG aufbessern und sich gleichzeitig seinem Fach widmen.
Sauer war er nur über die Schlussabfertigung. Senff hatte sich nämlich geweigert, die letzte Rate zu bezahlen. Der Student hatte ja leider keinen schriftlichen Auftrag vorliegen. Zum Ausgleich dazu waren die Texte natürlich fern davon, wissenschaftlich brauchbar zu sein, denn der Student war zur Zeit der Abfassung noch nicht so weit, kompetente Qualität zu liefern. Aber das war an der Universität ohnehin egal. Als der von allen Seiten hochgeschätzte Senff eine schriftlichen Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einreichte, zählte der Name des Einreichenden schon genug, um das lesefaule Publikum der Prüfungskommission zu blenden.
Ich war neugierig geworden, als der Ghostwriter mir von dieser Geschichte erzählte, blieb jedoch anfangs misstrauisch, bis er mir handfeste Beweise vorlegte. Er zeigte mir in seinem WG-Zimmer Unterlagen, angefangene Stichwortsammlungen und handgeschriebene Kapitelaufträge.
Als ich die Handschrift sah, wusste ich, dass kein Zweifel an dieser Geschichte bestand. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Handschrift des weit überschätzten, größtenteils von Pickenpack nach oben beförderten Dr. habil. Maxim Senff zur Genüge. Ich hatte nämlich inzwischen für ihn gearbeitet.
Er hatte mich nach meiner Promotion gefragt, ob ich Grabungsleitungen im Osten übernehmen wollte. Ich weiß bis heute nicht, welchem Umstand ich das zu verdanken habe. Erklären kann ich es mir allein dadurch, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda mich als wenigstens genehmen und halbwegs fähigen Leiter hingestellt hatte, die immer wieder gebraucht werden. Womöglich hatte Senff auch geglaubt, in mir einen jungen Archäologen zu finden, den er sich nach Gusto zurechtbiegen konnte.
Da ich notorisch Geld brauchte und keine Anstellung in Aussicht hatte, sagte ich zu und ließ mich auf einen Kontrakt mit diesem wissenschaftlichen Teufel ein. Er fragte, ob ich demnächst eine Grabung übernehmen könnte, ohne dass ich bereits Genaueres erfuhr.
Die Zeit auf den Ausgrabungen im Osten verlief dabei sehr oft sehr seltsam. Wie in anderen Berufen auch fand sich unter westdeutschen Archäologen hartnäckig das falsche Bild des faulen Ossis aus heruntergekommenen Löchern und mit seltsamen politischen Anschauungen. Und Senff hatte noch ein besonderes Problem mit den Ostdeutschen. Westdeutschen Angestellten hielt er nämlich vor dem Stellenantritt einen mindestens halbstündigen Vortrag über die ostdeutschen Grußgewohnheiten. Lang und breit erklärte er, dass jeder Ostdeutsche es ausdrücklich verlange, persönlich mit Namen und Handschlag begrüßt zu werden, weil sie sonst auf den Tod beleidigt seien.
Natürlich durfte auch ich mir diese törichte Einführung in ostdeutsche Rituale anhören. Ich hatte lediglich das seltene Glück, von dem äußeren Prozedere seiner gewöhnlichen Vorstellungsgespräche verschont zu bleiben. Die fanden damals nämlich stets in einer Filiale eines großen amerikanischen Burger-Braters statt, obwohl er dabei nie etwas aß.
Eigentlich überraschte es mich wenig, dass ich die Arbeiter so anders erlebte, als Senff sie mir geschildert hatte. Ich war den Menschen, die Ostdeutschland nicht verlassen hatten, von Beginn an ehrlich freundlich gesinnt und half ihnen, wo ich nur konnte. Dadurch erlangte ich nicht allein ein angenehmes Arbeitsklima für alle Beteiligten, sondern erhielt darüber hinaus auch sehr schnell Informationen, an die ich kaum gelangt wäre, hätte ich die Menschen so hochmütig behandelt, wie Senff es tat.
Daher dauerte es auch nicht lang, bis ich die Pointe zur Begrüßungsposse erfuhr. Noch in der ersten Woche hatten die Arbeiter gespürt, dass sie in mir eine ehrliche Haut vor sich hatten und keinen Hinterträger und Verräter. Da die meisten Senff nicht besonders leiden konnten, tratschten sie gerne über ihn und erzählten mir bereitwillig, dass sie ihm gegenüber keineswegs stur darauf bestanden hatten, ausführlich begrüßt zu werden, nein, sie hatten lediglich überhaupt gegrüßt werden wollen. Und genau das hatte Senff anfangs gänzlich abgelehnt oder missachtet. Wenn er in den ersten Monaten auf einer Ausgrabung ankam, ging er stets nur wortlos zum örtlichen Grabungsleiter, unterhielt sich mit ihm und guckte die Arbeiter mit dem Arsch nicht an. Es waren ja auch nur einfache Arbeiter und keine promovierten und lorbeerbekranzten Popenbengel wie er!
Aber es nützte alles nichts, nach den ersten Beschwerden bei seinem Vorgesetzten musste auch Maxim sich dazu herablassen, die Arbeiter zu grüßen und sie per Handschlag sogar zu berühren.